Ehrenmord - Schweden-Krimi. Björn Hellberg

Ehrenmord - Schweden-Krimi - Björn Hellberg


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Bedarf für die kommenden vierzehn Tage wohl decken würden.

      Er inspizierte Kühlschrank und Vorratskammer. Nachdem er das wenige, was für ein kärgliches Frühstück am nächsten Morgen erforderlich war, zur Seite gestellt hatte, blieben noch eine frisch geöffnete Packung fettarmer Milch, sechs Eier, ein halber Laib Schwarzbrot, acht Scheiben Knäckebrot, eine fast ausgequetschte Tube Kalles Kaviar, zwei Tomaten und eine Frikadelle.

      Wall beschloss, die Reste zu seinen Freunden Gun und Jan Carlsson rüberzubringen. Es war ja nicht nötig, dass während seiner Abwesenheit alles verdarb.

      Zwei Flaschen Bier (die konnten bei seiner Rückkehr von Nutzen sein), eine gut zur Hälfte geleerte Dose Kaffee und einen Karton mit Haferflocken ließ er allerdings stehen. Er schaute auf die Uhr. Wahrscheinlich war Gun bereits zu Hause. Sie hatte eine Teilzeitstelle in einer Zahnklinik und war normalerweise um diese Uhrzeit fertig mit ihrer Arbeit. Er packte die Essenssachen in eine Plastiktüte und ging dann wieder hinaus in den strahlenden Junitag. Auf dem Weg kam ihm der Gedanke, Jan zu überreden, mit ihm in die Kneipe zu kommen, aber er beschloss, den leicht zu überredenden Kollegen nicht in Versuchung zu führen. Allerdings war meistens nur eine Andeutung nötig, damit Jan die Gelegenheit wahrnahm, einen Abend von seiner fürsorglichen und wohlmeinenden Ehefrau freizunehmen. Wall rief sich zur Ordnung. Es war unfair, den so kurz gehaltenen Freund unnötigerweise zu locken, und außerdem wollte er selbst lieber frisch und munter sein, wenn er sich am nächsten Morgen hinters Steuer setzte. Pils würde er auf Bornholm noch reichlich bekommen. Er trank gern Bier, hatte aber – nach unaufhörlichen Zurechtweisungen des moralisierenden Distriktspolizeileiters Helge Boström – seinen Konsum um einiges reduziert. Aber im Urlaub war das ja wohl etwas anderes. Er dachte gar nicht daran, sich von dem weltberühmten, kräftigen dänischen Bier fern zu halten, nur weil es dem Nörgler Boström so passte.

      Als er das arkadische Viertel in Gamleby erreichte, sah er schon von weitem, dass Gun Carlsson mit den Weinranken beschäftigt war, die an beiden Seiten der Haustür hochwuchsen.

      Als sie ihn entdeckte, schien ihr Mienenspiel gleichzeitig Freude und Beunruhigung auszudrücken.

      Sie mochte Sten Wall schrecklich gern, fürchtete aber, dass er ihren Mann mit in eine Kneipe schleppen würde, was inzwischen gleichbedeutend mit einer Katastrophe war. Sobald Jan auch nur eine Spur zu viel trank, benahm er sich am folgenden Tag wie ein verirrtes Zebra, das von einer Herde hungriger Löwinnen umkreist wird.

      Er wollte einfach nur verschwinden und jammerte ununterbrochen. Dann folgten pathetische Reden darüber, dass er nie wieder in seinem Leben auch nur einen einzigen Tropfen Alkohol anrühren würde – falls er diese enorme Prüfung überhaupt überleben sollte (was er, hingegeben an Reue und Kater, oft als vollkommen unmöglich ansah). Selbstverständlich war Jan eigentlich klar, dass Gun ihm nur dieses Leiden ersparen wollte.

      Menschenkenner, der er war, begriff Sten Wall sofort, dass Gun Gefahr witterte und das Schlimmste fürchtete.

      Er betrachtete sie voller Zuneigung. Ihre ausdrucksvollen Augen hatten einen warmen, schönen Glanz, aber ihr Gesicht war eigentlich nichts sagend. Das kurz geschnittene Haar erschien auf irgendeine Weise leblos, selbst wenn es frisch gewaschen war. Für seinen Geschmack war sie außerdem viel zu mager und eckig. Aber was machte das alles, wenn sie ein so wunderbarer und warmherziger Kamerad war?

      »Hallo, Gun. Ich fahre ja morgen in Urlaub und bin heute Abend beschäftigt, deshalb wollte ich das hier jetzt schon vorbeibringen«, sagte er und reichte ihr die Plastiktüte. »Lasst es euch schmecken.«

      Sie warf ihm ein großzügiges Lächeln zu und steckte dann die Nase in die Tüte, um den Inhalt zu kontrollieren.

      »Wie lieb von dir, Sten. Aber vieles davon würde sich doch in der Tiefkühltruhe halten. Das Schwarzbrot ...«

      Er schnitt ihre Worte mit einer Handbewegung ab.

      »Quatsch. Wenn es euch schmeckt, dann ist das nur gut so. Und sonst kannst du es einfach wegschmeißen.«

      »Na gut. Dann vielen Dank. Jan ist noch nicht gekommen. Und es wird wohl auch noch eine Weile dauern, bis er fertig ist mit seiner Arbeit. Er vertritt nämlich einen richtigen Workaholic. Kann ja sein, dass du ihn kennst?«

      »Wer kann das denn sein?«

      »Nein, ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, wann er auftaucht.« Offenbar war sie sich immer noch nicht ganz sicher, wie der Abend wohl verlaufen würde. Wall beschloss, ihr auch die letzten Zweifel zu nehmen.

      »Ich würde ihn ja schrecklich gern heute Abend treffen, aber ich habe keine Zeit. Muss noch packen und alles für die Reise morgen fertig machen«, log er.

      Gun Carlsson besaß ein beeindruckendes schauspielerisches Talent. Es gelang ihr voll und ganz, die Erleichterung zu verbergen, die sie zweifellos verspürte.

      »Wie schade. Jan hatte gehofft, mit dir ein paar Abschiedsbiere bei Sture Hansson zu trinken. Das hat er heute Morgen noch gesagt«, heuchelte sie.

      Für den Bruchteil einer Sekunde spielte Wall mit dem Gedanken, etwas in dem Stil zu sagen, wie: »Na, wenn das so ist, dann muss ich wohl meine Pläne ändern und mich ihm eine Weile widmen.«

      Aber das wäre doch zu boshaft gewesen.

      »Leider«, sagte er und schüttelte seinen runden Kopf. »Das müssen wir auf ein andermal verschieben.«

      Der Kommissar ließ sich noch zu einer Tasse Kaffee auf der Terrasse überreden und verabschiedete sich dann.

      »Mach dir keine Sorgen wegen der Blumen«, rief sie ihm hinterher. »Ich kümmere mich um sie.«

      Er antwortete darauf nur mit einem zustimmenden Winken. Das Ehepaar Carlsson besaß einen Schlüssel für seine Wohnung, damit sie sich um sie kümmern konnten, wenn er für längere Zeit fort war. Nach einem »Überfall« an einem Luciamorgen, als sich ein Lichterzug vollkommen unerwartet in seine enge Wohnung gezwängt hatte, hatte Wall lange überlegt, ob er seinen Schlüssel nicht wieder zurückfordern sollte.

      Aber schließlich hatte er die Sache doch auf sich beruhen lassen. Inzwischen konnte er die Ereignisse mit humorvoller Distanz betrachten. Aber damals war es äußerst peinlich gewesen, schlaftrunken unter der Bettdecke zu liegen und zu erleben, wie der reizende Zug pflichtschuldigst sein Morgenprogramm in einem Zimmer absolvierte, das gerade einem regelrechten Gasüberfall ausgesetzt worden war. Wie der Zufall es wollte, hatte er nämlich am Abend zuvor gewaltige Mengen Erbsensuppe vertilgt.

      Nun, das war Schnee von gestern, und er hatte seinen Freunden einen heiligen Eid abgerungen, ihn niemals wieder derartigen Prüfungen auszusetzen.

      Wall war ein leidenschaftlicher Flaneur. Er beschloss, das einladende Wetter für einen stärkenden Spaziergang zu nutzen.

      Anderthalb Stunden später war er daheim, wo er sich mit einer armseligen Tasse Kaffee begnügte (Gun hatte ihm noch einen gewaltigen Kopenhagener eingetrichtert).

      Nach einer weiteren Kontrolle seines Reisegepäcks machte er es sich für eine Weile vor dem Fernseher gemütlich. Er hatte vor, früher als gewohnt zu Bett zu gehen. Er brauchte den Schlaf, obwohl er ja erst um acht Uhr losfahren musste, und dann auch nur eine recht kurze Strecke nach Süden, bis nach Ystad. Danach ging es mit der Fähre weiter, nach Rönne und anschließend nach Allinge.

      Und in einen hoffentlich erquickenden Urlaub.

      Der Planer

      Die Vorbereitungen waren getroffen.

      Er war bereit zuzuschlagen und wusste, dass er es schaffen würde.

      Er hatte schon immer starke Nerven gehabt.

      Er würde nicht versagen, wenn es darauf ankam.

      Selbstverständlich konnte etwas Unvorhergesehenes passieren, etwas, das alles über den Haufen warf, und dann müsste er seine Pläne natürlich ändern. Aber früher oder später würde es dennoch geschehen.

      Er glaubte allerdings nicht, dass seinem ersten Opfer ein längerer Aufschub gegönnt sein würde. Im Gegenteil, er war überzeugt,


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