Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke
identifizieren können, beispielsweise die Beschäftigungsperspektive: Welche Einkommensmöglichkeiten habe ich, kann ich meinen Wunschberuf hier ausüben? Dann eine weiterführende Bildung: Welche Anschlüsse habe ich hier an die Schule? Diese beiden Faktoren sind es vor allem, die entscheiden, ob sie ihren Heimatkreis verlassen. Grundsätzlich haben Jugendliche eine hohe Identifikation mit ihrer Herkunftsregion. Wenn, dann gehen sie häufig nur als Zugeständnis an ihre berufsbiografische Entwicklung oder in selteneren Fällen, wenn sie sich Freiheitsgewinne versprechen, weil der höhere Konformitätsdruck ihrer persönlichen Entwicklung im Wege steht.
Wie steht es um Freizeitangebote?
Wir konnten feststellen, dass Mädchen in den von uns untersuchten Landkreisen ein geringeres Angebot vorfinden, das mit Karnevalsvereinen und Reiten noch dazu sehr mit Geschlechterklischees behaftet ist. Den Jungs wird nahegelegt, sich bei der örtlichen Jugendfeuerwehr zu engagieren oder dann später im Schützenverein. Da ist kaum Angebotsvielfalt zu erkennen.
Das Angebot der Jugendarbeit ist natürlich ein wichtiger Faktor. Wir konnten feststellen, dass Mädchen in den von uns untersuchten Landkreisen ein geringeres Angebot vorfinden, das mit Karnevalsvereinen und Reiten noch dazu sehr mit Geschlechterklischees behaftet ist. Den Jungs wird nahegelegt, sich bei der örtlichen Jugendfeuerwehr zu engagieren oder dann später im Schützenverein. Da ist kaum Angebotsvielfalt zu erkennen. Natürlich wollen sich Jugendliche auf dem Land auch mit Gleichaltrigen treffen oder an anderen Orten Freizeitangebote aufsuchen. Weil diese physischen Gesellungsformen wegen der eingeschränkten Mobilität aber nicht so einfach verfügbar sind, ist es umso wichtiger, sich in sozialen Netzwerken zu begegnen und dort virtuelle Räume zu haben. Andere Freizeitmöglichkeiten konfrontieren die Jugendlichen oft mit widersinnigen Bedingungen, wenn sie z.B. in ihr Schulgelände einbrechen bzw. über einen Zaun klettern müssen, um die Sportstätten nach Schulschluss nutzen zu können, obwohl die Schule in vielen ländlichen Orten die letzte öffentliche Institution ist. Oder Öffnungszeiten von Jugendclubs, wenn es sie überhaupt noch gibt: Gerade dann, wenn Jugendliche Zeit haben, nämlich am Wochenende, sind die Jugendfreizeiteinrichtungen in der Regel zu.
Benachteiligung und Vereinzelung – Wie bewältigen Jugendliche das?
Hier wird viel übers Internet kompensiert, durch soziale Netzwerke und Unterhaltungsmedien wie Online-Spiele. Der Breitbandausbau im Land ist aber noch sehr rückständig. Ansonsten organisieren sie sich schon ihre eigene Mobilität, lassen sich von Freunden abholen. Auch nicht motorisierte Mobilität, sprich Fahrrad, ist ganz wichtig.
Welche Möglichkeiten zur Teilhabe und Partizipation werden jungen Menschen in ländlichen Räumen geboten?
Viele Landkreise geben sich große Mühe. Oft kommen den Jugendlichen aber die Errungenschaften, die sie durch zähe Verhandlungen erzielen, selbst gar nicht mehr zugute, weil sie dann in einer anderen Lebensphase sind. Und weil die Formate überhaupt nicht jugendorientiert sind, z.B. formalisierte Gremienarbeit, wollen sich nicht so viele beteiligen. Das ist ein doppeltes Dilemma. Gleichzeitig unterschätzen Politik und Verwaltung die Beteiligungsbedürfnisse der Jugendlichen. Es ist absolut unzutreffend, dass sie nur daddeln und in Ruhe gelassen werden wollen. Die Entscheider*innen haben außerdem ein Problem damit, wenn Macht und Verantwortung auseinanderfallen und so ist das tendenziell bei Jugendbeteiligung: Jugendliche haben Mitspracherechte, müssen aber beispielsweise für Budgetentscheidungen nicht selbst geradestehen. Für Entscheidungsträger*innen ist das oft ein Grund, sich davor zu hüten, Macht abzugeben.
Was müsste passieren?
Jugendliche brauchen schnelle Erfolgserlebnisse, wenn es um Partizipation geht. Sie müssen Selbstwirksamkeit erfahren. Sie wollen wissen, was aus ihrer Stellungnahme geworden ist, egal ob erfolgreich oder nicht. Wir empfehlen in solchen Beteiligungsverfahren, mehr auf e-Partizipation umzustellen, weg von der klassischen Gremienarbeit. Jugendliche aus einem ländlichen Raum haben mir mal geschildert, sie suchen einfach einen Ort, den sie nach ihren Vorstellungen gestalten können, ob Jugendraum oder Schrebergarten ist dabei nicht so wichtig. Wichtig ist, dass nicht alles vorgegeben ist. Letztlich ist es auch an der Zeit, mehr in eine Art aufsuchende Partizipation einzutreten, weil eben die herkömmlichen Beteiligungsformate für Jugendliche einfach nicht passen oder zu hochschwellig sind.
Wir danken der kubi-Redaktion und FrankTillmann für die Nachdruckgenehmigung. Erstveröffentlicht in: kubi. Magazin für Kulturelle Bildung, Nr. 18 „Land – alles oder nichts!?“ Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Berlin 2020, S. 56–59. Das Interview wurde geführt und verfasst von Susanna M. Prautzsch.
Engagementförderung und Demokratiestärkung in ländlichen Räumen – Was sagt die Forschung?
Janine Dieckmann
Christine Eckes
Wissenschaftliche Publikationen und Studien zu Engagement im ländlichen Raum gibt es viele. Doch bisher fehlte es an einem systematischen Blick auf die vorhandenen Ergebnisse der Engagementforschung. Um den aktuellen Stand der Forschung zusammenzufassen, gab das BBE 2018 eine Literaturanalyse zum Themendreieck ‚Engagementförderung – Demokratiestärkung – Ländlicher Raum’ in Auftrag (gefördert vom BMFSFJ im Rahmen des Bundesprogramms Demokratie Lebenty. Mit der Durchführung wurde das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) betraut. In die Literaturanalyse wurden 60 Studien der letzten zehn Jahre einbezogen, die sich mit bürgerschaftlichem Engagement und/oder Demokratiestärkung in ländlichen Räumen befassen. Die Literaturanalyse umfasst eine Zusammenstellung der Hauptergebnisse der Studien sowie die Identifikation von Forschungslücken im Bereich der Engagementforschung.
In der Zusammenschau aller Studien ergaben sich vier Themenschwerpunkte, welche in diesem Beitrag kurz beleuchtet werden: (1) die Bedeutung des Strukturwandels ländlicher Räume für Engagement, (2) das Problem der genauen Begriffsdefinitionen, (3) die fördernden und hemmenden Faktoren für Engagement sowie (4) demokratiestärkende Gegenmaßnahmen in Bezug auf Engagement gegen rechtsradikale Einflüsse und Strukturen. Die gesamte Literaturanalyse sowie die dazugehörige tabellarische Übersicht über die Ergebnisse der analysierten Einzelstudien sind online zugänglich.1
Bedeutung des Strukturwandels ländlicher Räume
Rahmend für die Entwicklung von Engagement (-strukturen) ist der Strukturwandel ländlicher Räume, der maßgeblich durch den demografischen Wandel bestimmt wird. In den meisten Studien stellt er den Ausgangspunkt für die jeweilige Untersuchung dar.
Die Zentralisierung wirtschaftlicher Aktivitäten in größeren Städten spielt hierbei eine wichtige Rolle: Junge Menschen wandern in Städte ab, da sie dort Bildungsstätten und Arbeitsplätze finden. Vereine, die eine tragende Rolle für das Engagement in ländlichen Räumen spielen, verschwinden. Gleichzeitig verliert die Kirche als traditionelle Trägerin vieler Aktivitäten an Bedeutung. Auch der Um- bzw. Rückbau sozialstaatlicher Aktivitäten in ländlichen Räumen und der Verlust der damit verbundenen Daseinsvorsorge spielen hierbei eine erhebliche Rolle (z.B. Schließung von Schwimmbädern, Schulen, Kindergärten; Mitgliederschwund in Vereinen und freiwilligen Feuerwehren; Verschlechterung des öffentlichen Nahverkehrs). Die abnehmende Gewährleistung der Daseinsvorsorge durch den Staat birgt die Gefahr, dass bürgerschaftliches Engagement immer mehr in die Verantwortung gezogen wird: Engagierte sollen dort einspringen, wo der Staat sich zurückzieht. Doch große Teile der neueren Engagementforschung warnen: Engagement kann nicht als beliebig verwendbare Ressource betrachtet werden und den Rückbau staatlicher Infrastruktur ausgleichen.
Das bürgerschaftliche Engagement im ländlichen Raum steht durch demografische und infrastrukturelle Veränderungen vor neuen Herausforderungen und verändert sich: Um entstandene Versorgungslücken und fehlende kulturelle Angebote zu kompensieren, bilden sich einerseits gemeinwohlorientierte Zusammenschlüsse und Hilfsstrukturen, die beispielsweise zum Ziel haben, neue Orte der Begegnung zu schaffen oder die Teilhabe älterer Menschen