Das Ketzerweib. Werner Ryser

Das Ketzerweib - Werner Ryser


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zusammen, dass das auch mit ihr geschehen würde. Eines Tages.

      Und jetzt war dieser Tag gekommen. Ueli würde sie «erkennen». Im Bett, dort wo sie allein mit ihm war, ihm schutzlos preisgegeben.

      Sie war sich gewohnt, ihr Lager zu teilen. Zuhause im Waldhof hatten sie und die jüngere Schwester Lisa im selben Bett geschlafen. Sie hatten dort flüsternd ihre Geheimnisse ausgetauscht. Hatten sich erzählt, wenn ihnen ein junger Bursche im Dorf oder auf dem Viehmarkt schöne Augen machte. Wenn sie Streit hatten, dann versuchten sie, Rücken an Rücken einzuschlafen, möglichst ohne einander zu berühren. Wenn aber eine die andere mit dem Hintern anstiess, einmal, zweimal, dann hatten sie sich kichernd wieder versöhnt. Das Bett war wie ein Nest, der Ort der grössten Intimität und Geborgenheit. Und dort sollte sie jetzt mit einem Mann liegen, den sie kaum kannte.

      Ueli schob Anna sanft ins Haus. Er leuchtete ihr mit einer Kerze. Sie stiegen die Treppe hoch und neben der Kammer seiner Schwester Margrit öffnete er eine Tür. «Das ist unser Zimmer», sagte er. Eine bemalte Holzdecke, ein Kachelofen, ein riesiger Schrank, eine Truhe und ein grosses, breites Bett. «Das ist unser Zimmer», wiederholte er, «zieh dich aus und leg dich ins Bett. Ich muss nochmals hinunter.»

      Spürte er ihre Angst, ihre Verwirrung? Kaum war er draussen, zog sie sich das Mieder aus, schlüpfte aus dem Rock, löschte die Kerze, die Ueli auf die Truhe gestellt hatte, und legte sich im Hemd zwischen die Decken.

      Als er zurückkam, versteifte sie sich, presste die Beine zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hörte, wie er sich entkleidete, wie er niederkniete, flüsterte. Sie verstand nicht, was er sagte. Betete er? Dann stieg er ins Bett. Sie vermied jeden Körperkontakt mit ihm.

      Sie lauschte auf seinen Atem, spürte, wie ihr Herz klopfte.

      «Gib mir deine Hand», sagte er schliesslich. Zögernd tastete sie nach der seinen, die sich wie ein Dach, das Schutz und Schirm gibt, über die ihre legte. So lagen sie da: Hand in Hand. Anna entspannte sich. Er legte den Arm um ihre Schultern, zog sie an sich, zärtlich. «Du brauchst keine Angst zu haben», sagte er schliesslich, «ich werde nichts tun, wozu du nicht bereit bist. Wir haben Zeit, viel Zeit. Ein ganzes Leben lang.» Sie war erleichtert, rückte näher zu ihm, legte ihren Kopf auf seine Schulter. «Ein ganzes Leben lang», murmelte sie zufrieden. Dann schlief sie ein.

      3

      Ein ungewohntes Geräusch liess sie hochschrecken. Vergeblich suchte ihr Arm Ueli, an dessen Brust sie eingeschlafen war. Kein frühes Morgenlicht drang wie sonst in ihr Zimmer. War es noch Nacht? Verwirrt starrte sie in die Düsternis, die sie umfing. Dann fiel es ihr wieder ein. Ueli, wenn er überhaupt noch lebte, schmachtete in Ketten auf einer Galeere auf dem weiten Meer und sie lag nicht im breiten Ehebett, sondern im Kerker auf Schloss Trachselwald. Sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Mit der Erinnerung an ihre Festnahme meldete sich auch wieder der Schmerz, der ihren Rücken durchflutete.

      Das Geräusch, das sie geweckt hatte, stammte von der eisernen Klappe, mit der eine Luke in der Tür geöffnet wurde. Eine Hand war zu erkennen, die einen Krug und einen kleinen Laib Brot in die Öffnung stellte. «Nimm, trink und iss», sagte eine gleichgültige Frauenstimme. «Brot und Wasser ist alles, was Ketzer in den ersten sieben Tagen im Mörderchäschtli erhalten.» Das Licht erlosch. Anna hörte Schritte, die sich entfernten.

      Mörderchäschtli. Das Wort lastete auf ihrer Seele. Mörderkasten nannte man im Tal die engen Verliese auf Schloss Trachselwald, in denen Verbrecher den Tag ihrer Hinrichtung erwarteten. Aber sie hatte niemanden umgebracht, hatte keinem Menschen etwas zuleide getan. Sie war hier, weil sie, genau gleich wie ihr Mann, zur Gemeinschaft der Täufer gehörte.

      Die Frau, die ihr Brot und Wasser gebracht hatte, war Beth Wüthrich, das Weib des Büttels, der sie verprügelt und hierhergeschleppt hatte. Beth und Balz Wüthrich wurden im Tal verachtet. Niemand wollte mit ihnen zu tun haben. Sie hatten sich an die Obrigkeit verkauft. Ihr Handwerk galt als unehrlich. Und nun war sie, Anna Jacob, den beiden ausgeliefert. Auf Gedeih und Verderb.

      «Die ersten sieben Tage», hatte die Frau gesagt. Die ersten sieben. Also würden weitere folgen. Sie nahm das Brot in die Hand, drückte es gegen die Nase, roch daran. «Unser täglich Brot gib uns heute», flüsterte sie und liess sich auf ihr Lager sinken.

      Im Auenhof wusste man, was es bedeutete, täglich jenes Brot essen zu dürfen, für das man auf den Feldern arbeitete, die ein ferner Vorfahre dem Auenwald abgerungen hatte. Jedes Jahr im Frühling ging Anna, zusammen mit einer der beiden Mägde, ein paar Schritte Ueli hinterher, wenn er das Saatgut aus der Tasche holte, die er um die Schulter gehängt hatte, um es mit weit ausholenden, regelmässigen Bewegungen in den Acker zu streuen, der zuvor gepflügt und geeggt worden war. Die beiden Frauen rechten Erde über die Körner, um sie vor den gefrässigen Raben zu schützen, die krächzend über ihnen flatterten. In den folgenden Wochen machten sie sich nach der Art der Bauern Sorgen ums Wetter, bangten vor späten Frösten, hofften auf Regen oder Sonnenschein, je nachdem. Und wenn sie beim sonntäglichen Gang über die Felder die ersten Spitzen zartgrüner Halme entdeckten, die aus dem Erdreich brachen, blieben sie andächtig stehen. Ueli faltete dann die Hände und sandte einen stummen Dank hinauf zum pastellblauen Himmel, der sich über das weite Hügelland mit seinen Feldern und Wäldern und den verstreuten Höfen wölbte.

      Im August, wenn die an der Sonne golden gewordenen Ähren hoch standen und sich unter ihrer schweren Last im Sommerwind beugten, kam der Tag, an dem Ueli Taunern und Tagelöhnern ausrichten liess, man werde am nächsten Tag mit der Ernte beginnen. Und so standen die Männer, einer neben dem anderen, mit ihren Sensen in der Morgenfrühe auf dem Feld. Ueli gab das Tempo vor. Das Eisen blitzte auf und das Korn sank zu Boden, wo es, von den Mägden zu Garben gebunden, darauf wartete, auf den Wagen geladen und in die Scheune gebracht zu werden.

      Sobald der erste Schnee das Land zudeckte, war der Auenhof erfüllt vom Lärm der Dreschflegel, die, wie es Anna schien, den Takt zum grossen Lied von der Erde und ihren guten Gaben trommelten. Nichts sollte verloren gehen. Das reichlich bemessene Saatgut für das nächste Jahr wurde gelagert, das Stroh wurde im Stall dem Vieh unterlegt, das für das tägliche Brot bestimmte Korn wurde in grosse Säcke abgefüllt, mit denen man zur Mühle an der Ilfis fuhr, die Gottlieb Diepoldswiler gehörte, dem Bauern des benachbarten Lindenhofs.

      Tage später mischte Anna, zusammen mit den Mägden, in grossen Schüsseln das Mehl mit Hefe, Salz und Wasser und knetete es zu einem Teig, aus dem das erste Brot vom Korn dieses Jahres gebacken wurde.

      Noch immer hielt Anna Jacob in ihrem düsteren Verlies das harte Laiblein an die Nase gepresst. Sie brach ein Stück ab und kostete davon. Es war ein Roggenbrot aus lieblos gemahlenem Korn, das schlecht schmeckte. Der Müller hatte es nicht für nötig befunden, Krüsch und Mehl zu trennen. Anna hätte ein solch billiges Mehl zurückgewiesen. Aber vielleicht wollte es Beth Wüthrich nicht anders. Sie erhielt für die Verköstigung der Gefangenen einen festen Betrag. Alles, was übrig blieb, gehörte ihr.

      Anna setzte sich auf ihr Lager. Ihr wurde bewusst: Sie würde in der nächsten Zeit hungern müssen. Auch nach den sieben Tagen, an denen sie auf eine Diät von Wasser und Brot gesetzt war. Was immer man ihr an Nahrung vorenthielt, bedeutete für die Wüthrichs zusätzliche Einnahmen.

      Sie selber hätte sich geschämt, am Essen für die Knechte und Mägde zu sparen. Natürlich kannte man Zeiten, in denen die Ernte schlecht ausfiel. Aber dann gab es für alle weniger. Margrit Jacob hatte ihr stets eingeschärft, es schicke sich nicht, dass der Bauer und die Bäuerin bei Tisch besser gestellt seien als die Bediensteten.

      Die gute Margrit. Sie war Annas Lehrmeisterin. Jeden Morgen, noch vor dem Frühstück, besprach sie mit der jungen Schwägerin, was zu tun sei in der Hofstatt, im Pflanzplätz und im Hühnerstall. Später, in der Küche, teilte Anna den beiden Mägden die Arbeit zu. «Jungfer Margrit wünscht», sagte sie oder: «Jungfer Margrit will.» Wenn etwas unklar war, hiess es: «Wartet einen Augenblick, ich will schnell Jungfer Margrit fragen.» War etwas unordentlich erledigt, zog sie die Brauen hoch: «Das wird Jungfer Margrit nicht gern hören, wenn ich es ihr erzähle.»

      Anna fühlte sich den beiden gegenüber unsicher.


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