Der Engel mit den Eselsohren. Otto Rung

Der Engel mit den Eselsohren - Otto Rung


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und schwer, abgesperrt durch die schweren Gardinen aus rostrotem Damast. Hinter diesen Gardinen hatte sie manches Mal halb verborgen über den kleinen Marktplatz der Garnison geblickt, wenn die Wache aufzog und der Wachkommandant, Leutnant von Lindholm, mit seinem Säbel zum Fenster hinaufgrüsste. —

      Nie hatte sie Ejgil bewegen können, richtig mit Bleisoldaten zu spielen. Sicher wurde er auch kein Offizier, sowenig wie ihr Bruder, der doch durch seine Augenschwäche entschuldigt war, aber immerhin dank dem Einfluss der Mutter bei einer Hofdame Kammerjunker geworden war. Wie unendlich weit lag die Zeit zurück — diese zehn langen Jahre, seit sie zwanzig war, bis jetzt. Und wie konnte sie wissen, was aus Ejgil wurde. Welche Anlagen konnten nicht in einem solchen elternlosen Kinde schlummern, wenn auch seine Züge noch so sehr auf Rasse deuteten! —

      Sie ging zum Bruder hinein, der in ein neues genealogisches Werk vertieft dasass. Er faltete Stammtafeln auseinander, rollte eine neue Welt auf. Es waren Aufklärungen über das alte Adelsgeschlecht der Daggert. Es war ihm ein Genuss, diesen Linien zu folgen, auf denen sich immer neue Schösslinge verzweigten und die einem unbekannten und bisher vergessenen, jetzt von den Toten erstandenen Ahnherrn entsprangen. Wie fruchtbar und üppig war das nach der Arbeit des Tages, der nur eine Reihe vernichteter Leben, verkrüppelter, erniedrigter Schicksale, Laster, Verbrechen und Schrecken, Blutschande, Raub, Mord und Unzucht war! Hier fand er nun einen bisher unbekannten Mann namens Bildt: Freibeuter während der Fehde des Grafen, schändete er der Sage nach seine eigene Schwester, liess seine dritte Frau einmauern, um sein Kebsweib zu heiraten, brannte und plünderte zwei Klöster, wurde später Reichsrat und Herr von acht Haupthöfen — ein Typ grossen Stils! Sanders erschien er schon jetzt wie ein guter, alter Freund! Wie traurig war es doch für Klein-Ejgil, dass er ganz ohne Stammbaum, ohne Familie, ja sogar ohne Eltern war!

      Die Petroleumlampe leuchtete gedämpft hinter dem gelben Seidenschirm — wie glücklich war er doch, hier zu sitzen und nach der Traurigkeit und dem Grauen des Tages von all diesen Dingen zu lesen, während die Schwester dort in dem niedrigen Sessel träumte, hell, anmutig und fein, wie er sich immer ihr Schicksal gewünscht hatte, unberührt und doch reich durch das Kind, das er in ihre Arme gelegt hatte, damit ihr nichts auf der Welt fehlte!

      Ejgil war im Bett. Die Tante hatte seinem Abendgebet beigewohnt, jetzt lag er ruhig und wartete, bis alles im Hause erloschen und still war. Er war nicht müde, er hielt sich ganz wach, indem er an feste, bestimmte Dinge dachte. Endlich war alles um ihn ruhig. Lautlos wickelte er sich aus der Decke und stand auf.

      Er kannte das Dunkel und liebte es. Nie hatte er verstehen können, warum die Erwachsenen die Nacht mieden. Wenn es dunkel wurde, zündeten sie Licht an, wenn es Nacht wurde, hüllten sie sich in ihre Decken. Waren sie bange, wenn sie nichts sehen konnten? Sie sprachen leise und sagten weniger, wenn es dunkelte, sie konnten lauschen, als ob sie etwas herumschleichen hörten; die Tante konnte aufstehen und hinausgehen, um zu sehen, ob die Entreetür verschlossen war, und einmal hatte er sie mit einem brennenden Licht herumgehen und unter alle Betten des Hauses gucken sehen. Es war, als erinnerten sie sich, dass im Finstern alles Böse losgelassen ward, und dann wurde die ganze Welt ihnen wie ein grosser Wald voll wilder Tiere. Ja, sie fürchteten sich! Ejgil verstand nicht, warum. Er kannte das Dunkel ein und aus, es gab nichts darin, das schwer zu bewältigen war. Erst im Dunkel war man völlig allein, und alles entstand auf eine ganz neue und ganz andere Art als zuvor.

      Er konnte den Drücker seiner Tür ohne das geringste Geräusch bewegen. Blossfüssig ging er auf den langen Korridor hinaus. Ohne die Hände auszustrecken, konnte er jede Ecke spüren, jede harte oder scharfe Kante, ohne etwas anzurühren. Er konnte die Wärme an der Wand fühlen: dahinter lagen Küche und Herd; er konnte mit den Fussspitzen tasten, wo die Schuhe vor Tantes Tür standen, und vermeiden, sie anzurühren und Lärm zu machen. Endlich fühlte er den Teppich des Wohnzimmers weich und warm unter seinem nackten Fuss.

      Hier drinnen konnte er, wenn er wollte, alles tun, was am Tage verboten war. Er konnte einen Stuhl zum Kaminumbau rücken und die kleinen Porzellanfiguren eine nach der anderen in die Hände nehmen, mit den Fingerspitzen jeden Zug in den Gesichtern der kleinen Puppen, die Spitzen an den steifen Kleidern der Damen, die Degen und Gehenke der stolzen Offiziere fühlen. Er konnte sie miteinander reden, tanzen oder über die Marmorplatte promenieren lassen, wenn er wollte. Da war alles Silber auf dem Büfett, aber daran konnten seine Finger Spuren hinterlassen, die man am nächsten Tage sah, das konnte er sich nur durch das Dunkel denken; aber da war Tantes Schrein aus Ebenholz und Perlmutter, in dem Fächer, Glasperlen, kleine silberne Scheren und ein Messer mit vielen merkwürdigen Klingen lagen. Aber alles das war doch nichts gegen den Raum selbst: die Wände verschwanden, und es öffnete sich weit zur Welt draussen; alle möglichen Gestalten konnte er sich denken, die von draussen hereinkamen. Menschen und Tiere, Männer, die auf wilden Pferden angeritten kamen, mit einer Koppel Hunde auf den Fersen, alles ohne Laut. So war die Nacht!

      Aber am allerschönsten war der Balkon. Den durfte er nie am Tage betreten. Selbst Onkel und Tante fürchteten sich, zu lange draussen zu stehen, sie sagten, dann würde man nur schwindlig und könnte hinunterfallen. Und Ejgil musste hinter der Glastür bleiben und sich damit begnügen, von dort über die Welt hinauszublicken.

      Er lauschte an den beiden Türen, hinter denen man Onkel und Tante atmen hören konnte, während sie schliefen. Jetzt existierten sie nicht mehr, und er war ganz allein — endlich wieder! Leise drückte er die Klinke zur Balkontür nieder, langsam, dass nicht das geringste zu hören war. Jetzt stand sie offen. Das Wetter war so warm, der milde Wind atmete weich und dicht um seine Wangen, schmiegte sich lau um seine nackten Beine, fächelte das lange Haar an seinem Munde vorbei. Er holte sich ein Taburett, und jetzt konnte er hinaufklettern und, gegen die Hausmauer gelehnt, vier Stockwerke über der Erde, auf dem Geländer des Balkons sitzen. Tief, tief unten lag der schmale Fusssteig der Dossering im Licht der Gaslaterne wie die Türschwelle zu einer anderen Welt. Dort begann der Schwarzdammsee, dunkel und unermesslich breit, mit Laternenschimmer längs den Häusern auf der anderen Seite. Der Himmel dahinter war leuchtend grün, über seinem Haupte war er dunkel und mit schwachen Sternen besät. Vor und über ihm gab es keine Wände, es war weit offen, erst dort erstanden alle Dinge richtig, weil er sie wählen konnte, wie er wollte.

      Ein schwaches Rauschen ertönte dort oben und kam immer näher. Er wusste, dass es Zugvögel waren, die jetzt wiederkehrten, da es bald Sommer wurde. Ein kleines Mädchen hatte gesagt, dass auch sie dieses Rauschen mitten in der Nacht gehört hätte. Sie hiess Aase, kam mit ihrer Mutter zu Besuch, und er sollte sie Kusine nennen; sie war klein, dick und dumm; wie alle Kinder glaubte sie alles, was den Erwachsenen zu sagen einfiel, sie sagte, es wären Engel, die sie fliegen hörte. „Es sind Engel!“ meinte sie und leckte mit der Zunge nach der Nase, die tropfte. —

      Ejgil streckte seine Beine vom Balkongeländer aus, das war, als nähme er ein Bad im Winde. Jetzt konnte er schwer und stark das breite Brausen von den Flügeln vieler Vögel hören. Er wusste, dass es Wildgänse, Enten, ja vielleicht wilde Schwäne waren; er hatte gelernt, die seltenen Vögel zu unterscheiden, die zur Winterszeit zwischen all den flügelschlagenden weissen Möwen auf dem See waren: Russente und Steissfuss, Strandläufer und eine Eiderente, die im letzten Winter eines Tages verwirrt die segelnden Schwäne umplätschert hatte. Nun zogen sie vorbei, hoch droben über Häusern und Land, hinaus nach den grossen Meeren; sie kamen wie in Windstössen mit Schreien oder Schnattern; erst die grossen, schweren Vögel und nach ihnen die kleineren mit Zwitschern und Zirpen, immer weiter — ein Weilchen vielleicht war es hier still —, aber dann wieder dieser rauschende Gesang, das Brausen, das dahinzog, das Schnattern und Pfeifen, vorüber, vorüber. —

      Er wusste, durch vieles, vieles musste er erst hindurch — erst sich frei machen, ehe er mitkam und hinausfahren konnte, wohin in der Welt er wollte, hoch über Land und Meer wie die reisenden Vögel.

      Veronika las Ejgil und Kusine Aase vor. Sie las Aschenbrödel, und Aases grosse, runde Augen träumten von den drei herrlichen Kleidern der Prinzessinnen. Das Mädchen selbst trug ein Samtkleid, goldbraun wie Schokolade gefärbt; wenn sie lachte, kroch die Zungenspitze zu einer kleinen Lücke zwischen den Mausezähnchen hervor, die sie dieses Frühjahr wechselte; sie schnüffelte ein bisschen, hatte wohl wie ihre Mutter ein wenig Polypen, war aber sonst anmutvoll und dunkel wie ein Zigeunerkind und wurde von ungefähr der ganzen Sandersschen Familie


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