Der Engel mit den Eselsohren. Otto Rung
die neue Pflegemutter mit grossen, ruhigen Augen.
Verwundert, tief dankbar für Sonne und Sterne, fühlte sie den Garten zwischen ihren Händen spriessen. Das war nicht wie früher das Krankenhaus, wo träge Rekonvaleszenz der einzige Trost des Tages war; hier wuchs das Leben vom Keimblatt zur Blume aus der frischen Erde. Wie eine Welle ging das Jahr: Erst Schneeglöckchen und Krokus, dann das üppige Blühen des Sommers. Und im Winter, wenn der Garten unter Schnee schlief, träumten auch die Kinder in dem grossen, warmen Saal, während der Ofen prasselte und alle Schatten sich wie fächelnde Schwingen leise an der Decke wiegten.
Nur in den finsteren Novembernächten spürte sie Unruhe. Dann ertönte das Bellen der Hunde vom Holzplatz lärmend und jammernd draussen in der Nacht, wo der eisige Wind dahinfuhr, wo der Regen dröhnend auf Dachpappe und Bretter schlug. Sie kauerte sich in Grauen zusammen und wusste, dass vor ihrem Garten die Welt böse, roh und hart lag, und dass schlaflose Seelen nass und zaghaft in der rabenschwarzen Nacht umherschlichen.
Ihr schien, sie könnte sie zu sich hereinholen, alle diese friedlosen Geschöpfe, ihnen allen ihre Welt mit Wärme und Sonnenschein öffnen, ihre Arme waren leer, waren arm, wenn sie nicht alle mitkamen. Am Morgen ging sie hinaus und lockte und rief, bis die Hunde an der Öffnung erschienen, die sie durch den Zaun gebrochen hatte. Sie frassen ihr aus der Hand. Eines Tages kroch ein Hund durch den Zaun. Er war krank und verhungert, und sie liess ihn dableiben. Er lag auf dem Rasen bei den Kindern, und die Kleinen zausten ihm den Pelz. Es war ein lichtscheuer Hund, der nur die Nacht kannte, aber sie überwand seine Furcht vor der Sonne. Nie hatte sie sich selbst so gegeben wie jetzt. Sie kannte jede Blüte und jede Knospe, jeden Vogel, der im wilden Wein des Giebels baute, jedes Nest mit zwitschernden Jungen. Sie streute Krumen vom Zwieback der kleinen Kinder über den Kies, und die Vögel kamen so nahe, dass sie Bröckchen nahmen, die ihr auf die Schuhe fielen.
Ein sechzehnjähriges Mädchen war ihre einzige Hilfe; es half, wann es Lust hatte, bald mit albernem Eifer, bald sauertöpfisch. Es war neidisch auf Kinder und Tiere und hatte eine Liebschaft mit einem anrüchigen Kerl im Viertel, der abends hinter dem Zaun pfiff. Und Thekla schlich sich hinaus hinter die Stapel des Holzplatzes, wo sie blieb, bis es hell wurde. Schwester Sylvia war zu sanft, um zu schelten. Sie nahm den Kampf allein auf, machte die Wiegen der Kinder zurecht, gab ihnen Milch aus ihren Flaschen und den Tieren ihr Futter. Sie hatte andere Hunde zu sich genommen, die durch das Loch im Zaun schlüpften und in ihrem Garten blieben, halbwilde und halbverkommene Hunde des Holzplatzes.
Jeden Termin musste sie dem Schutzherrn des Asyls Rechenschaft ablegen. Forstjunker Gadebusch empfing sie in seinem japanischen Boudoir, in einen lila Kimono gekleidet, auf einer rohrgeflochtenen Massagebank ruhend, von einem frisierten Pikkolo bedient. Er machte nur eine Handbewegung: Die Abrechnung, linke Kommodenschublade oben. Aber mit jedem Termin wurde der Zuschuss, den er dem Asyl bewilligte, knapper. „Teure Zeiten,“ sagte er, „Zinsverlust. Setzen Sie die Ausgaben herab.“
Als zwei Kinder von den zehn, die die feste Zahl des Asyls ausmachten, in ein Stift für Grössere gebracht wurden, erklärte er, dass die Plätze vorläufig nicht besetzt würden: es müsse gespart werden.
Von den Frauen, die ihre Kinder im Asyl besuchten, wusste Schwester Sylvia nur sehr wenig. An zwei von ihnen konnte sie sich später erinnern. Die eine war ein grosses, dunkles, ganz junges Mädchen. Sicher Ausländerin. Sie kam und nahm eines der Kinder auf den Arm, wiegte es still und weinte ein bisschen, ehe sie ging. Nur dreimal kam sie, dann war sie vermutlich abgereist. Die andere war kaum mehr als ein Kind, mit blonden Locken, immer atemlos, wenn sie kam; sie brachte Spielzeug für alle Kinder des Asyls mit, kleine, billige Holzdinge, und einmal eine sehr teure Puppe in einem Pariser Kleid, mit der sie selbst spielte, während sie unter dem Apfelbaum sass und ihr Kind auf dem Kissen zu ihren Füssen schlief. Sie war sicher vom Theater. Aber wer sie war — oder die andere — und welches ihre Kinder, ob sie später unter denen waren, die starben, als der Scharlach kam, das hatte Schwester Sylvia vergessen. Stumm, versteinert stand sie vor dem Richter. Wusste es nicht. Es war vergessen — war vorbei. —
Der Garten begann zuzuwachsen. Sie kämpfte gegen das Unkraut, sie jätete und beschnitt, aber die Zweige wuchsen störrisch über die Gänge, Unkraut wurde hereingeweht und säte sich selbst zwischen den Rosen. Für fremde Hilfe waren keine Mittel da, selbst nicht, als sie auf eigene Verantwortung noch einen ledigen Platz im Asyl unbesetzt liess. Es hiess Milch und Kleidung für die Kinder, Futter für die Tiere zu beschaffen. Sie mühte sich ab vom frühen Morgen, wachte die Nächte hindurch, war geschäftig und pflegte, kämpfte mit dem wilden Wachstum des Gartens. Thekla war keine Hilfe, und eines Tages verschwand sie mit allem Kinderzeug und allem Geld, das sie in der Eile zusammenraffen konnte. Schwester Sylvia wusste, dass Thekla selbst ein Kind gebären sollte, und so schwieg sie. Kurz darauf war der Scharlach ausgebrochen. Thekla hatte ihn aus ihrem Heim irgendwo draussen in einer unflätigen Kaserne mitgebracht.
Wie eine Wildnis lag der Garten jetzt da. Würfe junger Hunde wuchsen auf, die wilden Hunde brachen durch den Zaun in den Garten ein. Huflattich und Winde schlängelten sich über Gänge und Beete, Dornbüsche krochen über die Rasenplätze des Gartens. — Und Schwester Sylvia verstand plötzlich, dass nicht der Erstickungstod kam, sondern neues Leben, das vorwärts drängte, wandernder Samen, lebende Keime, die Platz forderten, wachsen, blühen und befruchtet werden wollten; sie sah, dass Wildgras und Wegerich ebensoviel Anrecht auf Boden und Licht hatten wie Rosen, es war Leben, das leben wollte, Keime, die atmen, Seelen, die geliebt und der unendlichen Güte der Natur teilhaftig werden wollten. Man durfte sie nicht hindern, sie waren wie die friedlosen Tiere, die in den regennassen Nächten jammerten. Die Wildnis hatte recht, sie konnte nicht aufgehalten werden, sie hatte dasselbe Recht auf Liebe wie die zahmen Blumen mit den prangenden Farben und ihrem Duft. Sie liess sie kommen. Es war Platz für sie alle, hier war ja das Asyl für all die Verdrängten, all die Verfolgten, hier im Garten der Unschuldigen.
Als aber die Epidemie kam und die Kinder krank wurden, pflegte sie sie selbst. Sie war ja in der Pflege erfahren, wagte nicht, Fremde in dieses Haus zu rufen, wo die halbwilden Hunde neben den Wiegen der Kinder schlummerten, wo der Garten Wildnis und Morast war. Die Kinder starben in ihren Armen, eines nach dem anderen hielt sie, bis sie starr und kalt waren. Sie trauerte nicht. Sie wusste, dass Kinder Seelen waren, die aus einer unbekannten, wunderbaren Welt kamen und eine Weile in ihrem Garten blieben. Jetzt zogen sie zurück, wie Zugvögel, von der Sehnsucht getrieben, nach Süden und Sonne entfliegen. Einen flüchtigen Sommer waren sie hier ihre Gäste, fuhren dann fort, keiner wusste mehr etwas von ihnen, keiner fragte nach diesen abgeschiedenen Kindern; über ihre Gräber dort auf dem Rasen breitete sich das Dornengebüsch. Sie waren vergessen hier auf Erden, Gott hatte sie zu sich genommen. —
Sie sass hier noch mit einem Kind in ihren Armen, dem letzten, einem Knaben. Er schlief an ihrer Brust, während sie stundenlang still dasass und über ihren Garten blickte. Selbst wenn seine Augen geöffnet waren, glich er einem schlummernden Kinde. Jetzt träumte auch er von den Gefilden, wo die anderen hinfuhren. Sie fühlte ihre Seele verebben und verbluten, bald war alles hingegeben, und das Leben war ohne Grund wie zuvor, Leid und Schrecken draussen ungelöst wie zuvor.
So sass sie da und wartete. Heulend und wild jagten die Köter im Garten umher, der Boden war löcherig, Grube an Grube, wie eine Stätte, wo Schakale hausen. Spülwasser war durchgesickert und bildete, schleimig und grün, stinkende Pfützen. Die Bretter des Hauses waren morsch von Schwamm und Feuchtigkeit, Ratten krochen dreist unter Lumpen und Kot in den leeren Stuben hervor, obwohl die Hunde sie jagten; langsam wie Schnee rieselte Gips vom Stroh der Decken herab. Im Kamin lag schwarzes, verkohltes Papier aufgehäuft, alles, was von Namen und Herkunft derer zeugte, die nicht mehr hier auf Erden waren.
Hier wurde sie gefunden, als die Polizei einbrach, todmüde eingeschlafen, das lebende Kind ganz wach in ihrem Arm.
Veronika Sanders sass auf der Erhöhung an ihrem Fenster, das auf die Dossering hinausging. Das Kind spielte zu ihren Füssen. So sass sie stets in der Stunde, ehe ihr Bruder heimkam, untätig, wartend, bis ein neuer Abschnitt des Tages begann und man sich zu Tische setzte. Sie las nie Zeitungen, höchstens ein Feuilleton und die Todesfälle. Alle Neuigkeiten, die sie hörte, brachte der Bruder mit, und sie liess sie gern in Vergessenheit geraten.
Sie war erst in den Dreissigern; die