Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke

Auf dem Lande alles dicht? - Mieste Hotopp-Riecke


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Musikstilen nicht. Die Basis ihres Wissens ist ihre eigene musikalische Prägung durch Bands wie die Rolling Stones, Neil Young oder Bob Dylan. Musikvorlieben für Grunge, Hardcore, Thrash, Heavy Metal und andere werden gerne unter der Rubrik „Hardrock“ subsummiert; wer sich zu den Skinheads bekennt, ist immer noch rechtsdenkend, Punks sind Antifaschisten. In Zeiten, in denen Skinheads gegen Rassismus demonstrieren, Nazi-Punks linke Skins verprügeln, neonazistische Jugendgangs im Hip-Hop-Sound rassistische Witze vertonen, in einem Techno-Club oder auf der Partymeile von Mallorca Dutzende Männer mit Krämpfen im rechten Arm den Adolf Hitler tanzen, während im Club nebenan an der Eintrittskasse Solidaritätsbeiträge für gewalttätig obdachlos gewordene Geflüchtete gesammelt werden, kann eine derart schablonenhaft konstruierte Jugendsoziologie und -forschung allgemein nur entsprechende Resultate erzielen. Überraschend viele positive Ausnahmen findet man lediglich unter Musikwissenschaftler*innen und Europäischen Ethnolog*innen – aber die betreiben leider nur sehr selten Jugendforschung. Die ist offenbar kein lukratives und förderfähiges Geschäft – wozu auch, wo doch ohnehin fast jeder seine Meinung zur Jugend hat. Schließlich war man selbst auch mal jung und rebellisch – damals, nach dem Krieg.

       Was sagt uns die Jugendforschung denn über die Landjugend, Jugendliche und Jugendkulturen jenseits der großstädtischen Ballungsräume?

      Nichts. Abgesehen von wenigen tollen, exemplarischen Ausnahmen konzentriert sich die gesamte Jugendkulturforschung auf die Großstädte. Dass es auch in ländlichen Räumen Jugendkultur gibt, viele großstädtische Szene-Aktivist*innen in Dörfern und Kleinstädten aufgewachsen sind, Klubs und andere Locations in ländlichen und kleinstädtischen Regionen oft für die Entwicklung einer Szene eine herausragende Bedeutung hatten, wird kaum wahrgenommen. Auch deshalb haben wir das Projekt WIR. Heimat – Land – Jugendkultur initiiert. Es ist ein kleiner Versuch, den Blickwinkel zu erweitern. Fast eine Million Menschen sind seit der Wende aus Sachsen-Anhalt ausgewandert. Diese große Welle, überwiegend mangelnder wirtschaftlicher Perspektiven geschuldet, ebbt seit drei Jahren ab. Wer aber immer noch abwandert, sind die Jungen. Selbst dort, wo es Arbeit für sie gäbe. Und damit verspielt das Land seine Zukunft, wenn es sich nicht allmählich dafür zu interessieren beginnt, warum die Jungen abwandern und was sich ändern müsste, damit sie es nicht tun oder nach der Ausbildung, dem Studium gerne zurückkehren.

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       „Heimat“ ist ja ein ideologisch sehr aufgeladener Begriff …

      Ich persönlich kann mit dem Konstrukt „Heimat“ nichts anfangen. Vielleicht, weil ich nicht in einem Dorf aufgewachsen bin. Und es nervt mich, wenn einem heute ständig so Patrioten einreden wollen, das sei „unnormal“. Man MUSS doch seine Heimat lieben! Nein, muss ich nicht! Ich muss auch nicht an irgendeinen Gott glauben, um glücklich zu sein.

      Jeder soll glauben, an was er will. An Gott, Hitler, die freie Marktwirtschaft oder die SPD – Meinungsfreiheit bedeutet in einer Demokratie, dass jeder Mensch das Recht hat, an wirklich ALLES zu glauben und das auch zu sagen. Dummheit ist nicht grundgesetzwidrig. Ich bin ganz prinzipiell gegen jede Art von Meinungszensur. Meinungsfreiheit bedeutet aber auch, dass mich niemand zwingen darf, irgendeinen Glauben und irgendeine angebliche „Wahrheit“ zu übernehmen und danach zu leben. Wer eine Meinung hat, muss auch aushalten, dass andere eine andere Meinung haben. Das nennt sich Demokratie und Meinungsfreiheit. Und damit haben erstaunlich viele dieser „Patrioten“ offenbar ein Problem, sobald ihnen jemand widerspricht. Sie kennen meist nur eine „Wahrheit“ – die ihre.

      „Patriotismus“ ist ein ideologisch aufgeladener Begriff. Die Grenzen zu Nationalismus und Rassismus sind hier fließend. Dann ist Heimat plötzlich nicht mehr der Ort, an dem sich alle wohlfühlen dürfen, sondern nur noch Heimat für die Weißen, für die Deutschen, für die, die seit Generationen dort leben und sich allen Traditionen unkritisch anpassen. Wenn sich heutzutage jemand selbst als „Patriot“ bezeichnet, sollten alle Warnblinklichter angehen. Um „Heimatliebe“ geht es da in der Regel nicht.

      Was ich allerdings erst in den letzten Jahren begriffen habe, vor allem bei einer großen Frei.Wild-Fanstudie, die ich durchgeführt habe, mit über 4.000 beteiligten Fans, ist, dass es auch eine Heimatliebe gibt, die nicht rechtsaußen angesiedelt ist, nicht national, sondern regional. Viele Menschen, die nicht nationalistisch, rassistisch oder sonst wie ausgrenzend denken, haben trotzdem ein großes Bedürfnis nach einer regionalen Identität, nicht unbedingt mit ganz Deutschland, sondern mit der Region, in der sie leben oder aus der sie stammen. Das ist fast überall auf der Welt ja was ganz Selbstverständliches, aber eben nicht in Deutschland aufgrund unserer Verantwortung für eines der scheußlichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Aber ich glaube, dass uns Älteren nichts anderes übrigbleibt, als zu akzeptieren, dass Jüngere nicht nur die Nazi-Zeit im Blick haben, sondern auch den gewaltigen Demokratisierungs- und Zivilisierungsprozess, den Deutschland vor allem seit den 1970er Jahren durchlaufen hat. Stolz auf Deutschland zu sein bedeutet für diese dann eben, stolz darauf zu sein, dass Deutschland kein Nazi-Land mehr ist, sondern ein relativ weltoffenes Land mit einem recht hohen Grad an Umweltbewusstsein, mit vielen Gruppen, die sich zum Beispiel für Menschenrechte, für Geflüchtete und andere Minderheiten, für sexuelle Gleichberechtigung usw. engagieren.

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      In der Renaissance des „Heimat“-Begriffs und des „Regionalpatriotismus“ liegt also sowohl eine Chance, lokales und regionales Engagement zu fördern, als auch ein Risiko der Ausgrenzung alles „Fremden“. Die entscheidende Frage ist also: Wer definiert das neue deutsche WIR, wer gehört dazu, wer darf dazugehören? Jugendkulturen sind andererseits schon immer internationale Bastarde ohne feste Heimat. Szene-Aktivist*innen haben in der Regel mehr Freund*innen in der ganzen Welt als im eigenen Dorf. Wenn diese reizvollen Widersprüche aufeinanderprallen oder auch gemeinsam etwas entwickeln, könnten daraus spannende Prozesse und Projekte entstehen.

       Das Netz verbindet Jugendliche heute weltweit. Wie haben Internet und soziale Medien die Jugendkultur und die Jugendarbeit verändert?

      Natürlich haben Social Media, das Internet und Smartphones unser aller Leben radikal verändert und damit auch die Jugendarbeit. Früher musste man konkrete Orte wie Jugendzentren aufsuchen, um seine Freunde zu treffen. Heute kann man sich online verabreden und sich dann irgendwo treffen. Das heißt auch: Jugendliche sind heute schwerer greifbar, wenn sie nicht mehr ins Jugendzentrum kommen. Aber die neuen Technologien haben auch positive Auswirkungen, denn das Internet ist trotz aller Facebook-Trollgruppen ein inklusives Medium, das wesentlich dazu beigetragen hat, den Informationsvorsprung der Großstadt gegenüber dem Dorf und der Kleinstadt zu verringern. Wenn sich ein Jugendlicher in einem kleinen Dorf leidenschaftlich für eine Jugendkultur oder für eine bestimmte Musikrichtung interessiert, hätte er früher keine Ansprechpartner*innen gehabt und keine Gleichgesinnten gefunden; heute aber kann er durch das Internet teilhaben an einer weltweiten Jugendkultur und bekommt alle Informationen über seine Szene genauso schnell wie die Szene-Angehörigen in Berlin.

       Das heißt, die Kommunikation und Mobilität unter Jugendlichen hat zugenommen?

      Erwachsene meinen oft, dass die Jugendlichen sich digital isolieren und sich nicht mehr austauschen wie früher. Dabei kommunizieren Jugendliche im Internet sehr viel und tauschen sich über alle möglichen Themen aus, sprechen vielleicht sogar freier als früher. Die Jugendarbeit nutzt deshalb inzwischen Online-Tools sehr erfolgreich für Beratungsangebote, etwa zu den Themen Schulden oder Sexualität. Und das Internet ermöglicht den Jugendlichen, sich zu gruppieren und zu organisieren. Ein aktuelles Beispiel ist die Fridays-for-Future-Bewegung. Im Internet finden spannende Diskussionen statt und bei allen Nachteilen sind Social Media trotzdem auch eine Riesenchance für die öffentlichkeitswirksame Kommunikation.

       Social Media sind also auch eine Chance für die Jugendarbeit, um die Jugendlichen zu erreichen?

      Soziale Medien sind ganz sicher eine Chance und ein Muss für die Jugendarbeit. Wer Jugendliche erreichen will, muss auf diesen Kanälen präsent sein. Die sozialen Medien sind ein zentraler Bereich jugendlicher


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