Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke
häufig, jeder wisse, was er zu tun habe. Es besteht also Routinewissen.
Dieses Wissen, mit dem wir auch unseren Alltag bestreiten, erleichtert Abläufe und regelt Verantwortlichkeiten. Es verweist auf die unproblematischen Seiten der Lebenswirklichkeit.13 Bildungsinitiativen sollten danach fragen, was vor Ort gut funktioniert und von den Erfahrungen und Netzwerken der Akteur*innen profitieren.
Dann lässt sich im nächsten Schritt erkunden, ob dieses Routinewissen auf weitere Aktivitäten übertragbar ist. Um Routinen und kulturelle Praxen zu erlernen, braucht es zuverlässige Angebote. Gerade angesichts der Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels sind Kontinuitäten notwendig. Es gilt, den einheimischen und ankommenden Menschen, die vor Ort an einer offenen und lebendigen Gesellschaft arbeiten, Wertschätzung entgegenzubringen und ihnen zuverlässig zur Seite zu stehen. Denn wir haben es in der Hand, welche Bedeutungen der Heimatbegriff in Zukunft transportieren wird.
Wir danken der kubi-Redaktion und Dr. Juliane Stückrad für die Nachdruckgenehmigung. Erstveröffentlicht in: kubi. Magazin für Kulturelle Bildung, Nr. 16 „Heimat – der rechte Begriff?“, Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Berlin 2019, S. 6–11
Literatur
Bausinger, Hermann: „Heimat und Identität“, in: Moosmann, Elisabeth (Hrsg.): Heimat. Sehnsucht nach Identität. Berlin 1980, S. 13–29, hier S. 13–22.
Bausinger, Hermann et al. (Hrsg.): Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1989, S. 205–210.
Bormann, Regina: Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortungen kultureller Prozesse. Opladen 2001, S. 304.
Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld 2016.
Danielzyk, Rainer/Krüger, Rainer: „Region Ostfriesland? Zum Verhältnis von Alltag, Regionalbewußtsein und Entwicklungsperspektiven in einem strukturschwachen Raum“, in: Lindner, Rolf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Frankfurt/Main, New York 1994, S. 91–121, hier S. 115.
Gottowick, Volker: Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Präsentation. Berlin 1997, S. 136, 334.
Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt/Main 1972, S. 48.
Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines philosophischen Problems. Frankfurt/Main 2005, S. 22–23.
Köhle-Hezinger, Christel: „Kulturen der Landschaft – Kulturen der Heimat. Regionale Kulturen“, in: Welch Guerra, Max (Hrsg.): Kulturlandschaft Thüringen. Weimar 2010, S. 96–117, hier S. 103–104.
Ploch, Beatrice/Schilling, Heinz: „Region als Handlungslandschaft. Überlokale Orientierung als Dispositiv und kulturelle Praxis: Hessen als Beispiel“, in: Lindner, Rolf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Frankfurt/Main, New York 1994, S. 122–157, hier S. 124.
Stückrad, Juliane: „Ich schimpfe nicht, ich sage nur die Wahrheit.“ Eine Ethnographie des Unmuts am Beispiel der Bewohner des Elbe-Elster-Kreises im Süden Brandenburgs. Kiel 2010, S. 165.
Stückrad, Juliane: Verantwortung, Tradition, Entfremdung. Zur Bedeutung von Kirche im ländlichen Raum. Eine ethnographische Studie in drei Dörfern im Gebiet des Regionalkirchenamtes Leipzig. Kohrener Schriften 2. Großpösna 2017, S. 26.
1S. Stückrad 2017, S. 26.
2Vgl. Costadura/Ries 2016.
3S. Köhle-Hezinger 2010, S. 103 f.
4S. Bausinger 1980, S. 13–22.
5S. Bormann, S. 304.
6S. Ploch/Schilling 1994, S. 124.
7S. Greverus 1972, S. 48.
8S. Stückrad 2010, S. 194.
9S. Bausinger 1989, S. 205–210.
10 S. Jaeggi 2005, S. 22 f.
11 S. Gottowick 1997, S. 136, 334.
12 S. Jaeggi 2005, S. 168.
13 S. Berger/Luckmann 2003, S. 44 f.
Jugend auf dem Land – Reiten, Feuerwehr und Bushaltestelle?
Ein Gespräch mit Dr. Frank Tillmann, Deutsches Jugendinstitut
Den ländlichen Raum gibt es nicht. Die Lebensbedingungen von Jugendlichen allerorten sind unterschiedlich. Die Frage nach der Benachteiligung durch den ländlichen Raum lässt sich dennoch definitiv mit ja beantworten. Abgesehen von ihren politischen Mitsprachemöglichkeiten, die von ihrer Altersgruppe in der Stadt als gleichermaßen schlecht bewertet werden, fühlen sich Jugendliche in ländlichen Räumen bei verschiedenen Fragen, die ihnen bezüglich ihres Herkunftsortes wichtig sind, benachteiligt.
Wie gestalten junge Menschen ihre Freizeit, was bewegt und beschäftigt sie?
Eine wichtige Entwicklungs aufgab e im Jugendalter ist die Ablösung vom Elternhaus und der Aufbau eigener sozialer Netzwerke. Von Gleichaltrigen natürlich, auch um sich der Erwachsenenwelt zu entziehen. Es geht darum, sich selbst zu finden, Vorlieben, Abneigungen, eigene kulturelle Ausdrucksformen zu entdecken. Die Freizeit ist der Raum, in dem das möglich wird.
Welches Bild von Jugend haben die jungen Menschen selbst?
Sie sehen sich durchaus als benachteiligte Interessengruppe. Sie haben das Gefühl, als Bevölkerungsgruppe nicht ernst genommen zu werden. Sie sehen auch, dass Altersgruppen um Ressourcen konkurrieren und verstehen nicht, warum Seniorenbegegnungsstätten aufgebaut und Jugendclubs geschlossen werden, sie noch dazu an öffentlichen Plätzen nicht geduldet werden. Das verstärkt sich im ländlichen Raum, weil da die Interessengegensätze zwischen den Generationen deutlicher werden angesichts der knappen Ressourcen oder des demografischen Wandels, der in Städten nicht so auffällt, selbst wenn er stattfindet.
Wie erleben junge Menschen das Leben in ländlichen Regionen?
Jugendliche hier sehen sich Vereinzelungstendenzen gegenüber. Wenn sich das Image eines Landkreises verschlechtert, dann sehen auch die Jugendlichen keine Perspektiven mehr für sich. Es kommt zur Abwanderung. Dann finden sie in ihrem Dorf oft keine Gleichaltrigen mehr, die eine wichtige Referenzgruppe für die benannten Entwicklungsaufgaben sind. Oder wenn, dann ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass sie gemeinsame Interessen teilen. Die möglichen Treffpunkte werden immer weniger, Jugendclubs werden geschlossen. Und was die Freizeit betrifft: Sie schrumpft bei Fahrtwegen zwischen Schule und Wohnort von bis zu zwei Stunden täglich und mehr auf ein Minimum zusammen.
Welche Faktoren bezüglich ihrer ländlichen Herkunftsregionen sind Jugendlichen wichtig?