Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke
Die Soziolog*innen jedenfalls warnen schon, dass die derzeit stattfindende Anpassung der Jugend an die Lebensrealitäten und damit das fehlende Revoluzzertum zu einem Versiegen erneuernder Ideen führen könnte, die die früher aufrührerische Jugend doch immer mit sich gebracht habe.
Sie meinen diese ergrauten oder Midlifecrisis-geschüttelten Herren, die sich abstrampeln, staatliche Fördergelder für inhaltlich sinnlose Projekte zu bekommen und bei Demonstrationen und anderen zivilgesellschaftlichen Protestaktionen meist fehlen, um anschließend die Jugendlichen zu kritisieren, dass sie sich nicht genug engagieren? Diese Werbung richtet sich natürlich nicht an die Jugendlichen selbst, sondern an die Eltern, die ja den Bausparvertrag für ihre Kinder abschließen sollen und ihren eigenen Anti-Spießer-Faktor meist gnadenlos überschätzen, weil sie sich in ihr eigenes jugendlich-rebellisches Selbstbild verliebt haben, obwohl dies mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Die Jugend hat sich im Grunde immer nach einem Idyll gesehnt. Nehmen Sie die Hippies: Was gibt es denn Idyllischeres als deren Vorstellung von einem Leben in Frieden und Harmonie im Einklang mit der Natur, womöglich noch als Selbstversorger? Dass das klassische Familienmodell wieder mehr Konjunktur hat, liegt nicht zuletzt daran, dass sehr viele in anderen Lebensbereichen das nicht mehr erleben: Idyllisches Familiendasein als Rückzugsort gegenüber den Zumutungen und Unsicherheiten der Welt draußen. Eigentlich für ehemalige DDR-Bürger*innen nichts Neues, nur jetzt bundesweit.
Also stimmt es doch: Die Jugend wird konservativer, versprüht weniger umstürzlerischen Geist, ist unpolitischer?
Im wirklichen Leben gingen damals nur 3 bis 5 % der Studierenden demonstrierend auf die Straße, weniger als davor und weniger als heute.
Zunächst einmal: Wenn wir mal zum Vergleich die berühmten „Achtundsechziger“ des Westens nehmen, die nachfolgenden Generationen bis heute als leuchtendes Vorbild vorgehalten werden: Scheinbar eine ganze Generation auf den Barrikaden, politisiert und engagiert, Aktivisten einer politischen, sexuellen und kulturellen Revolution. Im wirklichen Leben gingen damals nur 3 bis 5 % der Studierenden demonstrierend auf die Straße, weniger als davor und weniger als heute. Die beliebtesten Musiker dieser Zeit bei Jugendlichen waren laut den Verkaufscharts auch nicht Jimmy Hendrix, Grateful Dead oder die Doors, sondern Heintje und Roy Black. Die positive Nachricht: Wenige engagierte Menschen können viel erreichen, Minderheiten können die ganze Gesellschaft verändern, wenn sie den Zeitgeist treffen. Und: Schon in den vergangenen Jahrzehnten hatten wir vor allem durch 9/11, den ersten Golfkrieg und die rechtsextreme Gewalt Millionen Jugendlicher demonstrierend auf den Straßen – so viele wie nie zuvor. Schüler*innen und Studierende haben gemeinsam Universitäten besetzt, um auf die miserable Bildungspolitik hinzuweisen. Nur: Das alles hat die Erwachsenengesellschaft nicht interessiert. Sie war nicht bereit für Änderungen – schon gar nicht, wenn diese von jungen Leuten gefordert wurden. Das hat sich erst mit den Fridays for Future geändert.
Mama geht mit Töchterlein zu H&M einkaufen. Papa geht mit dem Sohnemann zum Rockkonzert. Der Spielraum der Jugend wird immer mehr vereinnahmt, Abgrenzungen zur Elterngeneration werden immer schwieriger. Im Gegensatz zu all den Jahrzehnten zuvor ist es bei der heutigen Jugend offenbar unmöglich, eine treibende Bewegung zu entwickeln. Nicht umsonst wird seit längerem zu nichtssagenden Umschreibungen wie „Generation Golf“, „Generation Pop“ „Generation X - Y - Z“ gegriffen.
Der Mainstream selbst hat sich längst in diverse Subkulturen parzelliert, die deutsche Gesellschaft ist viel zu divers, um noch eine gemeinsame, verbindliche Norm der Lebensstile zu finden. Der früher normative, heute nur noch retro-konservative Familienklassiker – Vater, Mutter,; zweieinhalb Kinder – ist nur noch ein Minderheitenmodell.
Das ist eben das eigentlich Neue an dieser Jugend: Ihr kann kein Stempel mehr aufgedrückt werden. Die Jugendkulturen der vergangenen sieben Jahrzehnte sind ja im Grunde alle bestehen geblieben und existieren in einem bunten Nebeneinander. Dass etwa Hip-Hop, ursprünglich eine Ghetto-Undergroundkultur, eine Mainstreammode geworden ist, ist ein typisches Phänomen unserer Zeit, die durch Kommerzialisierung und Allgegenwart der Medien alles auch nur vermeintlich Neue zum Trend stilisiert, hypt und damit als eigentliche Bewegung entkernt. Die gibt es zwar immer noch, hat aber mit dem, was im Mainstream als Hip-Hop verstanden wird, nur noch die Oberfläche gemeinsam. Das wirkt auf Erwachsene wie Jugendliche und macht es für Letztere in der Folge tatsächlich immer schwerer, sich abzugrenzen. Deshalb werden die Versuche der Minderheiten, die es für ihre Identität nach wie vor wichtig finden, nicht nur „kleine Erwachsene“ zu sein, sondern sich eine eigene Lebenswelt aufzubauen, immer extremer, die Labyrinthe immer verzweigter. Heutige Marketing-Studien sprechen in Deutschland von einer Zahl zwischen 400 und 600 jugend- und subkultureller „artificial tribes“ – also Stammesgesellschaften, die sich durch eigene Rituale, Treffpunkte (reale und virtuelle), Stilmerkmale und vor allem eine eigene Musik voneinander und von der Erwachsenenwelt unterscheiden: Gamer und Ultras, Streetballer und Skateboarder, Health Goth und VSCO-Girls, Trap- und Black-Metal-Fans, Cosplayer*innen und Seapunks – allein die großen Szenen Techno, Heavy Metal, Punk, HipHop und Gothic haben jeweils Dutzende Untergruppen und Substyles herausgebildet. Und wieder – Sie ahnen es bereits – spiegelt das die Entwicklung unserer Gesellschaft wider, die ja nicht umsonst oft als „Minderheitengesellschaft“ definiert wird: Der Mainstream selbst hat sich längst in diverse Subkulturen parzelliert, die deutsche Gesellschaft ist viel zu divers, um noch eine gemeinsame, verbindliche Norm der Lebensstile zu finden. Der früher normative, heute nur noch retro-konservative Familienklassiker – Vater, Mutter, zweieinhalb Kinder – ist nur noch ein Minderheitenmodell, zu dem etwa in Berlin noch rund 20 % der Bevölkerung gehören. Der Anteil der Senior*innen, die inzwischen in Wohngemeinschaften leben, ist fast genauso hoch. Und auch in Sachsen-Anhalt leben inzwischen über 50 % der Menschen in Single-Haushalten. Nicht nur die Jugend ist diverser geworden.
Warum steht davon nichts in den Shell-Studien, Jugendsurveys etc.? Ist die Jugendforschung noch up to date?
Nein. Meines Erachtens war die Jugendforschung mehrheitlich schon immer ein Zweig der Forensischen Anthropologie. Erforscht werden in der Regel Problemlagen: Defizite, die (Mehrheits-) Gesellschaft schädigendes Verhalten, von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Einstellungen und Taten. Was also als problematisch (an) erkannt wird, bestimmt nicht das potenzielle Objekt der Begierde, sondern derjenige, der die Definitionsmacht innehält. Also: die politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Elite. So wurden in den 1970er Jahren „die Türken“ zum Problem und damit zum Arbeitsfeld für Forscher*innen erklärt, nicht die den Anforderungen eines modernen, zivilisierten Europas nicht gewachsene deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeneration. So wird auch Jugendforschung über die Köpfe der Betroffenen hinweg konzeptioniert. Fragen Sie einmal Jugendliche, was sie gerne erforscht haben möchten, auf welche ihrer Fragen sie sich Antworten aus den Reihen der Wissenschaft wünschten. Extremismusprävention, Jugendgewaltkriminalität und Rauschmittelkonsum stehen da sicher nicht in der Prioritätenliste ganz oben.
Die Jugendforschung krankt. Ihre Konzepte sind von vorgestern. Ihr Personal ist den aktuellen Entwicklungen und Szenen nicht gewachsen. Die stets geforderte Distanz zwischen Forscher*innen und den Objekten ihrer Begierde führt nicht nur zu der typischen Stigmatisierung sogenannter bildungsferner, also proletarischer Milieus durch die in der Regel aus bürgerlichen Schichten, universitär sozialisierten und aus weißer Perspektive kulturalisierenden Forscher*innen, sondern führt auch zunehmend dazu, dass die Forschung Jugendliche einfach nicht mehr versteht. Nur die wenigsten Forscher*innen haben zum Beispiel einen Blick für die nonverbalen, nicht einfach zu transkribierenden und dann mit den Standardprogrammen zu analysierenden Kommunikationsformen; die wenigsten machen sich die Mühe, zum Beispiel ausgiebig deren Partys, Konzerte und andere Events einfach mal als Zaungast zu besuchen, deren Medien zu studieren, um zum Beispiel die Sprache zu verstehen, die in vielen Szenen eminent wichtigen Abgrenzungsrituale und ironischen Spiele zu begreifen. Zwischen 1990 und 2000 sind über 30 wissenschaftliche Studien zur Skinheadszene erschienen – ich möchte behaupten, dass kein einziger der professoralen Autoren je mit realen Skinheads gesprochen, ihre Events besucht hat – bestenfalls, und selbst das stellt noch die Ausnahme dar, haben die Professoren ihre Studierenden