Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke
müssen die gesellschaftlichen Strukturen durchlässiger werden, um eine Gesellschaft der Vielen glaubwürdig zu repräsentieren und das Heimat-Narrativ so auch emotional für alle zu öffnen. In der Kulturellen Bildung könnte gesellschaftlicher Zusammenhalt gestärkt werden, wenn das kulturelle Erbe aller gleichwertig in Inhalte und Vermittlung einfließt und wenn die Deutungshoheit darüber, was und wer dazugehört, nicht einer gesellschaftlichen Gruppe vorbehalten bleibt. Das bedeutet – radikal formuliert, aber längst nicht neu – die endgültige Absage an die wertende Unterscheidung von Hochkultur, Soziokultur und Subkultur. Kinder und Jugendliche, deren kulturelle Prägung jenseits der westlichen Kulturrezeption stattgefunden hat, müssen als Produzent*innen und Rezipient*innen ernst genommen, statt aufgrund ihrer Herkunft als „nicht kulturaffin“ eingestuft werden. Gute Beispiele für die damit verbundenen Erfolge gibt es bereits vielfach: Das Import Export Kollektiv des Theaterpädagogen Bassam Ghazi am Schauspiel Köln, das Klavierfestival Ruhr oder auch transkulturelle Theater wie das Gorki Theater Berlin, das Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin u.v.a. sind Beispiele, wie inklusive Kulturproduktion aktiv die Regelbetriebe zum schrittweisen Umdenken bewegt und solche Produktionen Teil eines Angebots für unsere vielfältige Gesellschaft werden.
Zukünftig geht es um den konsequenten Transfer dieser Erfahrungen auf die Regelbetriebe, was wiederum vom bereits angesprochenen politischen Willen abhängig ist. In vielen Kommunen sowie auf Bundesebene sind notwendige interkulturelle/transkulturelle2 Öffnungsprozesse etwa im öffentlichen Dienst bereits im Gange. Hierbei handelt es sich um strukturelle Change-Management-Prozesse, die Jahre dauern werden.
Warum hinkt ausgerechnet unsere Kultur- und Bildungslandschaft hinsichtlich einer konsequenten Öffnung hinterher, obwohl es um den Zusammenhalt unserer nicht mehr umkehrbaren diversen Gesellschaft geht? Warum absolvieren Erzieher*innen, Lehrer*innen, Fachkräfte der kulturellen Jugendarbeit, Kulturpädagog*innen, Künstler*innen sowie das Lehrpersonal in Ausbildungsstätten des Kulturbetriebs nicht längst verpflichtende interkulturelle/transkulturelle Qualifizierungen und antirassistische Trainings? Warum wird die Erinnerungskultur der postmigrantischen Gesellschaft nicht in Schul- und Geschichtsbücher integriert? In den Kultur- und Bildungseinrichtungen unserer beneidenswert reichen Gesellschaft befinden sich doch die wertvollen Räume, in denen Verwurzelung außerhalb der Familie möglich ist. Warum liegen diese Chancen und Möglichkeiten brach?
Bereits als junge Erwachsene empfand ich ein Störgefühl, das stetig wuchs. Zahlreiche Erfahrungen während meiner Tätigkeit als Tanzvermittlerin und als darstellende Künstlerin führten zu der Erkenntnis, dass nicht nur in vielen Bereichen der kulturellen Jugendarbeit eine eurozentristische Perspektive dominierte.
Mein Aufwachsen war innerfamiliär von einer friedlichen Koexistenz westlicher und außereuropäischer Musik- und Tanztraditionen geprägt. Das schloss den Respekt vor Kulturschaffenden jeglicher Sparte und Couleur mit ein. Meine gesellschaftlichen Beobachtungen deckten sich damit leider nicht. Bereits als junge Erwachsene empfand ich ein Störgefühl, das stetig wuchs. Zahlreiche Erfahrungen während meiner Tätigkeit als Tanzvermittlerin und als darstellende Künstlerin führten zu der Erkenntnis, dass nicht nur in vielen Bereichen der kulturellen Jugendarbeit eine eurozentristische Perspektive dominierte. Weil dort beispielsweise sogar die ehrenamtlichen Strukturen weitestgehend herkunftsdeutsch besetzt warenund dementsprechend Multiperspektivität nicht möglich war. Auffallend war, dass gerade in der professionellen Kulturszene migrantisches kulturelles Erbe nicht mehr als eine Randerscheinung sein durfte. Erst seit einigen Jahren werden die Strukturen und Angebote der hochsubventionierten bundesdeutschen Kulturlandschaft und auch Bereiche der Kinder- und Jugendbildung vorsichtig infrage gestellt: Weil vieles nicht ausreichend genutzt wird bzw. zu wenige Menschen erreicht werden und gleichzeitig auch aus den Steuergeldern derjenigen Menschen finanziert wird, die von Kindesbeinen an exkludiert werden. Stattdessen reproduziert sich weiterhin eine herkunftsdeutsche bildungsbürgerliche und finanzstarke Elite. Wenn ich heute auf Kulturproduzent*innen mit migrantischen Wurzeln treffe, lautet die einstimmige These: Die Begrenzung auf herkunftsdeutsche und westliche Narrative privilegierter Akteur*innen stand früher wie heute für die aktive Sicherung von Macht und Privilegien. Dabei könnte die quantitative Erweiterung des Kanons einen qualitativen Zuwachs an Programm, Personal und auch Publikum bedeuten und damit die TOP-Themen im aktuellen kulturpolitischen Diskurs mitbearbeiten. Doch für die derzeitigen Kulturakteur*innen bedeutet jede Verschiebung des inhaltlichen Fokus (auch von Förderkriterien) einen möglichen Verlust eigener Privilegien. Wenn die Kultur eine relevante Stimme für einen offeneren Heimatbegriff gegen die Vereinnahmung von rechts werden soll, wird es allerhöchste Zeit, dass sich die Kulturbourgeoisie dieses Landes ihren eigenen Vorurteilen, Rassismen und Ansprüchen auf Deutungshoheit stellt. Denn Heimat und Kultur sind nicht erst seit dem Einzug der Rechtspopulisten in die Landtage und den Bundestag umkämpft. Für „uns“, die Nicht-Herkunftsdeutschen und eben auch die nicht privilegierten Herkunftsdeutschen waren sie auch vorher nicht frei verfügbar. Für einen beständigen Zusammenhalt wären wir dies aber unserer Heimat, die wir lieben, schuldig.
Literatur
Flusser, Vilem: Heimat und Heimatlosigkeit. 1 CD. Suppose Verlag: Köln 1999.
Kermani, Navid: Von Heimat zu Heimat. Zitiert nach dem Beitrag von Ruth Bender vom 26.01.2018, s.a.: http://www.kn-online.de/Nachrichten/Kultur/Schriftsteller-Navid-Kermani-im-Gespraech [31.03.2020].
Koppetsch, Cornelia: „In Deutschland daheim, in der Welt zu Hause? Alte Privilegien und neue Spaltungen“, in: Soziopolis vom 22.12.2017. Online: https://soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/in-deutschland-daheim-in-der-welt-zu-hause/ [10.02.2020].
1Vor der Landtagswahl 2000 polarisierte Ministerpräsident Jürgen Rüttgers mit dem Wahlkampf-Ruf „Kinder statt Inder an die Computer“ der die Haltung der CDU zugunsten der Förderung von heranwachsenden (deutschen) Kindern statt zugewanderten Ausländern verdeutlichen sollte. Auslöser war, dass ausländische IT-Fachkräfte – insbesondere aus Indien – mittels der von der rot-grünen Bundesregierung eingeführten Greencard nach Deutschland eingeladen werden sollten. Dies wurde von den Republikanern dann mit der Phrase „Kinder statt Inder“ im Landtagswahlkampf 2000 übernommen.
2Der Begriff der Transkulturalität nach Prof. Wolfgang Welsch geht im Gegensatz zur Interkulturalität und Multikulturalität davon aus, dass Kulturen nicht homogene, klar voneinander abgrenzbare Einheiten sind, sondern dass sie – besonders infolge der Globalisierung – zunehmend vernetzt und vermischt werden. Die Transkulturalität umschreibt genau diesen Aspekt der Entwicklung von klar abgrenzbaren Einzelkulturen hin zu einer Globalkultur.
Heimat als Gefühls- und Praxisraum. Ethnographische Zugänge
Dr. Juliane Stückrad
Heimatvorstellungen
Im Gespräch mit dem Kirchenvorsteher eines Dorfes bei Leipzig erfuhr ich, wie wichtig es der Gemeinde ist, dass Konfirmationen der Jugendlichen aus dem Dorf in der eigenen und nicht in der Nachbarkirche stattfinden. Er begründete diese Forderung an den Pfarrer mit: „Heimatgefühl. Das kann man nicht ersetzen.“1
Jenseits aller Debatten um Deutungen, Missbrauch und Gefahren des facettenreichen Begriffs Heimat,2 spielt dieser im Alltagswissen vieler Menschen eine wichtige Rolle. Bei meinen ethnografischen Erkundungen zur Bedeutung von Kirche und zu Stimmungslagen in ländlichen Räumen begegnen mir häufig Heimatvorstellungen. Und als Zugang zu den Forschungsfeldern eignen sich Heimatmuseen und Heimatvereine hervorragend, um einen Einblick in die lokalen Geschichtsschreibungen und Identitätskonstruktionen zu erhalten. Über