Deutschland, Startup!. Andreas Haug
•Die finanziellen Werte der Plattformen entstehen nicht durch Produkte, sondern durch intelligente Softwareschnittstellen. Ihr Ziel ist es, die Interaktionen und Beziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern zu verbessern. Plattformbetreiber erkennen also Schwachstellen des Marktes und codieren Angebote, die einen Mehrwert für die Nutzer schaffen. Die Folge sind günstigere Preise, schnellere Lieferung, passgenauere Auswahl, transparentere Services und dergleichen mehr.
•Plattformbetreiber stellen den Kunden radikal ins Zentrum ihrer Unternehmensstrategie. Sie werten die Daten über das Verhalten und die Vorlieben ihrer Kunden konsequent aus, um so viel wie möglich über sie zu erfahren. Traditionelle Hersteller verkaufen ihre Produkte oft über Vertriebsfirmen, sie kennen ihre Kunden deshalb kaum. Plattformen hingegen beobachten mittels Software genau, welche individuellen Wünsche und Bedürfnisse ihre Kunden haben. Die neuen Wettbewerber haben deshalb einen dramatischen Datenvorsprung, den Traditionsunternehmen kaum aufholen können.
•Digitale Plattformen verfügen über wenig materielle Vermögenswerte, deshalb können sie ihr Geschäft kapitaleffizient und mit geringem Risiko skalieren, also beliebig erweitern. In der analogen Wirtschaft hingegen würden beim Ausbau der Produktion hohe Investitionen in Lagerhallen, Büros oder Personal anfallen. Dank ihrer niedrigen Grenzkosten können Plattformen wesentlich schneller wachsen, als es für klassische Unternehmen je möglich wäre.
•Herkömmliche Skalierungseffekte betreffen die Angebotsseite – je mehr Produkte hergestellt werden, desto niedriger die Produktionskosten. Die Skalierungseffekte der Plattformunternehmen entstehen hingegen auf der Nachfrageseite: Je größer das Netzwerk, desto mehr Nutzer zieht es an. Deshalb tendiert die Plattformökonomie zu Geschäftsmodellen, die dem »The winner takes it all«-Prinzip folgen. So können gigantische Digitalunternehmen heranwachsen, die quasi zu Weltmonopolen werden. Die digitale Welt begünstigt die Schnellen, die Einfallsreichen und die Wachstumschampions. Wächst deren Geschäft erst einmal exponentiell, schaffen Wettbewerber den Anschluss nicht mehr.
•Da digitale Plattformen auf internetbasierten IT-Systemen beruhen, funktionieren sie natürlich auch reibungslos mobil. Längst werden Dienstleistungen jeder Art über das Smartphone gesteuert – etwa Medienkonsum, Musikindustrie, Lieferservices, Bankdienstleistungen und natürlich das Shoppen selbst. Inzwischen geht es bei der Heimautomation weiter. Die Heizung im Keller oder das Licht im Haus werden über entsprechende Apps auf dem Smartphone gesteuert. Mit dem mobilen Zugriff spielen digitale Plattformen eine immer wichtigere Rolle im Alltag der Nutzer, und das auch wieder zum Nachteil der klassischen analogen Unternehmen.
•Der Druck auf die Traditionsunternehmen wird außerdem vom veränderten Kundenverhalten verstärkt, besonders bei den sogenannten Millennials. Junge Menschen, die zwischen 1980 und 2000 geboren sind, legen großen Wert auf Unabhängigkeit. Sie wollen sich nicht durch Konsum binden und einschränken lassen, sie lehnen starre Regeln und Zwänge ab und wollen die Welt in jeder Weise so erleben, wie es ihnen passt: selbstbestimmt, zeitlich, räumlich und technisch uneingeschränkt. Deswegen wenden sie sich Dienstleistungen zu, die den Zugang zu Produkten ohne die Last, etwas besitzen zu müssen, ermöglichen. Hier schlägt die Stunde der Sharing Economy und der digitalen Plattformen. Carsharing ist ein gutes Beispiel, wie Traditionsunternehmen ein neues, digitales Geschäftsmodell testen, um den Wünschen der Millennials entgegenzukommen. Gleichzeitig erschüttert dieser Wandel die Welt der Autobauer langsam, aber stetig in ihren Grundfesten. Denn dem Kunden ist der funktionierende Service wichtiger als das Automodell, das er fährt. Der Nutzer taxiert einen Konzern wie Daimler folglich weniger hinsichtlich seiner Fahrzeuge als vielmehr seiner Kundeninteraktion und der Verfügbarkeit der Services. Damit wird das Transportmittel – ein teures Auto – zu einem nebensächlichen Gebrauchsgegenstand degradiert und situationsgerecht unter anderem auch durch Leihfahrräder oder E-Scooter substituiert.
Zwischenfazit: Es gibt eine ganze Reihe von plausiblen Gründen, warum die Plattformökonomie rasant in Märkte vordringt, die seit jeher von alteingesessenen Firmen dominiert wurden. Das Steuer in der Weltwirtschaft haben neue Spieler übernommen. Internetstars wie Netflix, Alibaba, Amazon, Twitter, Facebook oder Google sind bekanntlich die wertvollsten und am schnellsten wachsenden Konzerne der Welt. Erstaunlich ist das große Vertrauen der Nutzer in die digitalen Plattformen. Google Maps etwa trauen mehr als die Hälfte der Deutschen eher zu, sie besser ans Ziel zu bringen als das teure Navigationssystem in ihrem Auto. Das israelische Startup Waze, vor einiger Zeit von Google für mutmaßlich über eine Milliarde US-Dollar übernommen, überlässt es den Nutzern, die Straßeninformationen zu erstellen, aggregiert Verkehrsdaten, verknüpft zusätzliche Datenquellen in Echtzeit und navigiert so die Fahrer durch ein Schneetreiben in den Alpen. Die Nutzer stellen die intuitive Bedienung und die Attraktivität von Services über Gewohnheit und Markenimage. Damit geraten Paradigmen ins Wanken, die bisher als unumstößlich galten. Und die klassische Geschäftswelt muss darauf reagieren, um nicht verdrängt oder vergessen zu werden.
Deutschlands digitale Baustellen
Die disruptiven Geschäftsmodelle der Digitalwirtschaft fordern die Wirtschaft heraus, aber ebenso Politik, Bildungsinstitutionen, Arbeitsmarkt, Finanzwesen, die Gesellschaft als Ganzes und jeden einzelnen Bürger. Zwar sind disruptive Innovationen nicht neu, aber die Geschwindigkeit und die Wucht, mit der die Plattformökonomie die Welt erobert, sind sehr wohl ein geschichtliches Novum. Stellt sich die Frage: Wie gut ist Deutschland auf diesen Siegeszug vorbereitet?
Für die heimische Wirtschaft, die ihre Erfolge vor allem auf ihre legendäre Ingenieurskunst und ihre Exportweltmeisterschaft gegründet hat, bedeutet die digitale Revolution eine der größten Veränderungen der letzten Jahrzehnte, wenn nicht sogar die größte Veränderung überhaupt. Mit diesem radikalen Umbruch kommt unsere Unternehmenswelt noch nicht zurecht. Laut einer Studie der Unternehmensberatung Roland Berger schätzt nur ein Drittel der deutschen Unternehmen ihre digitale Reife als hoch oder sehr hoch ein. Außerdem zielen ihre Digitalstrategien oft allein auf Effizienzsteigerung und Kostenreduzierung, nicht aber auf die Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle oder grundlegende Innovationen. So dominieren in Deutschland nach wie vor klassische Pipeline-Unternehmen, die gegenüber den Tech-Riesen in den USA und China wie Kleinunternehmen erscheinen. Amazon allein erreicht dieselbe Marktkapitalisierung wie drei Viertel aller Dax-Firmen zusammen. Und Apple hat ein höheres Forschungsbudget als alle deutschen Maschinenbauer in Summe.
Wenig optimistisch stimmt auch die Investitionsbereitschaft deutscher Großunternehmen in zwingende Maßnahmen zur digitalen Transformation. Nur ein Prozent von ihnen veranschlagt dafür die Hälfte oder mehr ihrer Gesamtinvestitionen, bei zwei Dritteln beträgt der Anteil maximal zehn Prozent, so eine Studie der Digitalberatung EY/etventure von 2019. Spätestens mit der Corona-Krise macht sich diese Zurückhaltung in Sachen Zukunftssicherung schmerzhaft bemerkbar. Hätten Unternehmen eher und üppiger in ihre Digitalstrategien investiert, wären ihre Umsatzeinbrüche im klassischen Geschäft besser zu kompensieren gewesen.
Viele Führungskräfte gehen die digitale Transformation zögerlich an, weil sie dafür vertrautes Fahrwasser verlassen müssen. Die Konsequenzen dieses Umbruchs für die betriebliche Organisation sind gewaltig. Geschäftsmodelle und alle internen Abläufe müssen überdacht und neu definiert werden, neue Wettbewerbsstrategien entwickelt und neue Partnerschaften geknüpft werden. Vor allem aber müssen die Führungskräfte ihre Mitarbeiter auf den Weg des notwendigen Wandels der Unternehmenskultur mitnehmen. Kein leichtes Unterfangen, denn Veränderungen dieses Ausmaßes machen vielen Menschen Angst. Sie zweifeln, ob sie in der neuen Welt mithalten können, und bangen um ihren Arbeitsplatz – oft mit gutem Grund. Denn auch das ergab die erwähnte EY/etventure-Studie: Während 2017 noch fast jedes zweite Großunternehmen seine Mitarbeiter als ausreichend qualifiziert für die digitale Transformation einstufte, war es 2019 nur noch rund ein Viertel.
Womit die zweite große Baustelle der Digitalrevolution benannt ist: das Bildungswesen. Bei der schulischen Vermittlung von Digitalkompetenz liegt Deutschland im internationalen Vergleich nur im hinteren Mittelfeld. Das ergab eine Vergleichsstudie zur digitalen Kompetenz von Achtklässlern sowohl für 2013 als auch für 2019.
Noch schlechter schnitten deutsche Schulen im Ländervergleich ab. Nur drei Prozent ihrer Lehrer bekommen einen Computer gestellt, damit ist Deutschland das Schlusslicht der