Der Engel mit den Eselsohren. Otto Rung
sah auf, sie war plötzlich verstimmt; das alte Märchen erschien ihr auf einmal leichtfertig, es handelte nur von einer Prinzessin, die von einem Prinzen geküsst wurde, und einem Schuh, der für die meisten Füsse zu klein war. Ihr eigener Fuss war gross, wenn auch schmal und mit hohem Spann. Dies Märchen eignete sich kaum für Kinder, und andere zu lesen, war ihr zu langweilig. Kinder sollten etwas hören, das lehrreich und gesund war. Sie begann zu erzählen: von der Erschaffung der Welt in den sieben Tagen und der Arche Noah mit allen Tieren der Erde; erst zuletzt — nicht ohne Bedenken — von Adam und Eva.
Aase ging zur Schule, kannte die Geschichte gut, hörte zu, ein wenig eingebildet auf ihr Wissen, nur unzufrieden, dass Eva keine Kleider hatte, weder aus Sonnenschein oder Mondschein genäht — noch aus Tüll mit kleinen Blumen, wie das Kleid, das sie kürzlich in einem grossen Geschäft in der Hauptstrasse gesehen hatte. Ejgil hing apathisch, die langen Glieder in allen Gelenken gelöst, auf dem Stuhl wie ein Spielzeugbajazz aus Stoff. Seine Miene war höflich und ein wenig müde.
Veronika schlug das Buch zu: „Geht hinein und spielt mit Ursel!“
Sie war böse auf den Knaben. Immer fühlte man seinen Widerstand, selbst wenn er schwieg. Sie war nervös. Wenn der Knabe in der Nähe war, spürte sie, wie einen Durst, sie wusste nicht worauf, einen seltsamen Hang, der qualvoll in ihrer Brust brannte — als ob eine Hand dreist, aber leise über ihre Haut strich, und sie wurde bange. Wenn sie den Knaben dicht an ihre Brust gezogen hätte, es würde nicht gelindert haben, ausserdem war es nicht hygienisch für Kinder, wenn man sie küsste. Das wusste der Knabe gut und war zudem streitsüchtig, schlug um sich, als ihn eine fremde Dame kürzlich bei einem Besuch um den Hals nahm. Veronika hegte auch keinen Wunsch, Ejgil zu küssen; sie erhob sich unruhig, stand zitternd da und erblickte eingeschüchtert ihr Halbprofil im Spiegel.
Die Kinder sassen jetzt im Esszimmer. Sie sah kurz darauf hinein. Ejgil hatte mit einem Stück Kreide Zeichen auf den Fussboden geschrieben, die, wie sie zu ihrer Verwunderung sah, das Alphabet waren. Wer hatte ihn die Buchstaben gelehrt? Aase vielleicht!
Sie fühlte ein eigenes Grauen dabei, dass sie nichts, so gar nichts von dem Knaben wusste.
Bald darauf kam ihr Bruder heim. Wie stets, wenn sie betrübt war, suchte sie ihr Gemüt zu befreien, indem sie ein Thema anschlug, das, wie sie wusste, auch ihn verstimmen musste.
Sie sprach von Ejgils Taufe: „Etwas musst du tun!“ sagte sie fest. „Das verlange ich von dir, Emil, um das Wohl des Knaben willen.“
Der Bruder sass noch atemlos nach dem Treppensteigen da und schnappte nach Luft. Veronika stand am Fenster und blickte bald auf den Bruder, bald hinunter auf die Dossering. Ein junger, grosser und breitschulteriger Mann ging dort unten und zog ein Fahrrad nach dem Hauseingang. Er hatte sich grünwollene Wickelgamaschen stramm um die Schenkel geschnürt, etwas ganz Neues! — Veronika wandte sich mit einem Ruck um, das Blut brauste ihr in die Wangen, ihre Stimme ging in Moll über, sie fühlte selbst, dass sie melodisch klang, obwohl sie beabsichtigt hatte, den Bruder hart anzureden. „Etwas musst du tun!“
Sanders schob die Frage von Ejgils Taufe stets von sich — auch jetzt: „Du weisst, dass ich mit vier Geistlichen gesprochen habe und dazu noch beim Propst gewesen bin, alle fünf sagten nein. Und formell haben sie recht. Wir wissen ja nicht, ob der Knabe nicht schon einmal getauft worden ist, ehe er ins Asyl kam. Und dieselbe Person zweimal zu taufen, streitet wider das lutherische Glaubensbekenntnis!“
„Es gibt andere Geistliche“, protestierte Veronika.
„Ja, die Baptisten“, räumte der Bruder ein. „Die taufen zweimal. Aber gesetzt, Ejgil wäre doch noch nicht getauft. Dann können uns selbst die Baptisten nicht helfen!“
„Etwas musst du jedenfalls tun,“ sagte Veronika, „das ist deine Pflicht. Wir wissen ja nicht einmal, ob der Junge wirklich Ejgil heisst, mag die Engelmacherin im Asyl ihn noch soviel Ejgil genannt haben. Sie könnte ja auch ihre Gründe gehabt haben, und dazu hatte sie alle Papiere verbrannt. Seine Papiere muss er in Ordnung haben, das ist notwendig für seine Zukunft hier auf Erden und, wenn es ein Jenseits gibt, was du ja nicht glaubst, auch dort!“
Sie wurde sich auf einmal klar, dass Ejgil sicher nicht getauft war. Das ging unumstösslich aus seinem ganzen ungläubigen Wesen hervor; er war zweifellos ein Heide, selbst die Bibelgeschichte hatte vorhin seine Seele nicht gerührt.
„Du musst einen Ausweg finden,“ sagte sie, „aber unter keiner Bedingung die Baptisten!“
Er seufzte, schwieg jedoch. Amtsgewohnt sah er den ganzen Prozess voraus: das Gesuch an den Stiftspropst, weitergeschickt an den Superintendenten, dann ans Kultusministerium, vom Referenten zum Ministerialrat, Rücksendung zur Erklärung an den Superintendenten, denselben Weg wieder zurück, endlich Klage gegen den Pastor durch drei Instanzen und schliesslich, ex tute, Ausführung des Aktes. Er sank schlaff zusammen. Nichts konnte ihn in seiner freien Zeit dazu bringen, Formalitäten zu erledigen, das Amt gab schlechtgelohnte Arbeit genug.
„Ejgil ist nicht wie andere Kinder“, sagte Veronika plötzlich verstimmt. „Auf gewisse Weise ist er aufgeweckt, aber ihm fehlt seelische Erweckung. Er hat nicht — ja, was soll ich sagen — die rechte Kinderphantasie.“
Emil erinnerte sich selber gewisser kleiner Züge bei Ejgil — er war irgendwie ängstlich, etwas zu scharfhörig; man musste die Worte sorgsam wägen, ehe man mit ihm sprach, und war selbst dann noch nicht sicher.
„Ejgil“, räumte er ein, „ist ein etwas pedantischer Knabe.“
Ihre Unruhe stieg. Wie fremd der Knabe doch geblieben war trotz aller Güte, die sie ihm mehr als gern zuteil werden liess. Zeitweise konnten seine Augen eine regenbogenartige Glut haben wie die eines jungen Tieres.
Wieviel die Uhr sein mochte, es war wohl bald Schlafenszeit? Sie fühlte plötzlich ihre Brüste wie zwei Gewichte, vergebens wickelte sie sich dicht in den römischen Seidenschal. Auf einmal stieg in ihr die Erinnerung an einen Duft auf, den sie kürzlich — sie wusste nicht wo — eingeatmet hatte — von Tabak — und noch etwas — Harz? Aber wo? — Der süsse Tabakrauch einer Shagpfeife!
Ja, jetzt erinnerte sie sich. Hier im Hause war es —; aber der Bruder rauchte ja keinen Tabak. Draussen im Treppenhaus gestern — ja gewiss —, eine Tür hatte weit offen gestanden, ein junges rothaariges Mädchen kam heraus mit einer Kaffeetasse auf einem Teebrett. — Und drinnen im Halbdunkel hinter herabgezogenen Gardinen hatte sie undeutlich einen Mann erblickt, der in seinem Bett lag und eine kurze Holzpfeife rauchte. Von dort drinnen kam auch dieser scharfe Duft von Harz — nein, von Terpentin —! Verstimmt hatte sie ihren Weg fortgesetzt.
Der Knabe begleitete sie. Wie stets, wenn sie ausging, sahen die Händler ihr aus ihren Läden nach. Sie mochten einander gut stehen: der Knabe mit seinen gelben Locken, sie selbst in ihrem neuen blauen Kostüm. Es war Frühling, und der Kastellwall duftete nach Schnittlauch und Veilchen. Sicher hielten die meisten sie für Mutter und Sohn.
Das Gesetz, das über dem Leben Veronikas lag, war, dass sie in ihrer zarten Kindheit von den Eltern in das adelige Kloster Vallö eingeschrieben war. Seitdem erhob sie jährlich eine Rente, erst wenige hundert Kronen, aber mit den Jahren mehr, solange sie im unverehelichten Stande blieb. Das war sehr sinnreich erdacht von jener Sophie Magdalene, die das Stift Vallö errichtete: ward die Heiratschance mit den Jahren geringer, so stieg hingegen die Rente des Klosters, und die Verlockung zu einer Mesallianz wurde damit geringer. Im übrigen schirmten erst die Eltern, dann der Bruder den Fräuleinstand Veronikas. Die Freiwohnung als Konventualin, vielleicht sogar als Priorin im Schloss Vallö war besser als eine schlechte Ehe.
Die knappe Gage erlaubte Emil Sanders nicht, sich zu verheiraten, und ausserdem war er nicht nach dem Geschmack junger Mädchen. Ihm fehlte es an Keckheit. Aber das Gehalt als Amtsgehilfe, später als Abteilungschef, ergab, zu Veronikas Klostergeld gelegt, nebst den hinterlassenen Zinsen einen standesgemässen Lebensfuss für sie beide.
Das Leben in der Hauptstadt nach der Pensionierung des Vaters als General war für Veronika, gerade als sie die letzten Jahre der Zwanziger erreicht hatte, eine neue Blüte gewesen. Der Bruder war ihren Fahrten durch die vornehmen