Tote Vögel singen nicht. Christian Klinger
einsteigen zu können.
„Fahren Sie weg?“
Ich drehte mich um und sah einen beleibten Mittvierziger mit Doppelkinn neben meinem Fenster stehen. Ich war zwischenzeitig ins Auto gestiegen und hatte die Seitenscheibe heruntergelassen. Ich nickte und ließ den Motor an. Als ich weiter vorne beim Burgtheater in den Ring einbog, fiel mir ein, dass es sich bei dem Typen um einen Politiker gehandelt hatte. Irgendein Bezirkspolitiker, der es mit seinen markigen Sprüchen immer wieder auf die Titelseiten schaffte. Wieso konnte der ohne Zeitlimit parken? Vielleicht mit Handyparken. Oder der Wagen war auf das Rathaus zugelassen. Ein fescher Dienstwagen. Politiker müsste man sein, dachte ich. Und dann fiel mir ein, dass er gestern an dem Tisch gesessen war, den Schneewittchen noch aufgesucht hatte, bevor sie mit mir abgezogen war. Und ihre Hand war die, die ich zuvor im Halbdunkel gesehen hatte. Die sich das Geld geholt hatte.
5.
Ich hatte den Wagen in der Paulanergasse gerade eingeparkt, als mein Telefon läutete. Ich zuckte zusammen. Aber nur, weil es sich mit dem Radio verbunden hatte und das Klingeln in einer infernalischen Lautstärke kam. Ich sah, wie sich in einem nahen Schanigarten einige Köpfe in meine Richtung drehten. Es war Dragana.
„Was willst du? Ich bin gleich da. Hab ich irgendwelche Termine versäumt?“, fragte ich unfreundlich.
„Deswegen rufe ich ja an. Die Verhandlung am Arbeitsgericht wurde vertagt, der Richter oder sein Praktikant haben in der Früh angerufen und sich entschuldigt, der neue Termin kommt mit Ladung und Stanisic hat die Besprechung am Nachmittag abgesagt, er hat heute angeblich keine Zeit. Wenn du mich fragst, hat er schon wieder die Stadt verlassen.“
„Ich frag’ dich aber nicht.“
Mirko Stanisic war einer der Klienten, mit denen ich ein paar Dinger drehte, nichts Großes. Immer wenn ihm das Pflaster hier in Wien zu heiß wurde, tauchte er für ein paar Tage unter. Vor allem der eine Clan aus dem Kosovo war nicht gut auf ihn zu sprechen, seit das mit den Schüssen beim Figlmüller war. Ich schien bei seinen Transaktionen zum Glück nirgends auf, konnte aber bei Gelingen durchaus die Hand aufhalten. Schade, sagte ich zu mir, ich hatte heute mit ein paar lila Scheinchen gerechnet. Solange es sie noch gab.
„Sonst noch was?“, fuhr ich Dragana schroff an.
Sie brauchte das. Wenn ich sie zu gut behandelte, würde sie sich vielleicht eine besser und vor allem regelmäßig bezahlte Arbeit suchen, doch so traute sie sich nicht einmal über eine Kündigung nachzudenken.
„Ich wollte heute früher Schluss machen, wenn sonst nichts ansteht. Meine Tochter kommt mit der Kleinen vorbei.“
„Melanie?“
„Valerie!“
Wieder hatte ich vergessen, wie lange Dragana schon für mich arbeitete und wie lange es tatsächlich her sein musste, dass wir was miteinander laufen hatten. Das war vor ihren Töchtern gewesen. Und die Ältere der beiden hatte jetzt selbst schon ein Kind. Dragana war also eigentlich eine GRILF, eine #Granny I’d like to fuck#. Warum ihre Tochter das Kind ausgerechnet Valerie nennen musste, würde mir ewig ein Rätsel bleiben. Zu einem Nachnamen wie Pantelic hätte eine Sladjana oder von mir aus Silvija einfach besser gepasst.
„Wenn es auf deine Zeit geht, kannst du von mir aus eine halbe Stunde früher Schluss machen.“
„Bei dem, was du mir zahlst, hätte ich die letzten zehn Jahre zu Hause bleiben können.“
„Vorsicht“, warnte ich Dragana, „das kann schneller passieren, als dir lieb ist. Und was würde Ratko dann dazu sagen?“
„War ein Witz. Bis morgen.“
„Bis morgen, aber pünktlich.“
Ich hatte das letzte Wort und ich hatte die Chefkarte gezogen. Natürlich hätte ich sie auch nach Hause schicken können, zu tun gab es im Moment nicht viel, aber ein wenig Schikane entspannte mich. Dafür würde ich nicht früher gehen. Denn ich würde erst gar nicht kommen. Beschloss ich und startete den Motor. Die Fehlzündungen ließen ein paar Gastgartenbesucher blöd gaffen. Würde die Polizei bereits nach mir fahnden, würden die Bullen sicher zuerst in der Kanzlei antanzen.
Keine fünf Minuten später hatte ich mein Ziel erreicht. Ich war beim Mittersteig. Nicht bei der bekannten Strafvollzugsanstalt, sondern bei meinem Wohnhaus. Mittlerweile war ich es leid, zu betonen, dass ich nicht im Gefangenenhaus zu tun hatte, wenn ich nach Hause wollte und dem Taxler meine Adresse gab. Auch im Bekanntenkreis mache ich nur noch Scherze darüber, wenn einer sagt: „Das ist aber praktisch. Da bist du ja ganz in der Nähe von deinen Klienten.“
„Nur, wenn ich versagt habe und sie einsitzen müssen“, antworte ich dann meist. Und schiebe oft nach: „Aber das Beste ist: Die Kuchen, in die ich die Feile einbacke, sind meist noch warm, wenn ich sie rüberbringe.“
Es war weit nach Mittag und ich hatte Hunger. Also kehrte ich bei meinem Stammwirt ein. Sein Lokal am Eck betrieb er seit vielen Jahren und ebenso lang kannten wir uns. Früher hatte mich auch noch was anderes hingetrieben, doch das war jetzt vorbei. Ich betrat das Lokal und grüßte Severin, der hinter der Budel stand und gerade zwei Bier zapfte.
„Für mich kannst auch gleich eins machen“, rief ich ihm zu und suchte mir einen Platz etwas weiter hinten, nicht direkt am Fenster. Ich sitze nicht gern in der Auslage.
Die meisten Tische waren frei, lediglich ein Maler in seiner fleckigen Kluft und zwei Bauarbeiter, die ihre Mittagspause ausdehnten, saßen da. Am Tisch schräg mir gegenüber saß im Zwielicht, durch das sich dünnfadig die Rauchschwaden schlichen, ein Pensionist, der die Kronen Zeitung studierte. Ich hatte selbst auf das Blatt gespitzt, sagte mir dann aber, dass dort wohl noch nichts drinstehen würde. Dafür lief in der Ecke der Fernseher. Die Mittagsnachrichten würden gleich beginnen. Der Ton war auf leise gestellt und ich würde nicht den Fehler machen, den Wirt zu bitten, lauter zu stellen. Das waren genau die Indizien, die so manchen schon zu Fall gebracht hatten. Severin stellte das Bier vor mir ab und fragte, ob ich etwas essen wolle. Ich bejahte.
„Als Menü haben wir heut an g’selchten Schopf mit Kraut und Knödel oder sonst Augsburger mit g’röste Erdäpfel.“
„Dann will ich das Einser-Menü“, sagte ich.
„Den Schopf?“, vergewisserte sich Severin.
„Nein“, sagte ich, „ein Schnitzel.“
Severin grinste: „Geht klar, der Herr in der Panier will’s Fleisch in der Panier.“
Nachdem er die Bestellung in der Küche aufgegeben hatte, kam er mit einem Gewürzbord, auf dem sich in der Mitte tatsächlich noch eine braune Maggi-Flasche befand, und einem in eine große Papierserviette eingewickelten Besteck zurück und sagte, während er mit seinem Geschirrtuch ein paar Brösel vom Tischtuch fegte: „Warst lang nicht da. Wie läuft’s?“
„Nicht gut, ich kann nicht klagen“, sagte ich.
Severin machte einen grübelnden Gesichtsausdruck, bis der Anwaltswitz bei ihm durchgesickert war, dann lachte er.
In der Zwischenzeit war am Bildschirm der Nachrichtensprecher erschienen und ich versuchte, zumindest die Headlines zu verstehen. Nach einem Bericht über einen EU-Gipfel und den nächsten Skandal um das neu errichtete Krankenhaus im Norden Wiens kamen die Lokalnachrichten. Ich trank einen Schluck Bier und das Glas blieb an meinen Lippen hängen, als der nächste Beitrag über den Fund einer Frauenleiche in einem Wiener Hotel berichtete. Man sah sie zwar nicht, aber Schneewittchen hatte es in die Nachrichten geschafft. Keine besonders erstrebenswerte Form der Publicity. Ich würde hier nicht auftreten wollen. Und das Einzige, was das verhindern konnte, war, die Aufklärung dieses Verbrechens in die eigene Hand zu nehmen. Ich musste den Täter finden.
Severin erschien mit einem Teller aus der Küche.
„Sicher eine Nutte, die ihr Zuhälter gemacht hat“, sagte er, den Kopf leicht nach hinten in Richtung Bildschirm gedreht, als er das Schnitzel vor mir abstellte. Der Duft der Zitronenspalte