Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke
Angebote für Kinder und Jugendliche? Werden sich unsere Kinder hier wohlfühlen? Das spielt eine Rolle, auch wenn man selbst noch gar keine Kinder hat. Es ist eine wichtige Zukunftsperspektive. Was viele Städte und Regionen mit Fachkräftemangel noch nicht auf dem Schirm haben, ist, dass sich die Leute, bevor sie irgendwo hinziehen, auch über die Jugendkultur und Freizeitsituation für ihre Kinder informieren, nicht nur über das städtische Theater und die klassische Kultur. Denn die Sichtbarkeit von Jugendkulturen ist ein Zeichen für Toleranz und Diversität. Ob es uns gefällt oder nicht, ob zu Recht oder zu Unrecht: Menschen aus Westdeutschland und erst recht aus anderen Ländern teilen aufgrund der starken Präsenz rechtsextremer und rechtspopulistischer Strukturen und Haltungen eine große Skepsis gegenüber Sachsen-Anhalt und den anderen neuen Bundesländern. Hier liegt die Beweislast bei den Ländern, Städten und Gemeinden, nachzuweisen, dass auch Fremde sich dort sicher und wohl fühlen können und Vielfalt ausdrücklich gewünscht ist. Aber auch für die Wiederkehrer*innen, also für Jugendliche, die aus einer ländlichen Gegend abwandern und später wieder dorthin zurückkommen, ist ein entscheidender Faktor, wie die Antwort auf die Fragen ausfällt: „Hab ich mich als Jugendlicher dort überhaupt wohlgefühlt? Hatte ich das Gefühl, willkommen zu sein und mich ausleben zu dürfen?“
Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Fehler, die von Behördenseite im Umgang mit Jugendlichen gemacht werden – oder positiv gefragt: Was könnte verbessert werden?
Die Verdrängung von Jugendlichen aus dem öffentlichen Raum muss unbedingt gestoppt werden. Es gibt für Jugendliche immer weniger öffentliche, frei zugängliche und unverzweckte Räume, also Räume ohne vorab festgelegte Funktionserwartungen und pädagogische Betreuung. Die Alltagsund Lebenswelten von Jugendlichen werden zusehends funktionalisiert, verdichtet, kommerzialisiert und der öffentlichen Überwachung unterworfen. Das negative Jugendbild wird deutlich stärker mit repressiven Forderungen aufgeladen – natürlich alles „im Interesse der Jugend“. Der Jugendschutz wird immer mehr zur Waffe gegen die Jugend. Die Jugend muss geschützt werden – ob sie es nun will oder nicht. Pädagogisch und jugendschützerisch verbrämt werden jugendliche Freiräume immer weiter eingeschränkt. Jugend heute ist von einem „pädagogischen System fürsorglicher Belagerung umstellt“, wie es der Jenaer Professor für Sozialwesen Werner Lindner auf einer Fachtagung formulierte. Das ausufernde Präventionsdenken in unserer Gesellschaft stattet sich mit immer rigideren Kontrollwünschen aus. Siehe etwa die flächendeckende Überwachung des städtischen Raums, vor allem der künstlichen Einkaufszonen, mit Kameras und privaten Sicherheitsdiensten, die besonders auf Jugendliche angesetzt werden, die polizeilichen Sonderkommandos in zahlreichen Städten z.B. gegen Graffiti-Sprayer, die Verschärfung von Jugendschutz- und Jugendstrafgesetzen. So wurde beispielsweise in Deutschland der § 66 StGB innerhalb der letzten 15 Jahre sechs Mal verschärft, obwohl die Zahl jugendlicher Straftäter in der Zeit immer weiter sank. Hier wäre der Politik und den ausführenden Behörden dringend zu empfehlen, diese Eskalationsspirale des prinzipiellen Misstrauens gegenüber der Jugend nicht weiter hochzusteigen.
Sie sagten, für die Jugendarbeit sei es wichtig, dass die Jugendlichen mit eingebunden werden in die Kommune. Wie könnte das konkret aussehen?
Die Jugendlichen sollten das Stadtbild mitgestalten dürfen. Es gibt schon in manchen Kleinstädten Programme für Jugendarbeit, wo den Jugendlichen ganze Häuserwände auf öffentlichen Plätzen oder sogar Busse des öffentlichen Nahverkehrs zur Verfügung gestellt werden, um sie zu gestalten. Das Stadtbild wird dadurch sicher bunter und die Jugendlichen fühlen sich willkommen und eingebunden. Warum sehen die meisten unserer Schulen so lebensfeindlich, kalt und unfreundlich aus? Warum lässt man nicht die Schüler*innen gemeinsam mit Expert*innen, z.B. Innenarchitekt*innen, neue Gestaltungsformen finden für Räume, in denen Schüler*innen wie Lehrer*innen immerhin fast die Hälfte ihrer täglichen Lebenszeit verbringen müssen? Es gibt inzwischen, zum Beispiel in Baden-Württemberg, das Recht der Jugendlichen, bei allen kommunalen Entscheidungen, die sie betreffen, angehört zu werden. Es gibt viele Ideen, wie Kommunen jugendliche Partizipation jenseits der traditionellen Jugendbeiräte und -parlamente kreativ und wirksam gestalten können. Oft fehlt nur der Wille, zur jugendfreundlichen Stadt zu werden. Es ist wie beim Klimawandel: Der Problemdruck ist da, wird aber von vielen Verantwortlichen ignoriert und geleugnet, obwohl die Folgen der Ignoranz allerorts spürbar sind. Denn Politikmüdigkeit, Rechtspopulismus usw. entstehen bei Jugendlichen wie bei ihren Eltern vor allem aus dem Gefühl heraus: Ich habe keinen Einfluss auf meine Umwelt. Ich bin nicht gefragt. Keiner legt hier Wert auf meine Meinung.
Daraus entstehen oft Trotzreaktionen, die kontraproduktiv sind. Man muss den jungen Menschen ermöglichen, sich einzubringen und ihre Lebenswelt zu beeinflussen, ihnen zeigen, dass ihre Stimme zählt. Jugendliche sollten so oft wie möglich beteiligt und gefragt werden und die Möglichkeit bekommen, in der eigenen Stadt Präsenz zu zeigen. Sie sollten zeigen dürfen: Wir sind hier, wir leben auch in dieser Stadt, dies ist auch unsere Gemeinde.
Und damit es kein einmaliges Strohfeuer wird, sondern die Stadt oder die Region nachhaltig verändert, sollten sich Städte und Landgemeinden selbst verpflichten, eine jugendfreundliche Stadt bzw. Gemeinde zu werden, und entsprechend „Runde Tische für eine jugendfreundliche Stadt“ starten, bei denen sich Politik, Verwaltung, Schule, Polizei, Verbände, Vereine, Kultureinrichtungen, Jugendarbeit, Wirtschaft und Jugendliche regelmäßig treffen und an dem Thema arbeiten.
Viele Jugendliche sind bereits in einem oder mehreren Vereinen. Hat hier die Jugendarbeit trotzdem eine Chance, etwas weiterzubringen?
Ja, das Zeitbudget von Jugendlichen wird immer enger, manche junge Leute haben schon einen Terminkalender wie ein Abgeordneter. Umso mehr brauchen Jugendliche aber auch einen Freiraum, wo sie nichts Sportliches, Musikalisches oder sonst etwas für ihren weiteren Karriereweg Sinnvolles leisten müssen. Einen Ort, wo sie einfach nur zusammen sein, sich austauschen und entspannen können. Das kulturelle Engagement rund um die Jugendarbeit garantiert Vielfalt, sodass man zum Beispiel sowohl in der Gemeindekapelle als auch in der Metal-Band spielen kann. Das ehrenamtliche Engagement im Verein ist sehr wichtig und positiv für die Jugendlichen, aber oft auch sehr hierarchisch aufgebaut. Das heißt, die Jugendlichen dürfen sich zwar einbringen, aber das Sagen haben meistens ältere Männer, die seit Jahrzehnten den Verein führen und entscheiden, wo und wie genau die Jugendlichen sich engagieren dürfen, und nicht bereit sind, auch nur einen Millimeter ihrer Macht abzugeben. Genau deshalb braucht es auch die Offene Jugendarbeit, wo eine andere Mentalität herrscht.
Wo soll es hingehen mit den Jugendkulturen? Was wünschen Sie sich von den jugendlichen Aktivist*innen?
Nichts anderes als das, was sich alte Säcke schon immer von „der Jugend“ wünschen: Sie mögen endlich mal wieder mehr rebellieren. Denn dass die Welt, wie wir sie den Jungen hinlegen, zum Teil erbärmlich ist – Bienen sterben aus, Banken und Autokonzerne erhalten Milliarden geschenkt, aber für die Renovierung maroder Schulen ist kein Geld da; Menschen verhungern oder leben unter der Armutsgrenze, während Konzerne wie Apple, Google, McDonal?s, Amazon oder Starbucks in Deutschland Milliarden umsetzen, ohne darauf Steuern zu zahlen usw. -, dürfte klar sein. Aber: Die Jugend selbst, so engagiert sie auch sein mag, hat keine Chance, dies zu ändern. Sie braucht Bündnispartner bei den älteren Generationen. Auch eine Jugendarbeit, die nicht zur bloßen Pädagogik und PR-Show ger*innen will, wird verstärkt intergenerative Lobbyarbeit betreiben und sich politisieren müssen.
Gibt es heute ein Patentrezept für Eltern, damit ihre Kinder „auf den richtigen“ Weg kommen?
Kein neues, aber ein nach wie vor wirkmächtiges altes: Respekt, Anerkennung, „Kinder stark machen“, wie ein alter pädagogischer Leitsatz heißt. Selbstbewusste Menschen müssen nicht andere erniedrigen, um sich zu erhöhen, und nur wer sich selbst schätzt und mag, ist auch in der Lage, Empathie für seine Mitmenschen zu entwickeln. Leider haben immer noch sehr, sehr viele Jugendliche wenig Anlass und Chancen, Selbstbewusstsein zu erwerben. Während die Armut