Deutschland, Startup!. Andreas Haug
Da grenzt es schon fast an ein Wunder, dass nach den coronabedingten Schulschließungen der Unterricht quasi über Nacht in digitalen Klassenzimmern fortgesetzt wurde. Allerdings mit großen Defiziten und in sehr unterschiedlicher Qualität.
Dieser Crashkurs in Sachen Digitalisierung hat die Versäumnisse des Bildungswesens spürbar offengelegt: ungleiche Bildungschancen, lückenhafte technische Ausstattung, mangelnde Digitalkompetenz bei Lehrern und Schülern, veraltete Lehrpläne und Lernkultur. Statt junge Menschen auf die Spielregeln der Digitalwirtschaft vorzubereiten, trimmt das Bildungssystem sie immer noch auf die Anforderungen der Arbeitswelt von gestern – vorgegebene Aufgaben statt Eigeninitiative, Reproduktion statt Unternehmergeist, Perfektionismus statt Fehlertoleranz. Die Neugestaltung des Bildungswesens ist mehr als überfällig, damit Heranwachsende digitale Angebote künftig nicht nur nutzen, sondern auch die Algorithmen und Geschäftsmodelle dahinter verstehen.
Hier ist die Politik gefordert. Doch das Gesamtbild ihrer Aktivitäten gleicht eher einem Flickenteppich, und die Umsetzungen verliefen meistens schleppend. Was fehlt, ist die Ausrichtung auf ein übergeordnetes Zielbild – eine positive und mutige Vision der digitalen Transformation des Landes, die Lust auf Zukunft macht und mit den Werten der sozialen Marktwirtschaft vereinbar ist. Nicht eine »Politik der ruhigen Hand«, sondern der »Große Wurf« wäre jetzt gefragt.
Offenbar vermissen viele Bürger ein solches Leitbild. Umfragen der Bitkom (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. ergaben, dass die Angst vor der Digitalisierung bei ihnen zwar existiert, aber ebenso das Bedürfnis, an der Digitalisierung teilzunehmen und nicht den Anschluss zu verlieren. Solange dieses Bedürfnis nicht adressiert wird, ist es nicht verwunderlich, dass weite Teile der Gesellschaft lieber am Altbewährten festhalten, als sich unverdrossen auf einen Weg in die digitale Zukunft machen, dessen Ziel im Nebel liegt.
Mit der Covid-19-Pandemie waren die Menschen erstmals gezwungen, ihre Komfortzonen zu verlassen und sich Hals über Kopf in die Welt der Digitalwirtschaft zu stürzen. Den meisten gelang das überraschend gut, und auch das weist darauf hin, dass unsere Gesellschaft die digitale Transformation eher positiv sieht, wenn sie den Nutzen hautnah miterlebt. Zugleich hat die Öffentlichkeit erstmals ernsthaft wahrgenommen, dass die Gewinne der digitalen Plattformökonomie größtenteils von nicht europäischen Unternehmen abgeschöpft werden. Damit hat die Corona-Krise uns allen schonungslos vor Augen geführt, wie stark Deutschland und Europa von digitalen Infrastrukturen abhängen, die fest in amerikanischer oder asiatischer Hand sind. Gut möglich, dass diese fehlende Souveränität das bedrohlichste digitale Defizit unseres Landes ist.
Deshalb noch einmal ganz unmissverständlich: Wenn Deutschland und Europa die Digitalwirtschaft jetzt nicht mit aller Kraft vorantreiben, stehen wir bald vor unlösbaren Problemen. Zugleich eröffnet sich für uns jetzt die einmalige Chance, digitale Ökosysteme gedeihen zu lassen, die sozialer, demokratischer, transparenter und vielfältiger sind als die der Amerikaner und Asiaten. Dieser positiv konnotierte Aufbruch in die Zukunft wird uns ja längst vorgelebt – von vielen unserer jungen Gründer, die für ihre Ideen brennen und mit ihren Startups einen Unterschied machen wollen. Nicht zuletzt, um Wirtschaft und Gesellschaft auf Basis unseres europäischen Wertesystems digital zu modernisieren.
So tickt die neue Gründergeneration
Wer sind diese Gründer? Wo kommen sie her, was treibt sie an? Wie denken sie? Wollen sie einfach nur schnell reich werden, Millionen machen, eine schicke Villa am Mittelmeer kaufen? Oder wollen sie alte Mauern einreißen, den übermächtigen Konzernen Paroli bieten, alternative Karriere- und Lebenswege erkunden und die Welt verändern?
Der deutsche Startup-Monitor beschäftigt sich regelmäßig mit der Struktur und den Motiven der Gründerszene und kommt zu folgenden Ergebnissen: Die meisten Jungunternehmer sind vom Wunsch getrieben, etwas völlig Neues zu erschaffen. Sie streben mit ihren digitalen Geschäftsmodellen weniger nach fetter monetärer Beute als vielmehr nach sozialen, demokratischen und nachhaltigen Problemlösungen für die Gesellschaft.
Viele gründen ihr Unternehmen, weil sie selbstbestimmt arbeiten wollen, und klemmen sich mit voller Energie hinter ihre Geschäftsidee. Ein Großteil der Gründer war schon als Schüler leistungsstark und innerhalb oder außerhalb der Schule engagiert. Allerdings kassierten nicht wenige auch Klassenbucheinträge und Verweise. Damit entsprachen sie eher dem Bild des aufmüpfigen Rebellen als dem des angepassten Strebers.
Statt auf Einzelgängertum setzen viele Gründer lieber auf Zusammenarbeit und Vernetzung. Drei von vier Startups werden im Team gegründet, und über die Hälfte der Gründer kooperiert häufig mit etablierten Unternehmen oder wissenschaftlichen Einrichtungen. Die meisten Gründer haben keine Angst vor dem Scheitern, ein Drittel von ihnen hat bereits ein Unternehmen in den Sand gesetzt und trotzdem mit neuen Ideen weitergemacht.
Offenbar ticken die Leistungsträger der neuen Grün-dergeneration anders als die Wirtschaftselite der analogen Businesswelt. Dort geht es eher um Abschottung und Eitelkeit, um Machtspiele und den Erhalt eines hierarchischen Kastensystems, das mithilfe von Statussymbolen zur Schau gestellt wird. Im digitalen Ökosystem der Plattformökonomie sind diese Werte überholt und ökonomisch kontraproduktiv. Gefragt sind Offenheit, Mitgestaltung, Flexibilität und Überzeugungskraft.
Die neuen Gründer definieren sich über das, was sie unternehmen, und nicht, aus welcher Familie sie stammen. Ihnen geht es um Inhalte, Relevanz und Sinn. Die Gründer sind nicht Kinder eines mächtigen Dax-Vorstands und sie kommen üblicherweise nicht von Eliteunis oder aus Unternehmensberatungen. Meist stammen sie aus dem Mittelstand, ihre Eltern sind Lehrer oder Polizisten. Dennoch wirkt in ihnen oft schon in jungen Jahren ein Unternehmergen, sie wollen ihr eigenes Geschäft zum Erfolg bringen, selbstständig und frei bleiben und sich keinesfalls alten Strukturen unterordnen.
Herkunft zählt in der digitalen Welt kaum mehr. Viel wichtiger als Bewahren ist der Blick nach vorn. Die neue Gründergeneration fragt nicht: »Was hast du gemacht?«, sondern »Was hast du vor, was sind deine Ziele?« Die jungen Unternehmer gehen die Dinge pragmatisch und ohne Vorurteile an, weil sie gerne testen, verifizieren. Sie wollen keine ausgefeilten Pläne schmieden, sondern experimentieren und aus Fehlern lernen. Die neuen Gründer wollen ausprobieren, ob ihre Idee wirklich funktioniert. Dabei agieren sie gleichermaßen spielerisch wie effizient.
Auf der Suche nach dem passenden Geschäftsmodell beschäftigen sich die jungen Firmen intensiv mit den Wünschen und Vorlieben ihrer potenziellen Kunden. Die Informationen darüber erhalten sie über Websites oder Apps. Diesen Datenstrom werten sie akribisch aus und passen ihre Angebote entsprechend an. Bemerkenswert ist, wie effizient Startups diese komplexen Big-Data-Prozesse managen und die richtigen Rückschlüsse für ihre Strategie ziehen. Auch damit beweist die neue Gründergeneration, dass sie den unternehmerischen Sandkastenspielen entwachsen ist und Geschäftsideen verwirklicht, die substanziell, skalierbar und nicht selten auch in großem Stil marktfähig sind. Geschäftsideen, mit denen die Digitalisierung in Deutschland maßgeblich vorangetrieben wird.
Zu den beliebtesten Geschäftsideen der Gründer zählen die Bereitstellung von Software in der Cloud (Software as a Service), Softwareentwicklung und andere digitale Dienstleistungen. Auch Künstliche Intelligenz, Virtual Reality oder Blockchain spielen bei den Geschäftsmodellen der neuen Gründergeneration eine immer wichtigere Rolle. Gut möglich, dass es Deutschland dank dieser jungen Unternehmer doch noch gelingt, an den Weltmarkt für innovative Schlüsseltechnologien aufzuschließen.
Vielleicht erleben wir gerade eine historische Zeitenwende: Eine neue Gründerzeit, eine Aufbauphase der Wirtschaft, der Unternehmen und des demokratischen Systems – ähnlich der Gründerjahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine neue Welt könnte sich öffnen, in der wachstumsstarke Märkte entstehen, digitale Geschäftsmodelle neue Werte für Millionen Menschen hervorbringen und überkommene Strukturen disruptiert werden.
Diese Zukunft allerdings wird nur dann näher rücken, wenn die Startups hierzulande leichter an jenes Kapital kommen, das sie für ihre ambitionierten Expansionspläne brauchen.
Ohne Moos nix los – die Venture-Kapitalisten
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