Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke

Auf dem Lande alles dicht? - Mieste Hotopp-Riecke


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passiert eben über Social Media, und wenn ich da selber nicht präsent bin, entgeht mir ein großer Lebensbereich der jungen Leute. In spätestens zwanzig Jahren wird ein Jugendarbeiter, der sich den Social Media verweigert, berufsunfähig sein.

       Welche Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung hat nach Ihrer Erfahrung die aktive Beteiligung von Jugendlichen an jugendkulturellen Aktivitäten?

      Wie heißt es so schön: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Je jünger Menschen ihre Kreativität ausleben und nicht nur zu konsumtrotteligen Couchpotatoes verkommen wie die Mehrheit der Bevölkerung, unabhängig vom Alter, je eher sie lernen und Spaß und Sinn dabei erleben, sich persönlich zu engagieren, desto nachhaltiger bleibt das. Und Jugendkulturen sind eben vor allem Orte des kreativen Engagements, Kompetenztrainings in Teamfähigkeit und Orte des Self-Empowerments, vor allem für Mädchen (die nach wie vor viel mehr Widerstände überwinden müssen, um überhaupt in einer Jugendkultur sein zu dürfen) und anderenorts diskriminierte oder marginalisierte Jugendliche.

       Wie hat sich die Jugendkultur verändert?

      Die Welt ist insgesamt toleranter und bunter geworden; die Unterschiede zur Erwachsenenkultur sind weniger offensichtlich, aber die Jugendkultur gibt es sehr wohl noch. Die heutige Elterngeneration ist inzwischen die, die früher auf Techno-Raves, Metal- und Punk-Festivals, Poetry Slams oder Skater-Events ging. Das Problem ist: Es wird heute scheinbar so gut wie alles toleriert, und trotzdem werden die Freiräume für Jugendliche zunehmend eingeschränkt. In Deutschland, genauso wie in anderen Ländern, werden Jugendliche immer mehr aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Immer mehr Orte werden rein kommerziell definiert und man darf sich dort nur aufhalten, wenn man Geld ausgibt.

       Sind vielleicht deshalb Jugendkulturen im öffentlichen Raum kaum noch sichtbar, sodass viele denken, es gibt sie gar nicht mehr?

      Es gibt heute nicht weniger Jugendkuituren als vor 20 oder 30 Jahren. Sie heben sich nur nicht mehr so stark optisch vom Normalbürger und von anderen Jugendlichen ab.

      Es gibt heute nicht weniger Jugendkulturen als vor 20 oder 30 Jahren. Sie heben sich nur nicht mehr so stark optisch vom Normalbürger und von anderen Jugendlichen ab. Und sie mischen sich mehr untereinander, sodass sie für Außenstehende auch nicht mehr so leicht unterscheidbar sind.

      Aber vor allem werden sie eben auch aus der Öffentlichkeit verdrängt. Das führt letztendlich auch dazu, dass Städte und Gemeinden immer mehr veröden und nicht mehr so spannend sind für andere junge Leute. Der Arbeitsmarkt braucht aber dringend Facharbeiter*innen und Auszubildende, und wenn in einer Stadt oder Region keine Jugendkultur präsent ist, wird diese langweilig und noch mehr junge Leute wandern in die Städte ab, wo noch jugendkulturelle Vielfalt herrscht.

       Wenn die heutigen Eltern toleranter sind, weil sie selbst schon eine „wilde Generation“ waren, gibt es dann für die heutigen Jugendlichen überhaupt noch genug Reibungsfläche?

      Reibungsfläche ergibt sich ja nicht nur durch spießige Kleidung oder Musikgeschmack der Eltern. Da gib?s schon noch genug anderes, wogegen die Jugendlichen rebellieren können. An den Fridays for Future sieht man, wie sich die jungen Leute gegen die Politik und die Wirtschaft der Erwachsenen stemmen, weil diese sehenden Blicks die Zukunft der Jugendlichen zerstören. Jugendbewegungen wie die Fridays, die derzeit von etwa einem Viertel der Jugendlichen getragen werden, werden in Zukunft weiter wachsen, denn die Erwachsenengeneration geht kein bisschen auf die berechtigten Ziele und Forderungen der Jugendlichen ein. Die Frage ist nur: Werden die Jugendlichen irgendwann aufgeben und sagen, „das bringt sowieso nichts“, oder werden sie durch den Schwung der öffentlichen Aufmerksamkeit dazu bewogen, sich noch intensiver und noch radikaler zu engagieren? Damit die Gesellschaft sich verändern kann, müssen die Erwachsenen den Jugendlichen irgendwann entgegenkommen. Die Kinder zum Psychologen zu schicken, weil sie mit den von den Erwachsenen verursachten Depressionen nicht fertig werden und zum Beispiel ihre Schule oder ihr Studium abbrechen, wie es gerade sehr häufig passiert, ist jedenfalls keine Lösung.

       Ist dieser Clash der Generationen nicht in gewissem Grad vorprogrammiert? Weil sich in der Menschheitsgeschichte immer eine jüngere Fraktion, die noch keine große gesellschaftliche Macht hat, und eine ältere, die sich teilweise gerade erst mühsam auf eine Machtposition hochgearbeitet hat und sich jetzt durch die Jüngeren herausgefordert sieht, gegenüberstehen?

      Ich denke auch, dass es dabei nur zum Teil um Inhalte geht, denn die Werte und Lebensziele der Jungen unterscheiden sich kaum von denen der Elterngeneration. Es geht schlicht um Machterhalt und die Weigerung der alten Elite, das Zepter an Jüngere zu übergeben. Das ist nicht nur bei iranischen oder bruneiischen Herrschern so. Nur sagt man es hier nicht so eindeutig. Zum Beispiel haben die drei in Berlin regierenden Parteien SPD, Linke und Grüne alle in ihren Wahlprogrammen gefordert, dass Jugendliche ab 16 wählen dürfen – wie bereits in drei anderen Bundesländern und übrigens auch bundesweit in Österreich. Aber seitdem sie an der Regierung sind, haben sie trotz mehrmaliger Aufforderungen, sogar vom Präsidenten des Abgeordnetenhauses, nichts in diese Richtung unternommen – mit dem Argument, die CDU sei dagegen und deshalb könne man eben nichts machen. Also setzen sie es gar nicht erst auf die Tagesordnung und tun nichts dafür, eine Mehrheit für die Jugendlichen zu gewinnen. Glaubwürdigkeit sieht anders aus. Und dann jammern sie wieder, dass Jugendliche nichts von Parteien wissen wollen, und beschimpfen sie als „unpolitisch“. Nicht nur die Fridays for Future zeigen, dass viele Jugendliche im Gegenteil sehr politisch denken und handeln und gerade deshalb Parteien ignorieren – weil sie wissen, dass sie von dort keine Unterstützung zu erwarten haben. Als der FDP-Chef Lindner damals forsch twitterte: „Hey, Kids, finde ich gut, dass ihr euch engagiert, aber überlasst die komplexen Themen der Politik doch lieber den Experten“, und daraufhin über 12.000 Wissenschaftler*innen in einem Offenen Brief antworteten: „Wir sind die Expert*innen und die Fridays haben Recht in ihren Forderungen, hören Sie auf die Kids, Herr Lindner“, hat die FDP ihre Politik um keinen Millimeter geändert – nur ihre Rhetorik umgestellt. Und der bayerische Ministerpräsident klingt in seinen Reden zum Klimawandel heute schon manchmal so, als sei er heimlich Mitglied der Grünen geworden. Ähnliche Echos erhielten die Fridays von CDU und SPD: Die Bundesregierung lobt in fetten Anzeigenkampagnen ihr eigenes Klimaengagement, verspricht den Kohleausstieg bis zum Jahr 2038 und lässt gleichzeitig ein neues Kohlekraftwerk bauen – dessen Hauptkunde nebenbei die Deutsche Bahn sein wird, die sich ja ebenfalls als Ökobetrieb präsentiert. So dumm ist kein Jugendlicher, dass er nicht den Zynismus und die Doppelmoral der politischen Rhetorik erkennt.

      Die Politik hinkt der gesellschaftlichen Realität schon immer um mindestens ein Jahrzehnt hinterher. Man muss sich nur einmal die Zusammensetzung, aber auch die Sprache und Ästhetik des Deutschen Bundestags ansehen. Der ist eine der letzten Wellness-Oasen alter weißer Männer, die gerne noch länger dort verweilen möchten. Und deshalb aus Opportunismus ihre Politik nur dann als letztes Mittel ändern, wenn sie endlich spüren, dass der gesellschaftliche Gegenwind zu stark für sie wird. Warum sollen sich Jugendliche gemeinsam mit solchen Menschen für irgendetwas engagieren? Deshalb geht es bei den Fridays nicht nur um konkrete Inhalte – sie haben die Machtfrage gestellt.

       Sie haben das Thema Fachkräftemangel angesprochen, das ist hier in Sachsen-Anhalt ebenfalls ein großes Problem. Welchen Beitrag können die Arbeit mit Jugendlichen und die kommunale Jugendpolitik leisten, um die Abwanderung zu bremsen?

      Sicher ist, es reicht nicht, ein paar nette Großevents zu veranstalten, um Jugendliche ans Territorium zu binden. Die Qualität der verbandlichen und kommunalen Jugendarbeit und vor allem -förderung zeigt sich nicht in den „Leuchttürmen“, den Festivals und anderen affirmativen Großevents, sondern darin, wie sie mit dem umgeht, was die Bürgerkultur nicht mag – etwa mit der nicht autorisierten Wiederaneignung des öffentlichen Raums durch Punk, Graffiti, Street Art, Parcours oder andere alternative Gruppen. Bei der Entscheidung, irgendwo hinzuziehen bzw. irgendwo zu bleiben, gibt es harte Faktoren und weiche Faktoren. Die harten Faktoren sind: Gibt es Arbeit, ist sie gut bezahlt, ist sie zukunftsfähig, macht sie Sinn und Spaß? Gibt es bezahlbaren Wohnraum? Ist die Betreuung unserer Kinder durch gute Schulen und ausreichend Kitaplätze gewährleistet? Aber


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