Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke
eine Heimat zu gestalten ist, die sich angstfrei öffnet und nicht argwöhnisch abschottet. Es geht dabei nicht um einen wehmütigen Blick auf die „gute alte Heimat“, die in der Erinnerung immer viel schöner ist, als sie es jemals war, sondern um eine auf die Zukunft ausgerichtete Perspektive, wie man ausgehend vom Lokalen eine Welt erschafft, in der jede*r heimisch werden kann. Begriffsgeschichtlich betrachtet entwickelte sich Heimat vom Rechtsraum zum Gefühlsraum. Heimat beschrieb ursprünglich das Haus, den Hof und das direkt erfahrbare dörfliche Umfeld, den Ort, der das Überleben sicherte.3 Heimat war Besitz an Grund und Boden. Wer kein Haus und Hof besaß, war in den alten Rechtsvorstellungen heimatlos. Die mobilere bürgerliche Bevölkerung verknüpfte seit dem 19. Jahrhundert neue Vorstellungen mit Heimat und reicherte sie mit Gefühlen an, die die Unsicherheiten des eigenen Lebens kompensierten. Heimat wuchs so über den Hof, das Elternhaus, die lokale Gemeinschaft hinaus und wurde über die Landschaft gelegt. Sie verwandelte sich in der Heimatbewegung, in der Heimatkunst oder im Heimatschutz in ein „Kontrastprogramm“ zur industrialisierten Großstadt. Heimat wurde nun vorwiegend mit bäuerlichen Lebenswelten in Verbindung gebracht und transportierte Bilder, die bis heute nachwirken. Aus diesen Ideen von Heimat entstanden Reformprogramme. Diese Entwicklung konnte bereits aggressive Züge annehmen und verlief parallel zur nationalistischen und bald auch rassistischen Aufladung des Heimatbewusstseins, die uns den unbefangenen Umgang mit Heimat erschweren. Mittlerweile findet der Begriff Heimat Verwendung für einen Identifikationsraum, der in seinen Ausmaßen variabel bleibt. Heimat kann als ein „Ort tiefsten Vertrauens“ wahrgenommen werden.4 Bormann deutet die Verknüpfung materieller, historischer und sozialer Gegebenheiten des Raumes als Notwendigkeit „einer kulturellen Produktion von Lokalität, im Sinne von raum-zeitlichem Verortet-Sein.“5 Das „raum-zeitliche Verortet-sein“ erfolgt bei vielen Menschen, denen ich bei der Feldforschung begegne, in überschaubareren Teilräumen, dem direkten Wohnort und dem sozialen Nahbereich, die Danielzyk und Krüger (1994: 115) als „Geborgenheitsraum“ beschreiben. Ausgehend von den lokalen Bedingungen beurteilen die Menschen die Qualität ihrer Lebenswelt.6 Heimat als „Geborgenheitsraum“ oder „Satisfaktionsraum“7 wird als Utopie von der Realität regelmäßig herausgefordert und gerade dann zum Thema, denn sie ist weder statisch noch krisensicher.
Unmut und Utopie
Unmut entsteht, wo wir mit Erwartungen an etwas herantreten und diese sich nicht mit den Erfahrungen decken. Lässt man sich auf das Schimpfen über die Heimatregion ein, kann man daraus Erwartungen ablesen. Schimpfen als Ausdruck des Unmuts entwickelt identitätsstiftende Kraft. Es dient der Positionierung in Raum und Zeit. Der Prozess dieser verbal ausgetragenen Positionierung offenbart Konflikte in der Identitätsfindung und lässt erahnen, was von einer Region bezüglich der Lebensqualitäten erwartet wird. Dabei sind wirtschaftliche und identitätsbezogene Argumente untrennbar miteinander verwoben. Man wünscht einen Raum, der den nötigen wirtschaftlichen Hintergrund bietet, sich privat zu entfalten und soziale Beziehungen aufbauen und pflegen zu können.8 Es stellt sich die Frage, wie aus der Enttäuschung heraus konstruktive Potenziale für die Gestaltung von Heimat entwickelt werden können. Erfahrungen aus ethnografischen Datenerhebungen in ostdeutschen Dörfern und Kleinstädten zeigen, ohne eine sensible Aufarbeitung der Transformationserfahrungen wird eine zukunftsorientierte Arbeit an der Heimat schwierig. Es geht dabei nicht nur darum, Verletzungen und Verluste herauszuarbeiten, sondern auch die erstaunlichen Lebensleistungen vieler Menschen zu würdigen, die im gesellschaftlichen Umbruch nach 1989 ihr Schicksal und das ihrer Wohnorte selbst in die Hand nahmen. Es handelt sich dabei um Transformationserfahrungen, die für eine gesamte Gesellschaft angesichts des fortschreitenden Wandels von großem Gewinn sein können und Inhalt kultureller Bildungsprojekte sein sollten.
Meine bisherigen Feldstudien in Ostdeutschland brachten einen Mangel an Zukunftsperspektiven für viele Dörfer und kleine Städte zutage. Viele Menschen glauben weder an einen wirtschaftlichen Aufschwung noch an den Zuzug neuer und jüngerer Bürger*innen. Zahlreiche kulturell aktive Bürger*innen hoffen, den Status Quo irgendwie halten zu können, ohne wirklich an eine Verbesserung der Situation zu glauben. Häufig haben die Menschen schon gar keinen Mut mehr, Visionen für die Zukunft zu entwickeln. „Wer weiß, wie lange es das noch gibt.“ Diesen Satz hörte ich häufig, ob im Heimatmuseum, im Jugendclub, beim Sportverein oder in der Kirchgemeinde.
Diese Haltung ist gerade für jüngere Menschen wenig inspirierend, um sich einzubringen. Zuverlässige kulturelle Bildungsprogramme sollten hier entgegensteuern und ermuntern, gemeinsam Perspektiven für ein gutes Zusammenleben zu entwickeln. Unmut sollte man dabei nicht überhören, denn in ihm sind die Utopien enthalten, die als Grundlage dieser Zukunftsdiskurse dienen können.
Heimat in der kulturellen Praxis
In Verbindung mit dem Begriff Heimat wird häufig auch von Identität gesprochen. Heimat bezieht sich auf den Raum, auch wenn dieser nicht strikt einzugrenzen ist, während Identität eine innere Struktur umschreibt. Heimat und Identität werden häufig erst zum Thema, wenn eine Störung sozialer und kulturaler Tatbestände vorliegt.
Identität steht für die „Übereinstimmung des Menschen mit seiner Umgebung“ und wird als „Gegenbegriff zur Entfremdung“ angewendet.9 Rahel Jaeggi beschreibt Entfremdung als eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Weiter erklärt sie: „Eine entfremdete ist eine defizitäre Beziehung, die man zu sich, zur Welt und zu den Anderen hat.“10 Entfremdung enthält den vielschichtigen Begriff „fremd“. In der deutschen Sprache zeichnet sich das dazugehörige Substantiv durch seine Genusvarianz aus: „der/die/ das Fremde“11 „Der Fremde“ ist der Unbekannte, dem man im eigenen und im fremden Raum gegenübertritt. Dabei existiert „der Fremde“ nicht per se, sondern wird zum Fremden gemacht; ein Vorgang, der in den Kultur- und Sozialwissenschaften als „Othering“ bezeichnet wird. „Die Fremde“ ist die Möglichkeit, die einem als irrelevant, als Option oder auch als unausweichliches Schicksal erscheint. „Das Fremde“ aber findet sich innerhalb des Eigenen. Es sind Dinge, Vorkommnisse und Anforderungen, die fremd erscheinen, die das Gewohnte infrage stellen und die nach einer Auseinandersetzung verlangen. Fremdsein bezeichnet keine Eigenschaft, sondern immer ein Verhältnis. Unmut über Fremde verweist nicht nur auf eine Krise in der Beziehung zum Fremden, sondern auch zu sich selbst.
Bildungsprojekte können anknüpfend an die Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte den Wandel des eigenen Heimatortes und der Heimatregion thematisieren, als Voraussetzung für die Überwindung von Entfremdungserfahrungen. So schaffen sie vor Ort Vertrauen durch Wertschätzung der Biografien und der lokalen Gegebenheiten.
Identität kann nicht als gegeben angenommen werden, sondern ist als Prozess zu verstehen, der ständig neu ausgehandelt wird.
Gemeinsames kulturelles Engagement kann identitätsstiftende Kraft entfalten. Viele Initiativen, die ich während meiner Feldstudien erkundete, haben das Ziel, der Entfremdung entgegenzuwirken und den Menschen Räume und Zeiten zu öffnen, in denen sie sich mit etwas identifizieren können. Denn, wie Jaeggi ausführt, verbinden wir uns in der Identifikation mit dem „Wohl oder Geschick“ von etwas oder jemandem.12 Identität kann nicht als gegeben angenommen werden, sondern ist als Prozess zu verstehen, der ständig neu ausgehandelt wird.
Daher sollten kulturelle Projekte die jeweiligen Identitätsdebatten vor Ort nicht ausblenden, weil sie oft die Ursache von Blockaden im kommunikativen Prozess sind. Vielmehr könnten sie fragen, wo und wozu Grenzziehungen stattfinden, bevor sie diese Grenzen überschreiten und den Menschen neue Perspektiven bieten können.
In vielen Städten und Dörfern, die ich während meiner Forschung kennenlernte, erklärten mir meine Gesprächspartner*innen, dass es heute weniger Zusammenhalt als früher gebe und es immer schwieriger werde, jüngere Menschen zu motivieren, sich am Kulturleben zu beteiligen. Dennoch erlebte ich sehr schöne Veranstaltungen und Feste, die generationsübergreifend organisiert werden. Auch lernte ich Vereine kennen, die keine Nachwuchssorgen haben, weil es durch starke Vorbilder gelingt, immer wieder Kinder und