Das Ketzerweib. Werner Ryser

Das Ketzerweib - Werner Ryser


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nicht zu schaffen. Ab und zu hatte sie schlicht geschwänzt. So war es gekommen, dass sie Gedrucktes nur mühsam, Handschriftliches gar nicht lesen konnte.

      «Wer nicht lesen kann», sagte Margrit und schaute sie an, «kann die Wahrheit nicht selber erkennen. Er muss sich auf das verlassen, was andere sagen, und er weiss nie, ob das auch wahr ist oder nicht.»

      «Aber ich vertraue euch doch!»

      «Vielleicht kommt einmal die Zeit, wo du allein hier auf dem Hof bist», die Schwägerin ging nicht auf Annas Einwand ein, «dann wirst du froh sein, wenn du in der Schrift deinen Trost findest. Wir beginnen gleich heute damit, dein Wissen aufzufrischen.» Sie griff nach der Froschauer-Bibel und schlug das 5. Kapitel des Matthäusevangeliums auf. «Lies!»

      Anna wollte widersprechen, aber Ueli nickte ihr aufmunternd zu. Und so entzifferte sie stotternd die ersten Sätze der Bergpredigt: «Da er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm …» Schweisstropfen standen auf ihrer Stirn, während ihr Zeigefinger den Buchstaben folgte. Sie kämpfte mit einzelnen Wörtern, verhedderte sich. Schliesslich verstummte sie. «Ich kann das nicht», schluchzte sie.

      «Natürlich kannst du es», die Schwägerin streichelte ihre Hand. «Von heute an wirst du jeden Abend einen Abschnitt aus der Schrift lesen. Du wirst sehen, bald wird dir der Text nicht nur fliessend über die Lippen gehen, du wirst ihn auch ebenso gut auslegen können wie der Prädikant.»

      Ueli sog hörbar Luft ein. «Margrit!», sagte er mahnend.

      «Vielleicht noch besser als der Prädikant, der nur den Gnädigen Herren nach dem Mund redet», sagte seine Schwester und starrte ihn herausfordernd an.

      «Ich will nicht, dass du ihr Flausen in den Kopf setzt.» Anna erschrak. Ihr Mann hatte, was ungewöhnlich für ihn war, die Stimme erhoben und schien zornig zu sein.

      Die Jahre zwischen 1677 bis 1687, die Anna mit Ueli Jacob auf dem Auenhof verbringen durfte, waren eine gute Zeit. Man hatte weder über zu lange Winter noch zu trockene Sommer zu klagen. Mensch und Vieh blieben vor grossen Seuchen ebenso verschont wie vor Hunger und vor Krieg. Auch vor Wassernot und Feuersbrünsten, den Geiseln des Emmentals, blieb man bewahrt. Nicht dass es keine Schicksalsschläge gegeben hätte. In diesem Jahrzehnt hielt der Tod dreimal bei ihnen Einkehr. Aber das gehörte zum Leben. Alles in allem war es, als gönne der Himmel dem Paar vor der grossen Heimsuchung, die ihr gemeinsames Leben zerstören sollte, eine Atempause.

      Uelis Schwester war die Erste, die der Tod mit sich nahm. So traurig es auch war, dass sie von ihnen ging, Anna hatte ihr Sterben erwartet. Margrit hatte es ja bereits am Tag ihrer Hochzeit angekündigt. Sie durfte noch erleben, dass die junge Schwägerin anfangs November 1678 ein zweites Kind, Ursula, zur Welt brachte. Man stellte tagsüber die Wiege mit dem kleinen Menschlein neben ihren Sessel. Und während der einjährige Hannes schwankend und mit unsicheren Schrittchen die Kammer seiner Tante erkundete, hielt sie das Geschöpfchen, in dessen staunende Augen sie ganz vernarrt war, in ihren Armen.

      Nach dem frühen Tod ihrer Eltern hatte sich Margrit ausschliesslich dem fünfzehn Jahre jüngeren Ueli zugewandt, hatte ihn grossgezogen und tatsächlich sah er in ihr mehr die Mutter als die Schwester. Sie war ledig geblieben. Wegen ihm? Für ihn? Ob sie je einen Liebsten gehabt hatte, wusste niemand. Sie selber sprach nie darüber. Worüber sie aber oft redete, das war ihre Sehnsucht nach Kindern. Hannes und Ursula erfüllten sie mit grosser Freude. Sie liebte die zwei vorbehaltslos und uneingeschränkt.

      Eines Tages, als Anna die Kleinen zu Margrit bringen wollte, lag die Schwägerin, entgegen ihrer Gewohnheit, noch im Bett. Ihr Atem ging flach und sie konnte nur mühsam sprechen: «Es geht zu Ende», keuchte sie, «hol Ueli.»

      Er setzte sich an ihren Bettrand und hielt ihre Hand. Anna war mit den Kindern unter der Tür stehen geblieben. Sie spürte: Jetzt, in der Stunde des Abschieds, mussten die Geschwister allein sein. «Ich könnte besser sterben», hörte sie Margrit flüstern, «wenn ich wüsste, dass du dich taufen liessest.»

      Anna sah, wie Uelis Körper steif wurde.

      «Die Seligkeit», keuchte Margrit und richtete sich halb auf, «die ewige Seligkeit.» Ihr gütiges Gesicht drückte eine grosse Qual aus. Sie umklammerte seine Hand. «Versprich es mir.»

      Nach einer Unendlichkeit, so schien es Anna, nickte ihr Mann. Er sah aus wie einer, dem gegen seinen Willen ein Versprechen abgerungen worden war.

      Margrit sank ins Kissen zurück. Sie lächelte. Ihre Züge entspannten sich. Dann tat sie einen tiefen Atemzug.

      «Es ist vorbei», sagte Ueli. Es klang fast verwundert.

      Während der Abdankungsfeier, zu der Menschen aus allen umliegenden Dörfern in die Langnauer Kirche gekommen waren, dachte Anna über die letzten Worte der verstorbenen Schwägerin nach. Weshalb sollte sich Ueli taufen lassen? Hatte man ihn denn nicht als Kind bereits getauft? Sie wusste, dass sie ihn nicht danach fragen durfte. Immer wenn die Rede auf kirchliche Rituale kam, verschloss er sich. Sie hatte sich daran gewöhnt, aber sie schwor sich, dass sie das Rätsel lösen würde.

      Anna vermisste Margrit, die seit ihrer Heirat mit Ueli immer mehr zu ihrer Vertrauten geworden war. Manchmal, wenn sie sich ärgerte, weil Christine oder Lisa die Arbeit nachlässig verrichteten, dachte sie: «Das muss ich mit Margrit besprechen.» Dann fiel ihr ein, dass das nicht mehr möglich war. Ueli hatte sich seit dem Tod der Schwester in sich selbst zurückgezogen. Er mochte am Abend nicht mehr mit Anna zusammen in der Schrift lesen. Stattdessen entdeckte sie, dass er nun nachts oft aus dem Bett stieg und sich an den Tisch setzte, um beim Licht einer Kerze die Bibel zu studieren. Sie stellte sich schlafend, beobachtete aber aus halb geschlossenen Augen, wie er dasass, den Kopf in den Händen vergraben. Manchmal seufzte er, als liege ihm eine schwere Last auf dem Herzen. Nein, es war nicht so, dass er sich von ihr abwandte, aber ihn schien etwas umzutreiben.

      Anna war klar, dass auch für sie eine neue Zeit angebrochen war. Der Tod der Schwägerin und die Beschäftigung ihres Mannes mit sich selbst machten ihr deutlich, dass sie lernen musste, ihren Weg allein zu suchen. Bereits an Lichtmess spürte sie, wie sich in ihrem Leib neues Leben regte. «Werden und Vergehen», dachte sie und sagte zu Ueli: «Wenn es ein Mädchen wird, werden wir es auf den Namen Margreth taufen lassen. Sie soll in ihr weiterleben.»

      Ihr Mann sah sie lange an. «Darüber entscheidet Gott allein», sagte er schliesslich.

      Gott entschied anders. Das Kind, es war in der Tat ein Mädchen, kam tot zur Welt. Es habe sich mit der Nabelschnur stranguliert, erklärte Gret Fridlin, die Hebamme. Anna war untröstlich. Sie wollte es nicht wahrhaben, drückte das kalte, steife Körperchen an sich, rieb es, versuchte ihm Wärme zu spenden, hauchte ihren Atem zwischen die blutleeren, schmalen Lippen. Als Ueli die kleine Leiche vorsichtig aus ihren Armen löste, weinte sie herzzerbrechend.

      Lisa, ihre Schwester, die während der Geburt dabei gewesen war, hielt schweigend Annas Hand.

      «Du wirst dem Pfarrer melden, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist», sagte Ueli zu Gret. «Ich werde es im Bungert begraben.»

      Später folgte ihm die Hebamme hinters Haus. Sie brachte den Mutterkuchen mit. «Leg ihn zum Kind», sagte sie, «und pflanz dann ein Bäumchen aufs Gras, damit etwas aus ihm herauswächst, an dem sich deine Frau später freuen kann.» Schweigend schaute sie zu, wie Ueli das Grab zuschaufelte und lange im stillen Gebet davor verharrte.

      Es war nicht ungewöhnlich, dass Kinder starben. Man wusste: Von dreien würden nur zwei das Erwachsenenalter erreichen. Das änderte aber nichts daran, dass Anna lange um die kleine Margreth trauerte. «Ich komme einfach nicht darüber hinweg, dass wir sie ungetauft der Erde zurückgeben mussten», sagte sie eines Nachts, als Ueli wieder bei Kerzenlicht am Tisch sass und in der Bibel las.

      Erstaunt wandte er sich um. Er hatte geglaubt, sie schlafe: «Was ist denn so schlimm daran?»

      «Es ist wegen der ewigen Seligkeit.»

      «Wer sagt denn, dass ein Kind, das nicht getauft worden ist, nicht in den Himmel kommt?»

      «Alle sagen es. Auch der Prädikant.»

      «Und


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