Der Engel mit den Eselsohren. Otto Rung

Der Engel mit den Eselsohren - Otto Rung


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sein Examen war nur bescheiden gewesen — seine Schwester in die Zirkel begleiten zu können, in denen sie noch nach dem Tode des Vaters gefeiert wurde: Gesandtschaftsbälle, Tennispartien auf der sehr exklusiven Bahn der Aristokratie und fashionable Wohltätigkeitsbasare, bei denen Veronika ihrer stattlichen Figur wegen unentbehrlich war in lebenden Bildern als heilige Géneviève, die Retterin Frankreichs vor den Hunnen (dargestellt von dem spanischen und dem belgischen Gesandten mit grossen Bärten aus Werg), dann als heilige Jeanne d’Arc, ebenfalls Frankreich rettend, aber vor den Engländern (dargestellt von denselben Herren), sowie — vor einem intimeren Kreise von führenden Diplomaten — als Venus von Milo, ein Laken um die Lenden, einen weissen Jersey straff um die Büste und die geweissten Arme in einen Hintergrund aus schwarzem Samt gestreckt. An diesem Abend freite ein Leutnant von der Infanterie um sie, erhielt aber einen Korb.

      Allmählich aber war’s, als frören diese fashionablen Zirkel zu, die Kavaliere waren weniger diensteifrig als zuvor, und viele von ihnen betrachteten Veronika, wie sie merkte, mit ganz anderen Blicken als früher. Sie konversierten sie mit deutlichem Beiklang in der Stimme als eine, mit der man gegebenenfalls ins Einverständnis kommen konnte. Jetzt verwandelte sie sich zu Marmor, aber sogleich wurde es leer um sie. Sie fühlte sich wirklich wie eine der kalten klassischen Skulpturen, die im Museum ein ödes Rondell für sich haben. Und trotz pflichtschuldiger Besuche blieben erwartete Einladungen eine nach der anderen aus. Äusserst still verging die Saison.

      Auch die Mutter war jetzt tot. Der Bruder glitt automatisch in die Rubrik des Vaters, sie jetzt in die der Mutter. Er am Schreibtisch des Vaters mit den heraldischen Tafeln (nur die lange Reihe von Handbüchern für das Heer blieb jetzt unberührt stehen), sie am Nähtisch der Mutter und bei der täglichen Musterung des alten Familiensilbers auf dem Büfett. Beide mit derselben Aussicht über die Seen, wo die stillen Schwäne schwammen und Sonntags das Vorstadtpublikum langsam die Kastanien der Dossering entlang promenierte — eine Aussicht für Pensionäre.

      Emil hatte einmal von seiner Sammlung von Adelssiegeln aufgesehen; er lächelte wehmütig, fast zärtlich:

      „Nicht wahr, Veronika, nun sitzen du und ich hier gerade wie Vater und Mutter.“

      Veronika sah ihn nicht an, liess aber den Stickrahmen sinken. Plötzlich erhob sie sich, ein ersticktes Schluchzen kam aus ihrer Kehle. Sie lief in ihr Schlafzimmer und verschloss die Tür.

      Der Bruder blieb verstimmt sitzen. Er verstand, dass er gesagt hatte, was zu allerletzt gesagt werden durfte, was tabu war in diesem unveränderlichen Heim; dass er ausgesprochen hatte, was sie beide fühlten, aber schamhaft tief in ihr Herz versenkt hatten.

      Und langsam fasste er die ungelöste Forderung, die verborgen im Gemüt jedes Weibes wohnt. Seine Welterfahrung war aufgebaut auf der Kenntnis von den Verlorenen der Gesellschaft, Verbrechern und Dirnen, deren rohe, gewaltsame Taten täglich wie eine schmutzige Brandung gegen den Bureaustuhl schlugen, von dem er methodisch zusah. Auch jetzt waren seine Schlüsse methodisch aufgebaut von dem Milieu aus, auf das sein Blick im täglichen Leben eingestellt war: Dass der Sinn eines Weibes von der Zeit, da sie mit Puppen spielt, bis zu ihrer Reife nur eine einzige Forderung kennt — ein Kind in den Armen zu halten. Selbst die verzweifelten Mütter, die in die Strafkammern kamen, konnten sich an einen jungen Dieb und Zuchthauskandidaten klammern, der indolent den Kautabak im Maule wälzte, während er sich küssen liess; — oder er hatte ein öffentliches Mädchen jahrelang mit der Polizei kämpfen, Strafe auf Strafe erleiden sehen, weil sie nicht von ihrem kleinen Mädchen lassen wollte, das süss hinter einer Gardine in der Kammer schlief, wo sie ihre Kunden empfing.

      Er beschloss, soweit wie möglich die geheime Entbehrung im Gemüt der Schwester zu stillen, ohne im übrigen den Rahmen des Heims zu sprengen und ohne die Rente des Klosters zu verscherzen.

      Das Kind, das er auf dem Schreiberpult im Bureau gesehen hatte, verlieh seinen Absichten Form und seinem Wunsch Möglichkeit. Er erzählte ihr die Geschichte von dem verlassenen kleinen Knaben und wartete geduldig, dass der Keim in ihrem Gemüt wachsen sollte. Er sah, wie er Boden fand, es war, wie er erwartet hatte: Immer wieder kehrte sie mit Indignation zu der Verbrecherin Schwester Sylvia, der Engelmacherin, zurück, die sich gegen den angeborenen Beruf des Weibes vergangen hatte. Veronika war ausser sich, als sie hörte, dass sie der Strafe entging und als Geisteskranke in eine Anstalt gebracht worden war. Das empörte ihre tiefsten Instinkte. Jetzt wusste der Bruder, dass er die Entbehrung der Schwester richtig geahnt hatte. Aber der Wunsch musste von ihr selbst kommen, er musste sicher sein, dass sie später nicht die Schuld auf ihn schob, wenn das Kind nicht gut geriet.

      Ihre Halbkusine, Frau Strobel, die mit einem Rechtsanwalt verheiratet war — und die in der Familie für brav, aber recht einfach galt —, lehrte Veronika, Klein-Ejgil zu waschen und zu frisieren, der wirklich, wie sie erwartet hatte, einem kleinen Engel mit langen gelben Locken glich. Frau Strobel verstand sich gut auf Kinder, war selbst Mutter von dreien: Aase, Kirsten und Klein-Theodor. Sie küsste Veronika mitten auf den Mund:

      „Segen ist in dein Heim gekommen!“

      Sie schluchzte halb erstickt vor Rührung und Polypen.

      Ejgil kam erst in seinem siebenten Jahr in die hatte sich jedoch vorher schon verschiedenes Wissen angeeignet.

      Veronika begleitete ihn am ersten Tage zur Schule. Er trug, wie stets, wenn er an die Luft gebracht wurde, einen Überzieher, der ihm fast bis zu den Hacken reichte, und einen Filzhut (mit Gummiband um das Kinn, wenn es wehte); die langen Locken fielen über den Pelzkragen des Mantels. Von hinten glich er einem kleinen, würdigen, älteren Komponisten.

      Auf dem Dach der Schule war ein Storch aus Zink, weiss bemalt und mit rotem Schnabel, angebracht, um, wie der Vorsteher den Eltern sagte, gleich am Schultor die Kinder daran zu mahnen, dass sie von droben auf weissen Schwingen zur Welt gebracht waren.

      Gegenüber der Schule lag ein Bauplatz, mitten darauf eine ungeheure Schlammpfütze. Einige der kleinen Schulknaben, die Wasserstiefel hatten, wateten im Kot. Veronika warnte Ejgil vor solchen Unarten. Er trug nämlich feine hellgraue Gamaschen über seinen Knöpfstiefeln, hatte übrigens auch keine Lust, wie die anderen zu waten. Sie küsste Ejgil auf die Stirn und verliess ihn im Schulhof, der schon voll von Knaben war. Sie spielten nicht, sondern standen da und sahen artig auf die Lehrer der Schule, die mitten auf dem Platze um den Vorsteher versammelt waren.

      Ejgil war erst spät im Schuljahre angemeldet; es waren eben Ferien gewesen, und der erste Schultag fiel auf einen Merktag für das ganze Land. Ein sicher übereiltes Gerücht hatte nämlich gesagt, dass das alte konservative Ministerium abgehen und dass Bauernlinke und die anderen Demokraten Land und König in ihre Macht bekommen sollten.

      Die Lehrer standen in einer Gruppe und steckten die Köpfe zusammen wie Pferde im Schneesturm. Sie waren alle erbost, der Vorsteher, Herr Bonfils, jedoch am meisten. Es war eine fashionable Schule, die zumeist von Kindern aus der Bourgeoisie der Stadt und sogar von nicht wenigen aus adeligen Heimen besucht wurde.

      Herr Bonfils pfiff auf einer Flöte, und die Knaben nahmen Aufstellung in Reih und Glied, mit der Front gegen die Schullehrer, die nach Fächern in der Reihe geordnet waren: zuerst die examinierten, zuletzt der Gesanglehrer.

      Herr Bonfils stand vor ihnen, vorm Regen geschützt durch die junge Buche, die vor zehn Jahren unter grosser Feierlichkeit gepflanzt worden war. Man hatte damals einen Federkasten mit einem Dokument über diese Pflanzung und einigen Münzen, wie sie damals im Umlauf waren — jedoch keine Goldmünze darunter —, beim Baum niedergelegt.

      Ejgil stand als neuer zuhinterst in seinem Glied von der Gruppe der zweiten Vorschulklasse, vor ihm ein Knabe, der, wie ihm klar wurde, der „Fuchs“ war. Er war gross und kräftig und trug ein Regencape über seinem Tornister. Er drehte sich um und betrachtete mit Abscheu Ejgils langes Haar.

      Aber Herr Bonfils hatte ihn gesehen. Er rief den Namen des Knaben: „Petersen! Stillgestanden im Glied!“

      Herr Bonfils pfiff auf seiner Flöte, räusperte sich und ergriff das Wort:

      „Jungens!“ rief er. „Es ist heute ein Tag der Trauer für unser liebes altes Vaterland.“

      Er putzte sich die Nase. Sie war lang und spitz, und er trug eine


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