Thomas Tuchel. Daniel Meuren

Thomas Tuchel - Daniel Meuren


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mit „Eurogoals“

      Tuchel kommt nach seinen zwei enttäuschenden Jahren in Stuttgart mit denkbar wenig Selbstvertrauen in Ulm an. Und auch beim SSV tut sich der lange Abwehrspieler zunächst schwer, Spielzeit zu bekommen. „Damals herrschten in den Kabinen noch klare Hierarchien“, erzählt Oliver Wölki, der zu den gestandenen Kräften im Team gehört: „Die Etablierten und Älteren gaben den Ton an, die Jungen und die Neuen mussten sich den Respekt der Anführer erst erkämpfen und erspielen. Als Tuchel 1994 von den Kickers kam, standen an der Spitze der Pyramide in Ulm Leistungsträger wie Stürmer Dragan Trkulja, Spielmacher Klaus Perfetto oder Abwehrchef Petr Skarabela, klangvolle Namen im damaligen Drittligafußball.“ Tuchel hat zudem das Problem, das Skarabela als Libero auf jener Position gesetzt ist, auf der auch er seine Stärken hat. Der damalige Ulmer Trainer Rainer „Uffz“ Ulrich baut auf den Tschechen Skarabela, der ein Jahr zuvor vom tschechischen Erstligaklub Banik Ostrau an die Donau gekommen ist. Regelmäßig zum Einsatz kommt Tuchel in seiner ersten Ulmer Spielzeit erst, als sich Skarabela verletzt und länger ausfällt. „Thomas hatte für einen Abwehrspieler ein gutes Auge. Er war aber nicht der Schnellste und hatte Schwächen im Eins-gegen-Eins. Er hatte es am Anfang schwer. Er war ein kluger Typ, vielleicht zu klug für eine Fußballerkabine. Er konnte da Leute, die ihm zu blöd waren, auch schon bewusst links liegen lassen. Dennoch war er kein Außenseiter. Es ist halt so in Mannschaften: Da gibt es immer welche, mit denen man besser, und welche, mit denen man schlechter auskommt. Thomas war kein Überflieger, aber er hat sich dann im Laufe der Zeit ein gutes Standing erarbeitet. Als Skarabela weg war, schloss er die Lücke“, erzählt Wölki, der zusammen mit Torwart Philipp Laux und Tuchel abseits des Platzes viel unternimmt. In Erinnerung ist ihm bis heute auch die Disziplin des Freundes.

      Tuchel trinkt Alkohol nur in Ausnahmefällen und dann auch nur ein Glas. Er versackt nie mit den Kollegen, wenn die nach einem Sieg um die Häuser ziehen und spät in der Nacht noch ins angesagte „Myer’s“ einlaufen. Mit mehr Einsatzzeit wächst das Selbstvertrauen des am Anfang von einigen im Team als schüchtern eingestuften Tuchel. Wölki berichtet, dass Tuchel schon als Spieler nur sehr schlecht verlieren kann – ein Wesenszug, der sich später, während seiner Trainerwerdung immer mehr verfestigt. „Nach Niederlagen fiel schon mal die Tür laut ins Schloss oder ein Schuh flog – von Thomas abgefeuert – durch die Kabine. Auch hat er Kollegen, die nicht so mitzogen, an die Kandare genommen“, sagt Wölki. „Als Spieler erschien mir Thomas aber nicht so super verbissen, wie er manchmal später im Fernsehen als Trainer gewirkt hat. Obwohl er sehr ehrgeizig war und sich damals schon mit Fußball in allen Facetten beschäftigt hat.“

      Wölki, Laux und Tuchel schauen damals regelmäßig montagabends zusammen auf Eurosport „Eurogoals“. In dieser Sendung können Fußballfans erstmals längere Zusammenschnitte von Ligaspielen aus dem europäischen Ausland sehen. Vor allem begeistern die drei Ulmer Drittligaprofis die Szenen von den Auftritten des FC Barcelona. Die Spielweise der Katalanen unter Trainer Johan Cruyff gilt als State of the Art im internationalen Fußball. Bei Barca zaubern vorne der bulgarische Dribbler Hristo Stoichkov und der rumänische Spielmacher Gheorghe Haghi, hinten bauen der Niederländer Ronald Koeman und ein gewisser Pep Guardiola, der später Tuchels großes Trainervorbild wird, das Spiel auf. „Der FC Barcelona spielte Fußball, wie wir uns das erträumt haben“, sagt Wölki und erzählt, wie die Montagabende in Tuchels kleinem Appartement in der Ulmer Innenstadt abgelaufen sind. Meistens kocht der Gastgeber einfache Sachen wie Spaghetti Bolognese oder Gemüsesuppe, manchmal lassen sich Wölki, Laux und Tuchel auch Pizza bringen. „Thomas achtete damals schon auf seine Ernährung, aber er war noch nicht komplett dogmatisch.“

      Eine Geschichte aus gemeinsamen Ulmer Zeiten verbindet Wölki auf ewig mit Tuchel. Im Januar 1996 bereitet sich die Mannschaft in einem Trainingslager auf Lanzarote auf die Rückrunde vor. Wölki, Laux und Tuchel teilen sich ein Dreibettzimmer, die Spieler müssen sich selbst verpflegen. An einem Abend – die drei kochen gerade – erreicht Wölki ein schicksalhafter Anruf. Seine Eltern teilen ihm mit, dass seine hochschwangere Freundin das Kind verloren hat. Um ihr beizustehen, will Wölki so schnell wie möglich nach Hause. Dem damaligen Ulmer Teammanager Uli Frommer gelingt es aber auf die Schnelle nicht, einen Flug zu organisieren. Das will Tuchel nicht wahrhaben und übernimmt die Initiative. „Thomas hat dann bei der spanischen Fluggesellschaft Iberia angerufen und auf Englisch ins Telefon geschrien: ,This is an emergency case!‘ Der hat so lange Terz gemacht, bis die mir einen Flug buchten“, erinnert sich Wölki. „Ich bin dann früh morgens von Lanzarote über Madrid zurück nach Frankfurt und von dort nach Hause gereist. Der Flug hat 1.200 Mark gekostet, der Verein hat nichts übernommen. Da ging Thomas sammeln bei den Mitspielern und hat Philipp, der unser Kassenwart war, das Geld gegeben. Das werde ich Thomas nie vergessen.“

      Diese spontane Initiative stärkt die Freundschaft zwischen Wölki, Tuchel und Laux. An einem spielfreien Wochenende treffen sich die drei in Krumbach bei Tuchels Eltern. „Samstagabend ging Thomas mit seinen Eltern in die Kirche, während wir im Wohnzimmer die Sportschau guckten. Der Kirchgang war offenbar sehr wichtig für ihn, danach hat seine Mutter gekocht, und wir haben uns lange über alles Mögliche unterhalten“, erzählt Wölki. Im Sommer 1996 verlässt Wölki den SSV Ulm, weil er beim letztjährigen Vizemeister VfR Mannheim die bessere Chance für den Zweitligaaufstieg sieht. Das enge Verhältnis zu Tuchel und Laux bleibt aber bestehen, auch wenn sie sich natürlich nicht mehr oftsehen.

      Doch weder für Wölki und Mannheim noch für Tuchel und Ulm läuft die anstehende Saison wie erhofft. Zur Rückrunde verpflichten die Ulmer im Januar 1996 Ralf Rangnick als Trainer, mit dem beim SSV ein neues Zeitalter beginnt. Rangnick gilt im württembergischen Fußball schon damals als Erneuerer, als Geheimtipp, der Anfang der 1990er-Jahre bereits beim VfB Stuttgart die A-Junioren trainiert und mit seinem Mentor und VfB-Nachwuchschef, Helmut Groß, die in Deutschland damals neue Idee der „Ballorientierten Raumdeckung“ mit Viererabwehrkette aggressiv vertritt. Dem jungen Trainer aus Backnang eilt aber auch der Ruf voraus, mitunter zu ehrgeizig und zu ungeduldig, ja, ein Besserwisser zu sein. Im ersten halben Jahr kommt Rangnick mit seinen Ideen nicht so richtig an in der Mannschaft, der Abstand zu den die Liga dominierenden Klubs aus Nürnberg und Fürth wächst. Die Umstellungen von Spielsystem und Grundordnung überfordern die Spieler, 31 ihrer 50 Gegentore in dieser Runde kassiert die Mannschaft unter Rangnick. Die Anlaufschwierigkeiten von Rangnick in Ulm erklärt Tuchel, da ist er bereits Bundesligatrainer in Mainz, in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau: „Er hat uns die Viererkette und das ballorientierte Spiel beigebracht. Das war völlig neu für uns, und wir waren zunächst entsprechend skeptisch, das so konsequent umzusetzen.“ Dennoch ist Rangnick für die Sozialisation des späteren Trainers Tuchel „prägend“, wie der sagt. Oliver Wölki erinnert sich an Unterredungen aus dieser Zeit mit Tuchel: „Mit Rangnick hatte es Thomas zunächst schwer, weil der auf eine Viererkette in der Abwehr umstellte und er eigentlich ein zentraler Spieler war, aber dort setzte Rangnick auf andere.“ Wölki kennt auch Rangnick gut. Als er sich am Knie verletzt, absolviert er das Aufbautraining im Reha-Zentrum von Thomas Fröhlich in Böblingen, das dieser gemeinsam mit Rangnick führt. Fröhlich wird in Rangnicks Hoffenheimer Zeit dort Physiotherapeut. Man kennt sich und unterhält sich. Als Wölki noch Spieler in Ulm ist, bittet ihn der ehrgeizige Rangnick einmal, ihn beim SSV als Trainer ins Gespräch zu bringen. Nun wirkt er dort, als Wölki weg ist.

      Die Verbindungen Wölkis nach Ulm sind aber auch nach seinem Wechsel zum VfR Mannheim eng, er kriegt alles mit, was beim SSV läuft. „Rangnick veränderte in Ulm die Strukturen komplett, nicht nur, was das Sportliche anbelangte. Er legte extrem viel Wert auf gesunde Ernährung. Es gab mehr Fisch als Fleisch, Cola war verboten. Rangnick hat eine ganz andere Welt gelebt, die damals im konservativen Fußballmilieu total neu war.“ Tuchel tut sich am Anfang schwer, obwohl er Stammspieler ist. Denn Rangnick setzt ihn mitunter als rechten Verteidiger ein, eine Position, die Tuchels Naturell als zentraler Spieler nicht liegt. Der anstrengende Rangnick fordert viel. Nicht nur der langjährige Spielmacher Perfetto klagt über zu viel Laufarbeit, die der Trainer von seinen Kickern verlange. Tuchel ist bei aller Skepsis lernwillig, aber auch nervig, wie er in dem FR-Interview einräumt: „Ich war bestimmt für einen Trainer kein einfacher Spieler. Ich habe viel hinterfragt und war manchmal etwas zu mündig und habe mich mit einem sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn auch für andere eingesetzt, obwohl das gar nicht meine Baustelle war.“

      Wölki


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