Ehrenmord - Schweden-Krimi. Björn Hellberg

Ehrenmord - Schweden-Krimi - Björn Hellberg


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dass sich alles von selbst löste. Wer hatte noch nicht davon gehört, wie oft Leute direkt nach Erreichen des Pensionsalters schwer krank wurden oder starben? Das war leider keine Seltenheit.

      Es gelang ihm nur unter größter Kraftanstrengung, diese demoralisierenden Überlegungen abzuschütteln.

      Mein Gott: Er war doch nun wirklich kein geborener Pessimist – warum dann diese trüben Gedanken? Hatte er nicht Urlaub? Natürlich. Und da gab es dann doch wohl keinen Grund, hier auf einem der schönsten Marktplätze Schwedens über die Zukunft zu brüten und trüben Phantasien nachzuhängen.

      Reiß dich zusammen, Kerl!

      Er ging zu dem Kiosk auf der anderen Straßenseite und kaufte sich ein Eis, mit dem er zurück zu seiner Bank schlenderte. Er saß mit dem Gesicht der brausenden Fontäne des Springbrunnens zugewandt und ließ sich Eis und Freiheit schmecken.

      So hatte er schon oft den Sommerurlaub eingeläutet: mit einem Eis auf dem Stortorget (wenn es das Wetter zuließ, was meistens Anfang Juni der Fall war).

      Wenn er sich, so wie jetzt, einfach treiben ließ, kam die Urlaubsstimmung jedes Mal von ganz allein so langsam über ihn. Manchmal kam es vor, dass sich jemand neben ihn setzte, um sich eine Weile mit ihm zu unterhalten: Sten Wall war ein bekanntes Gesicht in der alten südschwedischen Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war und in der er fast alle seine Berufsjahre verbracht hatte.

      Obwohl er Polizist war – und sich dadurch automatisch und unweigerlich Feinde verschaffte –, war er in weiten Kreisen äußerst angesehen. Von den Gesetzestreuen wurde er als ein rechtschaffener Vertreter von Recht und Ordnung angesehen. Und von vielen Kriminellen wurde er zwar nicht direkt geliebt, aber jedenfalls einigermaßen respektiert, denn er spielte ein ehrliches Spiel.

      Der korpulente, glatzköpfige, gemütliche Kommissar war in der Stadt wohl bekannt. Er gehörte dazu, war geradezu Teil des Inventars.

      Heute schien es so, als sollte er mutterseelenallein auf seiner Bank sitzen bleiben. Während er sein Eis genoss, studierte er mit gedankenverlorener Miene das Haus hinter dem Springbrunnen. Das schwarzweiße Rathaus war immer schon sein Lieblingsgebäude gewesen, und er war nicht der Einzige, dem die stilvolle Schöpfung des ausgehenden 18. Jahrhunderts so gut gefiel. Touristen drückten oft ihre Bewunderung über das gut erhaltene Gebäude aus, das noch attraktiver geworden war, als es das einzige echte Zeichenmuseum Schwedens aufnahm.

      Durch das zarte Grün der vier Linden hinter den Wasserkaskaden des Granitbrunnens konnte Wall das Gartencafé erkennen, das zu einem der beiden Restaurants auf dem Marktplatz gehörte. Dort unter dem großen Sonnenschirmdach schien es keinen einzigen freien Platz mehr zu geben, aber schließlich war ja auch gerade Mittagszeit. Links von dem Restaurant lagen ein Friseursalon (der sich mittlerweile Studio nannte) und eine Buchhandlung.

      Früher hatte sich dort an Stelle der Buchhandlung eine Apotheke befunden, und mit einem Lächeln im Gesicht erinnerte Wall sich an den Tag, als er dort seine ersten Kondome gekauft hatte. Er hatte es so eingerichtet, dass er nicht vom Apotheker selbst oder einer der älteren, verbiesterten Apothekenhelferinnen bedient wurde, sondern genau in dem Moment zum Verkaufstresen vorschoss, als die jüngste Mitarbeiterin des Geschäfts – eine äußerst süße Blondine – frei war. Er hatte schon lange ein Auge auf sie geworden. Natürlich nur heimlich. In seinen pubertären Träumen hatte das blonde Mädchen schon seit langem die Hauptrolle inne, und jetzt war es Zeit für einen mutigen Vorstoß.

      Überlegen, fast nonchalant, hatte er mit männlich rauer Stimme seinen Wunsch vorgetragen, wobei er der jungen Frau frech und herausfordernd in die Augen schaute. Er wollte ihr mit seinem unbeschwerten, weltgewandten Verhalten imponieren (er war noch nie außer Landes gewesen – abgesehen von einem kurzen Besuch in Kopenhagen), und seine heimlichsten Gedanken liefen auf die Hoffnung hinaus, das Gekaufte mit der schönen Verkäuferin auszuprobieren. Aber sie hatte ihn eiskalt als den Grünschnabel angesehen, der er ja auch war, und ihm das Gewünschte gereicht, ohne eine Miene zu verziehen.

      Es war sehr ernüchternd gewesen.

      Heute konnte er sich nicht mehr daran erinnern, ob er diese Kondome überhaupt jemals benutzt hatte. Vermutlich war es eine vollkommen überflüssige Investition gewesen. Das Eis war aufgegessen und die Apothekenerinnerung verschwunden.

      Sten Wall stand auf, um diverse praktische Dinge zu erledigen. Als Polizist war er immer offen für neue Ideen. Er besaß eine lebhafte Phantasie und scheute sich nie, zu improvisieren und neue Wege auszuprobieren, wenn seine Ermittlungen in Sackgassen geführt hatten. Sein dahin gehendes Geschick hatte große Triumphe gefeiert und mehrere Male sogar nationale Aufmerksamkeit geweckt.

      Gierig sog er nach getaner Arbeit das Lob ein. Das Alter hatte seine Eitelkeit ganz und gar nicht vertrieben. Im Gegenteil: Sie hatte mit der Zeit sogar noch zugenommen.

      Als Kriminalkommissar war er also einfallsreich und in vielerlei Hinsicht modern. Privat gehörte er dagegen eher zu den Anhängern von Traditionen. Er fühlte sich in konservativen Routinen am sichersten. Deshalb verbrachte er auch seit mehr als zwanzig Jahren seinen Sommerurlaub in Allinge auf Bornholm. Und so gut wie jedes Mal läutete er den Urlaub mit einem Tag in Stad ein, um notwendige Dinge zu erledigen.

      Er musterte seine Liste, auf der bereits der erste Punkt abgehakt war: Ablieferung eines Teils der Wintergarderobe bei der chemischen Reinigung.

      Aber bis er sich durch die Liste durchgekämpft haben würde, war noch einiges zu tun.

      Er musste zur Post, zur Bank (unter anderem, um dänisches Geld einzuwechseln) und zu seiner Leib- und Magenzeitung Bladet (die Zeitungen sollten wie üblich für ihn gesammelt werden, damit er sie nach seiner Rückkehr abholen konnte).

      Und dann waren da all diese Kleinigkeiten, die bei ihm zu Hause erledigt werden mussten. Er wollte alles erledigt haben, damit er auch wirklich abschalten konnte, wenn er dann losfuhr.

      Er würde das Mittagessen ausfallen lassen und sich mit einer Banane begnügen. Weil er deutliches Übergewicht mit sich herumtrug, quälte er sich ab und zu mit psychisch niederschmetternden Diäten. Aber die Ferien ließ er sich niemals durch dieses Elend trüben. Auf der Märcheninsel in der Ostsee nahm er sich die Freiheit, nach Herzenslust zu essen und zu trinken. Wenn man Urlaub hat, dann auch richtig.

      Mit der Aussicht auf die bevorstehenden Gaumenfreuden – er liebte die dänische Küche – konnte er sich heute problemlos zurückhalten. Auf jeden Fall war es gut für den Charakter, sich selbst zu beweisen, dass man sich beherrschen konnte, auch wenn sich die Gelegenheit zum Sündigen bot. Natürlich ging er das Risiko ein, Kopfweh zu bekommen, aber den Hieb musste er schlimmstenfalls eben ertragen.

      Das Wetter war schön, und er hoffte auf ein wenig kleidsame Farbe für seinen allzu blassen Körper. Ansonsten kokettierte er nicht besonders mit seinem Aussehen, seine Eitelkeiten lagen auf einem anderen Feld, beispielsweise bei Komplimenten für gut ausgeführte Arbeit. Allerdings war eine bleiche, fette irdische Hülle ja nicht gerade etwas, womit man prahlen konnte oder was man gern unnötigerweise zur Schau trug.

      Gegen Nachmittag war er wieder in seiner Junggesellenhöhle in der Bergsgatan zurück, in der er schon jahrzehntelang wohnte. Die Wohnung war so langsam auf dem Weg zum Verfall gewesen, doch im letzten Winter hatte er einige notwendige Verbesserungen durchführen lassen. Einem der Zimmer hatte er ein wohlverdientes Gesichtslifting gewährt, und sämtliche Fenster hatten neue Rahmen bekommen. Die alten waren kurz davor gewesen, völlig zu verrotten, als er sie endlich austauschen ließ.

      Es wäre noch mehr erforderlich gewesen, um es wirklich so zu haben, wie er wollte, aber den Rest des Projekts hatte Wall lieber in die Zukunft verschoben. Ihm fehlte jedes praktische Geschick, er war auf fremde Hilfe angewiesen. Aber im Augenblick ertrug er es einfach nicht, Handwerker um sich zu haben. Es war eine Plage gewesen, diese ehrenwerten Arbeiter in seinem eigenen Heim herumspringen zu haben, deshalb würde es sicher noch eine Weile dauern, bis er sich wieder bei Kräften sah, um den nächsten Schwung an Tischlern, Maurern, Elektrikern und Malern in seinen vier Wänden zu empfangen.

      Umständlich und gewissenhaft füllte er seine beiden Reisetaschen. Die eine barg in erster Linie Bücher. Während seiner Aufenthalte in


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