Ehrenmord - Schweden-Krimi. Björn Hellberg

Ehrenmord - Schweden-Krimi - Björn Hellberg


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trinken.

      Plötzlich hatte er das Meer direkt vor sich. Es glitzerte in den Strahlen der Morgensonne. Die Ostsee versprach eine angenehme Überfahrt, ohne Seekrankheit.

      In einem Anfall von jubelndem Übermut trat er noch einmal kräftig aufs Gaspedal, bremste seine Geschwindigkeit aber ab, als er in Ystad einfuhr. Er war noch nie ein Raser gewesen. Auf der Autobahn hatte er an diesem Morgen einen Schnitt von acht, neun Stundenilometern über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit eingehalten, was dazu führte, dass er immer wieder von ungeduldigen Zeitgenossen überholt wurde.

      Als er fünf Minuten lang die Überholenden gezählt hatte, war er auf vierundzwanzig Fahrzeuge gekommen, inklusive eines norwegischen Fernlasters, er hatte genau gezählt – manchmal verschwendete er seine Energie auf derartig sinnlose Ideen.

      Wie immer war er mehr als rechtzeitig aufgebrochen. Das Leben war schon hektisch genug, man brauchte nicht noch selbst weitere Momente der Hektik einzubauen.

      Da es noch fast zwei Stunden bis zur Abfahrt der Fähre dauerte, entschloss er sich zu einem kleinen Spaziergang durch Ystads charmant verwinkeltes Zentrum. Er fand einen Parkplatz längs der Sjömansgatan und mischte sich unter die Passanten in den Straßen und auf dem Markt. Es war nicht zu übersehen, dass die Touristensaison begonnen hatte. Um ihn herum summte es von Stimmen, Sprachen und Dialekten, und es war so voll, dass er vom Fußweg auf die Fahrbahn hinuntergedrängt wurde.

      Aber niemand zeigte schlechte Laune. Nicht eine einzige Hupe ertönte.

      Wall kaufte eine Eiswaffel mit drei Kugeln – Pistazie, Rumrosine und Erdbeere – in einem Kiosk in der Nähe des St. Knuts torgs. Langsam schlenderte er zurück zu seinem Parkplatz. Er aß sein Eis mit solcher Schnelligkeit auf, dass ihm für Sekunden richtiggehend kalt wurde, dann machte er sich bereit für die kurze Fahrt zum Fähranleger.

      Er achtete genau darauf, die richtige Spur zu finden (er hatte keine Lust, plötzlich in Polen zu landen) und wettete mit sich selbst, welches Schiff ihn wohl nach Bornholm bringen würde.

      Die Jens Kofoed oder die Poul Anker?

      Er tippte auf Ersteres und bekam Recht.

      Obwohl er so früh da war, war er bei weitem nicht der Erste in der Schlange, hatte aber eine gute Startposition und konnte schließlich ganz vorn auf dem Backborddeck parken und dann ohne jeden Stress das Restaurant ansteuern. Da er einer der ersten Gäste war, hatte er die Möglichkeit, zwischen den vielen freien Tischen auszuwählen. Er entschied sich für eine rauchfreie Alternative mit Fensterblick, ließ sich dort nieder und steckte die Nase in die Speisekarte.

      Innerhalb der nächsten fünf Minuten war der Raum fast vollständig besetzt. Wall pries seine Voraussicht und war außerdem dankbar dafür, dass er ein ruhiges, gepflegtes Rentnerpaar als Tischnachbarn bekam. Das Risiko, während der zweieinhalb Stunden langen Überfahrt ermüdende Konversation betreiben zu müssen, war somit nur minimal.

      Der Kommissar warf sehnsuchtsvolle Blicke auf das gewaltige Heringsbüfett, das mitten im Saal thronte. Es sah bis ins letzte Dillsträußchen appetitanregend aus, aber trotzdem beschloss er, auf das verlockende Angebot zu verzichten und lieber à la carte zu speisen, obwohl das nicht so preisgünstig war.

      Für Wall war ein Heringsbüfett ohne Schnaps nur ein halbes Vergnügen, und da er ein eingeschworener Gegner der Kombination Auto fahren und Alkohol war, fiel ihm die Entscheidung nicht schwer. Es würde sich schon noch die Gelegenheit bieten, das eine wie das andere zu genießen. Dafür versprach er sich selbst, während des Urlaubs nicht einmal einen Gedanken an irgendwelche Schlankheitskuren zu verschwenden. Derartigen Kasteiungen würde er sich erst später wieder aussetzen, im Herbst, das war traditionell die Zeit für asketische Gedanken. Dann würde er ernsthaft seinem Übergewicht zu Leibe rücken, das der Distriktsleiter so herzlos als »ein unappetitlich glibbriges Aspikstück« zu bezeichnen pflegte.

      Wall war empfänglich für Boströms nadelspitzenscharfe Kritik, fand aber, dass sie nicht ganz gerechtfertigt war. Sicher, er war korpulent, aber ein wabbeliger Sumoringer war er ja nun auch nicht. Außerdem verliehen ihm die Rundungen eine gewisse Autorität, und das konnte in seinem Beruf durchaus von Nutzen sein.

      Die Jens Kofoed legte mit einem diskreten Ruck vom Kai ab, und Sekunden später gratulierte Wall sich zu seiner Entscheidung, auf das Heringsbüfett zu verzichten. Die übrigen Gäste stürzten sich auf die Leckereien, als hätten sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Brodelndes Chaos griff um sich.Teller fielen zu Boden, Gläser klirrten und wütende Wortwechsel folgten, bis die Schlangen sich organisiert hatten und das aufgebrachte Gemurmel über den Lachsscheiben, Krabbenschälchen, Aalvariationen, eingelegten Heringen, Salatschüsseln, den mit Mayonnaise garnierten Eihälften, dampfenden Wurst- und Frikadellengerichten und vielem anderem sich legte.

      Die Überfahrt verlief glatt. Das mächtige Schiff stampfte rhythmisch seinem Zielhafen zu. Die Ostsee war ruhig, beinahe tanzbodenglatt, und Wall fühlte sich, als säße er zu Hause in seinem Wohnzimmer und entspannte sich in seinem Fernsehsessel. Er nahm drei Gänge zu sich und genoss es, keine längeren Gespräche mit seinen Tischnachbarn führen zu müssen. Er tauschte nur die üblichen Höflichkeitsfloskeln mit ihnen aus, um das Schweigen nicht peinlich werden zu lassen. Ansonsten kümmerte sich jeder um sich selbst.

      Als der Kommissar schließlich aufs Autodeck zurückkehrte, versuchte er sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal eine derart angenehme Schifffahrt zwischen Ystad und Rönne erlebt hatte. Aber ihm fiel keine ähnlich entspannte Reise ein, und dabei hatte er schließlich seit mehr als zwei Jahrzehnten seinen Sommerurlaub auf Bornholm verbracht.

      Bei so einem Auftakt mussten die vor ihm liegenden Wochen ja herrlich werden.

      Ein Urlaub konnte gar nicht besser beginnen.

      Und es ging in gleichem Stil weiter.

      Er kam aus Jens Kofoeds dunklem und von Fischgeruch geschwängertem Inneren rechtzeitig und ohne Probleme heraus und musste seine Augen beschatten, um von dem strahlenden Sonnenschein nicht geblendet zu werden. Was für ein Wetter!

      Die gut zwanzig Minuten lange Autofahrt nach Allinge in der nordöstlichen Ecke Bornholms war eine Strecke voller Erinnerungen. Wall kannte hier jeden Meter und musste schmunzeln, als er entdeckte, dass es wie üblich in Hasle, dem größten Ort auf seiner Route, einen Schuhschlussverkauf gab.

      Wahrscheinlich wäre er tatsächlich etwas enttäuscht gewesen, wenn er das Schild mit dem Angebot nicht gesehen hätte; es machte ihn seltsam froh, so etwas Altem, Vertrautem wieder zu begegnen.

      Wohlbehalten am Ziel angelangt, parkte er seinen Wagen unerlaubterweise an der Östergaden vor dem Släktsgården. Er hoffte, dass er die anderen Verkehrsteilnehmer nicht stören würde, während er das schwerste Gepäck aus dem Kofferraum wuchtete und es auf dem Hof abstellte, bevor er weiterfuhr zu dem höchstens hundert Meter entfernten Parkplatz am Meer.

      In aller Eile holte er die Taschen aus dem Auto. Als er so weit war, fuhr er schnell wieder los, erleichtert darüber, dass er auf der schmalen Straße keinen Stau verursacht hatte.

      Nachdem er seinen Volvo an dem üblichen Platz vor der Herings- und Aalräucherei abgestellt hatte, fast direkt am Wasser, ging er zurück zu der Pension, die er im Laufe der Jahre als sein zweites Zuhause anzusehen gelernt hatte. Und er wurde von dem Besitzer Arvid Iversen in der üblichen Form begrüßt: mit echter Herzlichkeit und einigen Tuborgs. Iversen gönnte sich außerdem einige Sticheleien über die fehlenden blaugelben Fußballerfolge während der vergangenen Saison. Das konnte er sich problemlos leisten, da Dänemark sich im Gegensatz zu Schweden für die Weltmeisterschaft in Frankreich in diesem Sommer qualifiziert hatte. Einige der rotweißen Fans hatten in Zeitungsinterviews bereits optimistisch verkündet:

      »Das kann genauso schön werden wie bei der Europameisterschaft 1992.«

      Damals hatte Dänemark gewonnen; eine Tatsache, die Iversen dem fußballbegeisterten Wall gern unter die Nase rieb. Walls Hinweis auf Schwedens kürzlich errungenen 3:0-Sieg über die Erzfeinde wischte er mit einem lockeren Schulterzucken vom Tisch:

      »Das war ja nur ein Freundschaftsspiel!«

      Arvid


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