Ehrenmord - Schweden-Krimi. Björn Hellberg

Ehrenmord - Schweden-Krimi - Björn Hellberg


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mit dem Kartenspiel, der Chef ist gekommen!«

      »Versteck das Pornoheft, verdammt noch mal!«

      »Wer packt den Karton mit den Schmiergeldern weg?«

      »Wann ist Wall eigentlich von Bornholm zurück, damit wir endlich wieder anfangen können, ordentlich zu arbeiten?« »Mach dein Hemd richtig zu, Otto! Glaubst du etwa, das ist ein Kindergarten hier?«

      »Was müssen wir normalen Sterblichen tun, um auch irgendwann einmal auf dem Chefsessel zu landen?«

      Jan Carlsson lachte.

       Jungs bleiben doch ihr Leben lang Jungs.

      »Okay«, sagte er. »Ich habe kapiert. Jetzt möchte ich ...«

      »Habt Acht!«, schnarrte jemand.

      Alle richteten sich kerzengerade auf und salutierten ihm, sodass Jan Carlsson wohl oder übel die Rolle spielen musste, die ihm zugedacht war.

      »Guten Morgen, Kameraden!«, schrie er mit gespielter Unteroffiziersstimme.

      »Guten Morgen, Chef!«, dröhnte es zurück.

      »Rühren!«

      Als die kleine Gruppe vor ihm gerade gleichsam in sich zusammensank, war lautes Räuspern vom Flur her zu hören. Alle wandten sich gleichzeitig dem Geräusch zu, und im nächsten Moment trat ein hoch gewachsener, hagerer Mann in einem schlecht sitzenden braunen Anzug durch die Tür. Er hatte schneeweißes, nach vorn gekämmtes Haar und ein großes, lilafarbenes Feuermal auf einer Wange. »Was macht ihr denn hier?«, fragte der Distriktspolizeileiter Helge Boström.

      »Ach, gar nichts.«

      »Dafür war es aber reichlich laut. Man konnte es im ganzen Haus hören. Wall braucht nur seine krankhaften Fettmassen mal von seinem Arbeitsplatz fortzubewegen, und schon benehmt ihr euch wie Kleinkinder.«

      »Einen unschuldigen Spaß darf man sich doch wohl noch mal erlauben«, erklärte Carl-Henrik Dalman, gestandener Veteran, bekannt für seine reaktionäre Haltung und seinen fast vollkommenen Mangel an Humor.

      Und der jüngste Mann der Abteilung, Terje Andersson, ging mit naivem Trotz zum Gegenangriff über.

      »Wir haben doch niemandem geschadet, oder?«

      Dalman blies sich noch mehr auf:

      »Seit wann ist es denn verboten, sich in seiner Freizeit zu entspannen? Darf ich daran erinnern, dass wir alle schon früher an unserem Platz waren, als wir eigentlich müssen. Da! Jetzt schlägt es erst acht.«

      Der Distriktspolizeileiter winkte ungeduldig mit seinen langen, nikotingelben Fingern ab.

      »Jaja. Ich bin auch nicht hergekommen, um euch zu inspizieren. Ich habe wichtigere Sachen zu tun. Aber ich würde gern mit dir reden, Jan.«

      »Jetzt?«

      Boström nickte.

      »Komme schon«, sagte Carlsson und folgte dem Vorgesetzten auf den Flur.

      Jemand flüsterte theatralisch hinter seinem Rücken:

      »Zur Seite, liebe Leute, damit der Boss durchkommt.«

      Der Besuch bei Boström stahl Jan Carlsson eine halbe Stunde seines Arbeitstages. Während dieser dreißig Minuten gelang es dem Distriktsleiter, zwei Zigaretten zu rauchen, einen Urlaubsplan für den Herbst zu präsentieren und die übliche Litanei von zu schlechten ökonomischen und personellen Ressourcen von sich zu geben.

      Wieder zurück in seinem eigenen Zimmer, nahm sich Carlsson die Berichte vom Wochenende vor.

      Es war nicht gerade eine aufmunternde Lektüre.

      In einer Mietswohnung im Stadtteil Grönland versuchte ein Sechsjähriger in der Nacht zum Sonntag, seinen berauschten Vater daran zu hindern, seine Ehefrau mit den bloßen Fäusten totzuschlagen. Der Junge bekam ordentlich eins gewischt, was seinem tapferen Versuch, den Streit zu schlichten, ein jähes Ende bereitete. Der Vater kam jedoch zur Besinnung, als der Kleine weinend auf den Küchenfußboden fiel. Die große Versöhnung senkte sich über die ganze Familie, und als die von den Nachbarn alarmierte Polizei eintraf, herrschte das reine Idyll. Der Junge wurde mit Eis verwöhnt, und es war unschwer zu bemerken, wie die Eltern sich trösten würden, sobald sie in Ruhe gelassen würden. Der polizeiliche Einsatz erwies sich als überflüssig, da die Frau keine Anzeige erstatten wollte.

      »Sind Sie sich sicher, dass nichts passiert ist?«, fragte einer der Polizisten misstrauisch.

      »Absolut«, beteuerte der Papa. »Hier ist es doch friedlich, friedlicher geht’s gar nicht.«

      »Aber die Nachbarn ...«

      »Ach, mir ist ein Stuhl umgefallen«, sagte die Mama.

      »Und der Stuhl sprang wieder hoch und traf Sie mitten im Gesicht?«

      Sie presste die Lippen zusammen, und der Polizist bohrte stattdessen seinen Blick in das vom Weinen angeschwollene Gesicht des Jungen.

      »Stimmt das?«

      Bevor dieser antworten konnte, griff der Vater ein:

      »Willst du noch mehr Eis, Marcus?«

      Kurz darauf zogen die Polizisten unverrichteter Dinge ab. Jan Carlsson fuhr sich über seinen spärlich behaarten Kopf und wühlte sich weiter durch den Papierstapel.

      Natürlich stieß er dabei auf die üblichen Wochenendvergnügungen: verwüstete Blumenrabatten im Park, Prügeleien zwischen Rockerbanden im Gewerbegebiet, drei Autodiebstähle, vier Einbrüche, eine Misshandlung im Gasthaus Baronen, Tierquälerei auf einem Bauernhof in Slätthult und ein Vergewaltigungsversuch im Süden.

      Mit anderen Worten: ein ziemlich normales Wochenende. Carlsson seufzte.

      Und plötzlich beneidete er Sten Wall.

      Urlaub – das Wort schmeckte nach Luxus und Spaß.

      Er selbst kam erst Mitte August in diesen Genuss, dann wollten Gun und er sich eine Autoreise durch England und Schottland gönnen. Er freute sich jetzt schon darauf, obwohl er noch nie im Linksverkehr gefahren war, abgesehen von ein paar Monaten kurz bevor Schweden am 3. September 1967 von Links- auf Rechtsverkehr umgestellt hatte.

      Mitte August: Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.

      Sten Wall

      Früher hatte sich Sten Wall unbeschwerter auf seinen Urlaub gefreut.

      Zwar spürte er immer noch ein herrlich prickelndes Gefühl der Erwartung, wenn die Urlaubszeit in greifbare Nähe rückte. Aber die Vorfreude war mit einer immer deutlicher wahrnehmbaren Wehmut kombiniert. Er hatte die sechzig überschritten (sogar mit einem gewissen Abstand) und war sich bewusst, dass er sich in Riesenschritten der Pensionierung näherte. Und wenn er diese magische Grenze passiert hatte, konnte er sich so viel Urlaub gönnen, wie er wollte. Für viele mochte das erstrebenswert sein, aber für Wall bedeutete es nicht nur Vorteile.

      Er war zu der Überzeugung gelangt, dass er weiterarbeiten wollte. So lange wie möglich. Er war seinen Beruf noch lange nicht leid und fürchtete eine Zukunft, in der seine Dienste und seine Kompetenz nicht länger gefragt waren.

      Realist, der er war, sah er ein, dass dies der unausweichliche Lauf des Lebens war: In ein paar Jahren war es Zeit, jüngeren Kräften den Weg frei zu machen. Er konnte doch nicht bis in alle Ewigkeit auf seinem Platz kleben und damit das Weiterkommen der anderen blockieren. Aber das war ja auch gar nicht seine Absicht. Er wünschte sich, auf irgendeine für ihn maßgeschneiderte Art weitermachen zu können und zur Verfügung zu stehen, ohne damit den Jungen den Weg zu versperren. Aber die Gleichung ging nicht auf, das war ihm schon klar.

      Vielleicht fand er ja auch eine sinnvolle Beschäftigung außerhalb der Polizei, wenn er die fünfundsechzig erreicht hatte.Vielleicht gab es jemanden, dem seine Erfahrung und seine unbestreitbaren Kenntnisse von Nutzen sein konnten und der ihm zumindest einen Teilzeitjob anbot.

      Der


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