Das Ketzerweib. Werner Ryser
den man ihr damals abverlangt hatte. Im Übrigen sei es ihr und ihresgleichen von der Obrigkeit untersagt, eine Frau zum Pressen zu drängen, um die Geburt zu beschleunigen. Ebenso dürfe sie weder Zangen, Eisen, Haken oder dergleichen verwenden, um das Kind herauszuziehen. Diese Vorschriften seien durchaus in Ordnung. Alles, was sie tun könne, sei durch geschickte Handgriffe oder das Umlagern der Kindbetterin zu versuchen, die Geburt günstig zu beeinflussen. Das andere überlasse man am besten der Natur.
Gret Fridlin in ihrer schwarzen Amtstracht und den roten Strümpfen war Anna etwas unheimlich.
Ob sie das Kind auch bis spätestens vierzehn Tage nach der Geburt taufen lassen werde, erkundigte sich die Frau zwischen zwei Wehen und sah sie prüfend an.
Anna wusste, dass die Hebammen gehalten waren, das geistliche Gericht zu unterstützen. Die sechs vom Landvogt ernannten Chorrichter hatten für einen sittlichen Lebenswandel in ihren Kirchgemeinden zu sorgen. Mit Geldbussen oder ein paar Tagen Haft bestraften sie Vergehen wie uneheliche Schwangerschaft, Ehestreit, Trunksucht, mangelnden Kirchenbesuch, Spiel, Tanz und Kleiderpracht. Besonders aber bestanden sie darauf, dass die neugeborenen Kindlein rechtzeitig getauft wurden.
«Natürlich werde man das Kleine taufen», sagte Anna, die bleich und erschöpft auf dem Bett lag.
Sie habe auch nichts anderes erwartet, brummte die Hebamme und wischte der jungen Frau mit einem feuchten Tuch den Schweiss von der Stirn. Sie sei überzeugt, dass die Jacobs nicht zu den Altevangelischen gehörten, die die Kindstaufe verweigerten und sich heimlich versammelten, um das Wort Gottes eigenmächtig auszulegen.
Draussen graute bereits der Morgen des 27. Dezembers, als Gret Fridlin Anna ein schreiendes Menschlein mit hochrotem Kopf in den Arm legte. «Es ist ein Bub», sagte sie und ging dann zur Tür. «Ein Bub!», rief sie.
Ueli, der die ganze Nacht gewartet hatte, kam mit grossen Schritten in die Kammer. Anna hielt ihm das Kind entgegen. Ganz vorsichtig nahm er es in seine grossen, abgearbeiteten Hände. Er senkte den Kopf. Tränen liefen über seine Wangen. «Ein Bub», flüsterte er, «ein Bub.»
«Wie soll er denn heissen?», erkundigte sich die Hebamme.
«Johannes», sagte der Bauer und schniefte.
«Das ist recht so», nickte sie, «heute ist der Namenstag des Evangelisten Johannes.»
Anna öffnete den Mund, um zu sagen, dass das Kind nach dem Täufer genannt werde, als sie sah, dass Ueli fast unmerklich den Kopf schüttelte und die Lippen zusammenpresste.
4
Anna Jacob wusste nicht mehr, wie lange sie schon in ihrem elenden Loch im Bergfried von Schloss Trachselwald lag. Sie hatte jedes Gefühl für die Zeit, die sich im Kreis zu drehen schien, verloren. Lediglich das Dämmerlicht, das durch das kleine vergitterte Fensterlein in ihre furchtbare Einsamkeit drang, und die Dunkelheit zeigten ihr den Wechsel von Tag und Nacht an.
Sie wurde nicht verhört, weder vom Landvogt noch von seinem Stellvertreter. Vielleicht sollte sie an diesem Unort verrotten. Das einzige Zeichen, dass man sie nicht vergessen hatte, war die Hand der Wärterin, die ihr am Morgen einen Krug mit Wasser und einen kleinen Laib Brot durch eine schmale Öffnung in der Türe des Verlieses schob. Später trat Beth Wüthrich in die Zelle, um den Kübel, in den Anna ihre Notdurft verrichtete, zu leeren. Aber sie sprach nicht mit ihr. Auch wenn die Gefangene sie anflehte, ihr wenigstens zu sagen, wie es ihren Kindern ging, die sie auf dem Auenhof zurückgelassen hatte, blieb sie stumm.
Die Auflehnung, die sie zu Beginn ihrer Kerkerhaft schreiend gegen die Türe aus Eichenholz hatte schlagen lassen, war einer dumpfen Verzweiflung gewichen. Anna weinte jetzt oft. Sie litt unter dem Gestank und dem Ungeziefer. Der Hunger machte sie schwach. Manchmal versank sie in einen leichten Dämmerschlaf, aus dem sie wieder hochschreckte, wenn eine Ratte, die den Weg in ihr Verlies gefunden hatte, an ihrem von der Eisenschelle blutig gescheuerten Knöchel schnupperte. Der einzige Trost, der ihr blieb, war die Rückschau auf die zehn Jahre zwischen ihrer Hochzeit mit Ueli und der Geburt ihres Jüngsten, des inzwischen sechsjährigen Daniel.
In ihrer Erinnerung wurde diese Zeit zu einem einzigen Lobgesang auf das Leben, auf das Bauernjahr mit seiner Aussaat, Reife und Ernte, auf den Wechsel von Regen und Sonnenschein, auf den Sommerwind, der einem zärtlich das Haar zerzauste, auf das kühle Wasser aus dem Brunnen, das man nach einem heissen Augusttag auf dem Feld über Nacken und Rücken rinnen liess, auf die nebligen Morgen im September, durch die siegreich die Sonne brach, auf den Westwind, der im November schwere Regenwolken vor sich hertrieb, auf den ersten Frost und auf den Schnee, unter dem die Wintersaat geduldig auf das Frühjahr wartete.
In all diesen Jahren wurden die Menschen auf dem Auenhof von der mütterlichen Erde mit der Fülle ihrer Gaben beschenkt. Nahrung war für alle da, für Meistersleute, Mägde, Knechte, Tagelöhner. Auch für Bettler und Landstreicher stand immer ein Teller Suppe bereit, denn was man den Armen gab, das gab man dem lieben Gott.
Zu Johanni trieb man das Vieh auf die Lüderenalp, von wo aus man einen überwältigenden Blick auf die mit ewigem Schnee und Eis bedeckten Alpen hatte, die von der Grösse des Schöpfers kündeten. Und während der Senn und seine Leute, denen die Bauern ihre Herden anvertrauten, in den Sommermonaten die Milch verarbeiteten und zu Michaelis mit grossen Laiben Hartkäse zurückkehrten, brachte man auf dem Auenhof die Heu-, später die Getreide- und schliesslich die Obsternte ein. Was man nicht selber brauchte, wurde auf dem Markt in Langnau oder in Bern verkauft.
Auch im Winter, wenn das Vieh wieder im Stall stand und der Speicher bis unters Dach gefüllt war, gab es genug zu tun. Zusammen mit den Knechten drosch Ueli das Getreide oder schlug Holz im Wald. Anna und die Mägde sassen am Spinnrad, sie flochten aus Weidenruten Körbe und banden Besen, während Margrit in ihrer Kammer stickte und auf den kleinen Hannes aufpasste, der eben erst laufen gelernt hatte.
Meistersleute und Gesinde auf dem Auenhof waren eine grosse Gemeinschaft. Man sass zusammen am Tisch und feierte miteinander die Feste im Ablauf des Jahres. Hansjakob, der Grossknecht, gehörte als Verwandter ohnehin zur Familie. Er würde den Auenhof kaum verlassen. Anders der Melker, der Karrer und die beiden Mägde. Mit ihnen schloss man jeweils auf Neujahr für weitere zwölf Monate einen Vertrag ab. Manchmal wollten sie ihn nicht mehr erneuern. Sie zogen einen Hof weiter, wurden Pächter oder heirateten wie Therese. Ihre Stelle übernahm Annas jüngere Schwester Lisa. Sie wollte nicht dem jüngsten Bruder als Magd dienen, der nach dem Tod des Vaters den Waldhof in Ramsei bewirtschaftete. Lisa, die ein sonniges Gemüt hatte, brachte Leben und Fröhlichkeit mit. Sie war allseits beliebt. Ueli lud sie ein, an den abendlichen Lesungen teilzunehmen. Nachdem sie ein- oder zweimal dabei gewesen war, kam sie aber nicht mehr. Das sei nichts für sie, befand sie. Es genüge, wenn sie sonntags in die Predigt gehe.
Ihr Mann und seine Schwester, fand Anna, waren gebildete Menschen. Sie besassen ein halbes Dutzend Bücher, die in Margrits Kammer aufbewahrt wurden. Eines davon hiess «Pflantz-Gart». Geschrieben hatte es Daniel Rhagor, der vor einem halben Jahrhundert Landvogt in Gottstatt am Bielersee gewesen war. Während ihn die Ausführungen des Autors zum Rebbau kaum interessierten, blätterte Ueli immer wieder in den Kapiteln über Gemüse und Obst. Hinter dem Haus zog man für den Eigenbedarf Kohl, Rüben, Hülsenfrüchte, Lauch, Zwiebeln und mehr. Seit ihrer Heirat kümmerte sich Anna um diesen Garten. Manchmal las Ueli ihr vor, wie man im Jahreslauf für die Pflanzen sorgen sollte.
«Weshalb lässt du sie nicht selber lesen?», fragte Margrit, ohne den gesenkten Blick vom Stickrahmen zu heben.
«Ja, weshalb eigentlich nicht?» Die Geschwister schauten Anna fragend an.
Sie hob abwehrend die Hände. «Ich kann nicht gut lesen.»
Natürlich hatte Anna in Sumiswald die Schule besucht. Wie alle Kinder in der Berner Landschaft war sie vom Dorflehrer, der nebenbei eine Schusterwerkstatt betrieb, in den Wintermonaten unterrichtet worden. Mit Hilfe der Rute hatte der schlecht besoldete Mann seinen Zöglingen die Buchstaben und Zahlen eingebläut, später dann den Heidelberger Katechismus. Anna hatte oft gefehlt. Gründe dafür gab es mehr als genug: Als Älteste musste sie der Mutter im Haushalt helfen und hatte die kleineren Geschwister