Thomas Tuchel. Daniel Meuren
Viererabwehrkette ein. Eigentlich spielt Wölki in der damaligen 3-4-3-Grundordnung der Mannheimer gewöhnlich eher hinten links, während Tuchel gelernter Libero ist. Beide Teams erleben eine enttäuschende Saison, Mannheim belegt nur Rang sieben vor diesem 28. Spieltag, Ulm nur Rang sechs. Beide Vereine galten vor der Runde in der Regionalliga Süd, damals die Dritte Liga, als Mitfavoriten auf den Aufstieg in die Zweite Bundesliga. Beide spielen aber zu wenig konstant, während der 1. FC Nürnberg und die SpVgg. Greuther Fürth auf den Aufstiegsplätzen enteilen. Das Duell der Enttäuschten kurz vor Saisonende entscheidet Ulm durch ein Tor des eingewechselten Sascha Rösler in der 89. Minute mit 1:0 für sich. „Ich weiß noch, wie ich damals nach dem Abpfiff lange mit Thomas auf dem Platz gestanden und geredet habe“, sagt Wölki, der in Ulm zu den besten Spielern gehörte, ehe er nach Mannheim wechselte.
Mehr als 22 Jahre später, im September 2019, sitzt Wölki in einem Café am Karlsruher Gutenbergplatz und rekapituliert die Partie. Er ist mittlerweile Spielerberater, eher einer aus der zweiten Reihe, aber er sei „zufrieden“, beteuert er. Der Heilbronner hat an dem Tag beim Karlsruher SC zu tun, für das Gespräch über Thomas Tuchel nimmt er sich dennoch lange Zeit. Wölki und Tuchel freunden sich zu gemeinsamen Spielerzeiten in Ulm an, mittlerweile ist der Kontakt abgebrochen. Tuchel ist Trainer bei Paris Saint-Germain, jenem Klub, der mit obszön viel Geld aus Katar die Champions League gewinnen will. Dass sich Tuchel irgendwann nicht mehr meldet und auf Nachrichten nicht mehr reagiert, wirft Wölki dem ehemaligen Weggefährten nicht vor. Es sei nichts vorgefallen zwischen den beiden, Lebenswege trennen sich eben, sagt Wölki. Damals, als sie in Mannheim als Gegner auf dem Platz aufeinandertreffen, ist der Kontakt noch eng, und Wölki kann sehr aufgeräumt erzählen, was für ein Typ dieser heute so berühmte Trainer früher als relativ unbekannter Spieler gewesen ist.
Wölki erinnert sich noch gut an die allererste Begegnung in der Ulmer Kabine mit dem damals 22 Jahre jungen Tuchel. „Thomas war ein zugänglicher Typ, wir haben uns schnell angefreundet“, erzählt der drei Jahre ältere Wölki, den nicht nur die imposante Körpergröße Tuchels von 1,90 Metern beeindruckt: „Er strahlte eine starke Präsenz aus, als er die Kabine betrat, das war wegen seiner Körpergröße so, aber auch wegen seines klaren Blicks, mit dem er einem beim Händedruck anschaute.“ Der ehemalige Ulmer Trainer Paul Sauter hatte Tuchel damals vom Zweitligaklub Stuttgarter Kickers nach Ulm gelotst.
Mit dem Fußball beginnt der lange Schlaks unter Anleitung des Vaters in seinem Heimatort Krumbach. Tuchel ist geprägt durch sehr junge Eltern, sein Vater ist erst Mitte zwanzig, als der Sohnemann die ersten Versuche mit dem Ball unternimmt. In dem 12.500 Einwohner kleinen Städtchen im schwäbisch-bayerischen Landkreis Günzburg leben seine Eltern heute noch. Tuchel ist kein herausragendes Talent. Dennoch kommt der gute Techniker dreimal in der deutschen U18-Nationalmannschaft zum Einsatz, nachdem er 1988 im Alter von 15 Jahren zum FC Augsburg gewechselt ist. Der FCA ist schon damals der größte Verein in der Region, obwohl die erste Mannschaft ihre großen Zeiten mit Helmut Haller in den 1960er-Jahren lang hinter sich hat und in der Dritten Liga kickt. Die Ära der Nachwuchsleistungszentren für Profiklubs, die Anfang der 2000er-Jahre sukzessive aufgebaut werden, ist noch Zukunft. Entsprechend sind Wechsel von einem Bundesligaklub zu einem anderen, wie heute im Juniorenbereich üblich, Ende der 1980er-Jahre die ganz große Ausnahme. Auch wechseln Talente in dieser Zeit viel später von ihren Heimatvereinen zu den größeren Klubs, meistens so wie Tuchel erst zu Beginn der B-Jugendzeit oder noch später. Der Junge aus Krumbach nimmt eine gute Entwicklung, mit der A-Jugend des FCA gewinnt Tuchel zweimal hintereinander den DFB-Vereinspokal und macht den Zweitligaklub Stuttgarter Kickers auf sich aufmerksam. Tuchel wagt den Sprung in den Profifußball, er wechselt nach der A-Jugend zu den Kickers. Dort lernt er schnell die raue Seite des Fußballgeschäfts und Trainer der alten Schule kennen: In zwei Spielzeiten am Degerloch erlebt er vier Trainer: im ersten Jahr Frieder Schömezler und Ruhrpott-Legende Rolf Schafstall, in der zweiten Saison dann Lorenz-Günther Köster und die Waldhof-Mannheim-Ikone Günther „Sam“ Sebert. Köster und Sebert setzen Tuchel nicht ein einziges Mal in Liga zwei ein. Insgesamt kommt der Jungprofi in zwei Jahren bei den Kickers nur auf acht Ligaeinsätze.
„Ich war sein erster Kapitän im Profifußball“, erzählt Alois Schwartz. Es ist ein milder Tag Anfang Dezember 2019, Schwartz hat nach Trainerstationen in Sandhausen und Nürnberg den Karlsruher SC zurück in die Zweite Liga geführt. Er empfängt in einer Loge über der Baustelle des Stadions. Es entsteht eine neue Arena in Karlsruhe, Schwartz bereitet seine Mannschaft auf ein Spiel bei Spitzenreiter Arminia Bielefeld vor. Der 52-Jährige aus Nürtingen ist drei Mal in seiner Laufbahn auf Tuchel getroffen. Erstmals 1992, als Tuchel bei den Kickers aufschlägt, das zweite Mal zwei Jahre später für sechs Wochen in Ulm, wo Schwartz aber nach der Vorbereitung den Klub wieder verlässt, und schließlich im Jahr 2006, als Tuchel und Schwartz zusammen in Köln das Fußballlehrerdiplom machen. Schwartz sagt, dass Tuchel und er nie eng miteinander gewesen, aber immer gut miteinander ausgekommen seien. Er erinnert sich an die Anfangszeit von Tuchel bei den Kickers. Der Stuttgarter Klub ist gerade aus der Bundesliga abgestiegen und befindet sich in finanziellen Turbulenzen. Schon nach einigen Spieltagen wird Kickers-Urgestein Frieder Schömezler von Rolf Schafstall abgelöst. „Das war damals eine 24er-Liga mit den neuen Mannschaften aus dem Osten. Wir sind sehr schlecht gestartet“, sagt Schwartz schmunzelnd, „und waren nach ein paar Spieltagen starker 24.“ Der Verein kämpft ums Überleben und holt mit Schafstall einen prominenten Trainer, der in seiner Bochumer Zeit vom Kicker sogar mal zum „Trainer des Jahres“ gekürt wurde. Auf Talente setzt Schaftstall nicht in dieser Situation. „Ein junger Spieler braucht ein wenig Zeit, aber die hatten wir nicht“, sagt Schwartz und beschreibt Tuchel als eleganten Akteur, der mit seinen langen Beinen immer wieder mit raumgreifenden Schritten durchs Mittelfeld gelaufen sei: „Was er gar nicht konnte, war das Zweikampfverhalten. Er war halt Libero, da hat man damals in der Ausbildung auf dieser Position nicht so viel Wert auf Zweikämpfe gelegt.“
Mit dem Amtsantritt von Schafstall wird der Ton im Training sehr rau: „Auf dem Spielfeld herrschte nicht mehr Friede, Freude, Eierkuchen. Schafstall war ein Trainer, der für Spieler wie Thomas Gift war. Aber als Feuerwehrmann war er für den Verein gut, wir haben am Ende ja den Klassenerhalt in dieser Saison geschafft“, sagt Schwartz, der als Kapitän immer wieder zu vermitteln versucht zwischen dem knallharten Trainer und den Spielern. Zu Tuchels Schwierigkeiten, sich an das körperbetontere und schnellere Spielniveau zu gewöhnen, kommen auch die Probleme mit dem Trainer. „Thomas war schon damals ein Mensch, der immer seine Meinung vertreten hat, er ist damit auch auf dem Trainingsplatz bei Schafstall angeeckt, das war außergewöhnlich für einen 19-Jährigen, der vorher nichts erlebt hat“, erinnert sich Schwartz. „Der Fußball hat Leute wie Schafstall anders geprägt, das war eine andere Generation. Schafstall siezte seine Spieler und konnte auch verletzend sein.“ Schwartz hingegen kommt gut mit Schafstall klar, auch wenn er einiges grenzwertig findet, was der Trainer veranstaltet. Schafstall drängt Tuchel schließlich ganz an den Rand, das aufmüpfige Talent schafft es nur selten in den Kader. „Thomas hat oft im kleinen Kreis trainiert, mit denen, die nicht spielten, manchmal mussten die nur um den Platz laufen. Das war sicher nicht förderlich“, erinnert sich Schwartz. Und Tuchel muss immer wieder kleine Sticheleien von Schafstall ertragen, die ihn nicht anstacheln, besser zu werden, sondern nur demoralisieren. „Tuchel, Sie können keinen Zweikampf“ oder „Tuchel, was soll ich mit Ihnen“, so und ähnlich lauten Schafstalls Ansprachen. Tuchel überdreht in seinen Reaktionen darauf nie, aber Schafstall duldet ohnehin keine Widerrede.
Der junge Tuchel, sagt Alois Schwartz, sei kein Außenseiter gewesen, er habe auch immer Respekt gegenüber den älteren Spielern wie ihm gezeigt. „Insgesamt waren wir ein sozialer Haufen, hatten mit Keim, Reitmaier und Vollmer soziale Typen. Die jungen Spieler im Kader, wie etwa die späteren Nationalspieler Fredi Bobic und Sean Dundee, hätten damals eben Zeit gebraucht. Die beiden gingen dann ja auch unterschiedliche Wege. Dundee musste erst einen Schritt zurück in die Regionalliga nach Ditzingen gehen, um der zu werden, der er dann später beim KSC wurde. Fredi setzte sich durch, und der Thomas konnte sich damals eben leider nicht durchsetzen“, resümiert Schwartz, der nach dem Klassenerhalt schließlich zum MSV Duisburg in die Bundesliga wechselt. Tuchel bleibt noch ein Jahr in Stuttgart, die Kickers steigen am Ende in die Regionalliga ab. Tuchel unternimmt ebenfalls eine Liga tiefer einen neuen Anlauf, er wechselt zum SSV Ulm. Doch die Behandlung durch Schafstall wird Tuchel noch lange beschäftigen.