Der Engel mit den Eselsohren. Otto Rung
rechts von der Tür. Sanders duckte sich demütig: An dem Haken hatte er eines Morgens vor jetzt fünf Jahren den alten Buchhalter des Bureaus — den er mit Kummer wegen groben Betrugs verabschiedet hatte — erhängt gefunden, die blauschwarze Zunge zum Munde herausgestreckt und ein Plakat an den Gehrock geheftet mit der Aufschrift: „Henker!“
Seither pflegten die Schreiber, wenn der Chef nicht gefügig war, anhaltend nach dem Haken zu starren, der bis auf weiteres unbesetzt geblieben war. Und Sanders hängte nicht einmal mehr seinen Hut an den Haken, sondern musste sein Überzeug aufs Sofa legen, was äusserst unbequem war, wenn Rechtsanwälte zu Besuch kamen. —
Als Sanders um zwei Uhr gehen wollte, regnete es in Strömen. Er hatte seinen Schirm vergessen und fürchtete den eisigen Blick seiner Schwester, wenn er durchweicht zu Hause ankäme. Nun befand sich zwar im Assistentenbureau ein herrenloser Schirm, der allgemein vom Personal gebraucht wurde. Aber die Assistenten duldeten nicht, dass die Vorgesetzten ihn nahmen — die waren wohlhabend genug, um ihre eigenen besitzen zu können! —, und zurzeit war er dem jüngsten Assistenten, Mortensen, vorbehalten, der jung verheiratet war und seinen Überzieher deshalb schonen musste.
Zu allem Glück war das Assistentenbureau — ganz gegen die Instruktion — leer, und Sanders schlich sich an den grossen Wandschrank am Fenster, wo Korpus delikti von Strafsachen verwahrt wurden. Er wühlte nervös in dem staubigen Haufen zwischen Messerstecherdolchen, Beilen — noch mit Blutspuren —, Schlüsseln und bekam den Schirmgriff zu fassen. Er wurde vom Personal der „Mörderschirm“ genannt, weil ein Zigarrenhändler en gros ihn in einer finsteren Nacht in berauschtem Zustand seinem besten Freunde ins Auge gejagt hatte.
Sanders hielt den Schirm auf dem Rücken, als er die Schreibstube passierte. Sie hätten es leicht Herrn Mortensen wiedersagen können. Das Kind sass noch auf seinem Pultplatz, die Reinmachefrau des Bureaus war gerade dabei, den Kleinen aus einer Sahnekanne zu füttern, die auf einem rotlackierten Teebrett stand — dem, worauf Sanders immer selbst der Tee serviert wurde. Auch für Arrestanten, die ein Geständnis abgelegt hatten und daher Kaffee und Kuchen verdienten, wurde es gebraucht; nur die Referendare hatten ihre eigenen. In das Teebrett war mit einem Nagel geritzt: „Gruss vom Nachtkuckuck an den Granatenkönig. Warte zwei Jahre auf den Zwang!“ — Sanders seufzte; ihm schien, dass es ihn und das kleine Kind einander näherbrachte: Sie assen vom selben Teebrett!
Er ging in seinen Gummischuhen so lautlos wie möglich durch den Botenraum, um die Boten nicht zu stören, die wie steinerne Götzen vor einer Pagode unbeweglich auf ihren Rohrstühlen sassen. Er kannte ihr kritisches Starren, besonders an Tagen, wenn von höherer Stelle aus dem Bureau eine Nase wegen Saumseligkeit in einer Sache erteilt war.
Er eilte durch die langen Korridore des Gerichtsgebäudes. Über den fliesenbelegten Boden floss Strassenschmutz und ausgespiener Kautabaksaft. Die Filztüren der Strafkammer glitten wollig auf und zu, aus den Zellenschränken ertönte das schnelle Klopfen von den Knöcheln der Gefangenen an die Holzwand, ein Geräusch wie von pickenden Würmern. Arrestanten, je zwei im selben Handeisen, kamen in klappernden Holzschuhen durch den fliesenbelegten Gang, durch Zungenschnalzen vorwärts getrieben von dem kleinen o-beinigen Zellenwärter Carlsen.
Sanders kämpfte sich heim durch Regen und Windstösse.
Das Bild des kleinen fremden Kindes stand beständig vor seinen Gedanken. Das quälte ihn. Er vermied es am liebsten, Eindrücke aus dem finsteren Gerichtshause mit heimzunehmen. Bei jedem Schritt heimwärts war es, als schälte er sich eine Lage Schmutz vom Rücken ab. Das Kind aus der fünften Kammer wurde er jedoch nicht los. Es war aber auch ein hübsches und nicht ganz gewöhnliches kleines Kind. Seine Schwester, die Kinder ja so sehr liebte, hätte es sehen sollen! —
Die Tür zur fünften Kammer hatte gerade offen gestanden, als er vorbeikam. Er hielt den Atem an bei dem säuerlichen, faden Geruch der Diebesbeute, die wie in einem Trödlerladen mitten auf dem Fussboden des Vorzimmers aufgestapelt war: rostige Fahrräder, Kinderwagen, alte Betten und eine Lawine von Herrenstiefeln, die über ein altes Grammophon ausgeschüttet waren.
Und auf der Arrestantenbank an der Wand sass eine Frau, die, das war ihm klar, Schwester Sylvia sein musste. Sie war klein, fein und zart, aber die gürtellose Schirtingtracht verlieh ihrem Körper Umfang und Fülle. Das Haar lag glatt um die schmalen, weissen Wangen, die Hände ruhten schlaff auf ihren Knien, der Blick war bewusstlos, die Lippen leicht getrennt. Sie glich einer kreissenden Madonna.
Das Verhör Schwester Sylvias hatte nur geringe Ergebnisse. Als Kammerjunker Sanders und seine Schwester sich entschlossen, den Knaben zu sich zu nehmen, gingen sie die Akten durch, um alle Aufschlüsse, namentlich über seine Herkunft, zu sammeln. Aber das einzige, was der Untersuchungsrichter aus der Arrestantin herausbekommen hatte, war, dass er Ejgil hiess. Ihre Antworten waren ohne Zusammenhang, allmählich versank sie in Stumpfsinn und wurde schliesslich als verrückt in öffentliche Fürsorge gebracht.
Über diese Tatsachen hinaus lagen nur Vermutungen vor.
Das Asyl lag auf einer unbebauten Gemeindewiese am äussersten Ende von Nörrebro. Stapelplätze für Bauholz und Blechabfälle umgaben auf allen Seiten die baufällige Holzvilla, die der Rest eines alten Landgutes und im Jahre 1830 von dem Besitzer, Generalmajor von Gadebusch, als Heim für Waisen und verwahrloste kleine Kinder geschenkt war.
Die Bewohner der neuen Häuser, die in den letzten Jahren auf dem Grunde der Gemeindewiese entstanden waren, hatten längst die finstere Villa scheel angesehen, deren Schornsteine sich undeutlich über einem wild gewachsenen Garten abhoben. Sie wussten, dass es ein Asyl war, aber nie sah oder hörte man spielende Kinder. Totenstille herrschte stets über der Stätte, nur hin und wieder ertönte das jaulende Gekläff der grossen Hofhunde, die offenbar auf dem Holzplatze eingesperrt waren. Des Nachts hörte man ihr Heulen rings über das öde Terrain.
Aber die Vorsteherin hatte man beobachtet, wenn sie ganz früh am Morgen ausging, mit dichtem Schleier vor dem Gesicht und in langem schwarzen Mantel. In der Hand trug sie stets eine grosse Tasche aus Wachstuch. Es wurde später bekannt, dass sie die Schlachter in den fernsten Stadtteilen, ja selbst die Buden des Viehmarktes besucht und immer Abfallfleisch, Eingeweide oder grosse Knochen gekauft hatte.
Auch der patrouillierende Schutzmann hatte die auffallende Stille im Garten des Asyls bemerkt, der durch einen Lagerplatz vom Wege abgeschnitten war. Nur ein Steig führte zwischen zwei Zäunen zu einer geschlossenen Plankenpforte. Aber die Polizei hatte kein Aufsichtsrecht, da das Asyl unter der privaten Pflegschaft von dem Enkel des Gründers, Jagdjunker von Gadebusch, einem reizbaren Sonderling, stand, der in äusserster Zurückgezogenheit lebte. Erst nach seinem plötzlichen Tode fand die Polizei Anlass zu einer Besichtigung.
Zeugen erhellten im Verhör eine Reihe von Punkten aus Schwester Sylvias Vergangenheit, als sie zuerst Lehrling, später Pflegerin im grossen staatlichen Krankenhaus war. Man erinnerte sich ihrer: blond, sicher und lächelnd in der gebleichten Leinentracht, wie ein Hauch von Sonne und Salz, der durch den Karboldunst der Abteilung fuhr. Ihr Arm, der den Kopf der Patienten stützte, war frisch wie ein Büschel Klee. Sie war den jungen Assistenten ein kecker, munterer Kamerad, und wenn der gefürchtete Chefarzt, der berühmte Chirurg Professor Israel, operierte, war Schwester Sylvia die Aufgabe anvertraut, ihm die beiden Zipfel seines langen Bartes mit einer Pinzette im Nacken zusammenzuheften — mit Rücksicht auf sein Dejeuner, wie er sagte.
Sie erhielt die Stellung als Leiterin des Asyls, weil sie von allen wegen ihres reichen, aufopfernden Gemüts gelobt wurde.
Das Asyl war vernachlässigt. Die Pflegemutter war eine korpulente ältere Frau in grossgeblümtem Kattun gewesen; sie sass unter einem Apfelbaum und strickte Kinderjäckchen, liebenswürdig und schläfrig, zahnlos schmatzend nach dem Genuss des Gläschens Johannisbeerschnaps, das sie allstündlich genoss.
Aber für Schwester Sylvia war das Asyl der Garten des Paradieses selbst, als sie jetzt im Spätsommer zum erstenmal über die grünen Rasenplätze sah, wo die wilden Blumen munter hervorguckten und die Säuglinge des Asyls, aus ihren Korbwiegen genommen, auf wollenen Decken in der Sonne lagen. Ach, viele von ihnen waren mager und blass, mit Insektenstichen am ganzen Körper, aber sie zappelten froh und lachend, wenn sie sie in ihren Armen einlullte. Sonnenblumen nickten von den schwarzerdigen