Das Ketzerweib. Werner Ryser
in einen grossen Hof zu heiraten und waren damit zu einem Leben als Dienstboten bestimmt. Sie nahmen die Anweisungen der jungen Meisterin entgegen, führten sie auch aus, brachten aber, ohne dass es dazu irgendwelcher Worte bedurft hätte, zum Ausdruck, dass sie sie nur wegen ihrer Stellung akzeptierten.
Als sich Anna darüber einmal bei Margrit beklagte, lachte sie die Ältere aus. «Wie sollen sie dich anerkennen, wenn du dich immer auf mich berufst.» Und tatsächlich, als Anna gelernt hatte, «Ich will» zu sagen und «Ich wünsche», als sie einmal Christine mit den Worten «Damit bin ich nicht zufrieden» tadelte und ihr zeigte, wie sie die Arbeit erledigt haben wollte, spürte sie zum ersten Mal, dass sie respektiert wurde.
Am Abend, wenn das Tagwerk getan und das Essen abgeräumt war, sass sie mit den Mägden in der Stube am Spinnrad oder am Webstuhl. Manchmal strickten die drei Frauen Strümpfe oder besserten die Kleider des Bauern und der Knechte aus. Wenn sie Christine und Therese dann in ihre Kammer schickte, ging sie mit Ueli hinauf zu Margrit. Für sie war es die beste Zeit des Tages.
Ueli, dem auffiel, dass seine junge Frau aus der Bibel nur einzelne Geschichten kannte und deren Sinn kaum begriff, bat seine Schwester, ihnen jeden Abend einen Abschnitt aus dem Markusevangelium vorzulesen. Anschliessend diskutierten sie über das Gehörte. An eine der Lesungen erinnerte sich Anna besonders gut. Es handelte sich um die Taufe Jesu durch Johannes Baptista. «Der Herr muss damals dreissig Jahre alt gewesen sein», sagte Ueli, als Margrit geendet hatte, und schaute sie, wie ihr schien, durchdringend an. Auch die Schwägerin, welche die Heilige Schrift auf den Beistelltisch gelegt hatte, musterte sie neugierig aus ihren grünen Augen. Anna glaubte zu spüren, dass die Geschwister von ihr eine Reaktion erwarteten.
«Dreissig Jahre alt», wiederholte ihr Mann, «er war also längst erwachsen.»
Das Wort «Erwachsenentaufe» fiel ihr ein. War Jesus bereits als Kind getauft worden? Sie wusste es nicht. Falls ja, weshalb hatte er sich ein zweites Mal taufen lassen? Aus Angst, sich damit blosszustellen, wagte sie es nicht, zu fragen. Vielleicht war ihr bei der Lesung etwas entgangen. Ihr Blick fiel auf die Bibel auf dem Tisch. Das mit Holzschnitten reich verzierte Titelblatt hatte sie stets fasziniert. Die Bilder erzählten die Geschichte von der Erschaffung der Welt bis hin zum Sündenfall. Auf einem weissen Feld in der Mitte war zu lesen: Die ganze Bibel der ursprüngliche Ebräischen und Griechischen wahrheyt nach auffs aller treüwlichest verteutschet. Und unten auf dem weissen Feld stand: Getruckt zu Zürich bey Christoffel Froschouer im Jahr als man zalt M.D.XXXI.
«Das ist die schönste Bibel, die ich je gesehen habe», sagte sie schliesslich, um das Schweigen zu brechen. «Zuhause in Ramsei haben wir eine andere. Der Prädikant von Sumiswald hat sie uns empfohlen.»
Margrit lächelte. «Das ist die Staatsbibel, die man auch im Unterricht verwendet. Sie wurde von Johannes Piscator, einem Professor an der Hohen Schule von Herborn, ins Deutsche übertragen. Seine Enkelin war mit einem Berner Ratsherrn verwandt. Die Gnädigen Herren lassen sie zum ausserordentlich günstigen Preis von zweiundzwanzig Batzen verkaufen. Wir ziehen allerdings die Froschauer-Bibel vor. Ulrich Zwingli selber hat sie, zusammen mit seinem Freund Leo Jud, übersetzt. Die Worte des Herrn sind hier genauer wiedergegeben.»
«Und nur darauf kommt es an, wenn wir die Frohe Botschaft richtig verstehen wollen», fügte Ueli hinzu. Wieder schauten die Geschwister Anna erwartungsvoll an. Dann lächelten sie sich zu. Es schien, als seien sie stillschweigend zum Schluss gekommen, es sei noch nicht an der Zeit, die Frau und Schwägerin in ein Geheimnis einzuweihen, von dem nur sie wussten. «Es ist Schlafenszeit», meinte Ueli schliesslich.
An diesem Abend lag Anna lange wach im Bett. Sie spürte, dass ihr Mann und seine Schwester ihr etwas Wichtiges vorenthielten, aber sie erriet nicht, um was es sich handelte.
Ein paar Tage später wollte Anna von Margrit wissen, wer dieser Froschauer gewesen sei, der ihre schöne Bibel gedruckt habe.
«Stoffel Froschauer?» Die Schwägerin lächelte. «Er war der erste Buchdrucker in Zürich und gehörte zum Freundeskreis Zwinglis. Berühmt geworden ist er nicht nur wegen der prachtvollen Ausgabe der Heiligen Schrift, die in seiner Offizin hergestellt worden ist, sondern auch, weil er und seine Gesellen am ersten Sonntag der Fastenzeit vor hundertsiebzig Jahren mit einem Wurstessen ganz bewusst das Fastengebot brachen.»
«War das denn so schlimm?» Anna, die wie ihre Eltern und Grosseltern in der reformierten Tradition erzogen worden war, hatte sich nie Gedanken über das vorösterliche Fasten gemacht.
«Ob das schlimm war?» Margrit schüttelte den Kopf über so viel Unkenntnis. «Das will ich meinen! Für diese Männer war es ein Akt der evangelischen Freiheit. Und ein Jahr später hob der Grosse Rat von Zürich, der Zwinglis Bibelauslegung übernommen hatte, alle Fasten-Gesetze auf. Die Würste von Froschauer gehören zur Geschichte unseres reformierten Glaubens.»
Jetzt im dunklen und engen Mörderchäschtli auf Schloss Trachselwald, mit einem einzigen Laiblein Roggenbrot und einem Krug Wasser, fiel Anna Jacob dieses Gespräch mit ihrer längst verstorbenen Schwägerin wieder ein. In den Jahren, die seither vergangen waren, hatte sie gelernt, die Bedeutung des Wurstessens zu verstehen, so wie sie gelernt hatte, dass der wahre Glaube nicht bei der Staatskirche, sondern allein bei den kleinen Täufergemeinden zu finden war, die im täglichen Leben das Wort Gottes erfüllten. Beschämt musste sie sich aber eingestehen, dass der Gedanke an das Essen in Froschauers Werkstatt das Bild von Würsten, Schinken und Speck heraufbeschwor, die zuhause im Räucherofen hingen. Ihre erste Schwangerschaft und die Hungerattacken, die zu stillen sie Ueli stets liebevoll gedrängt hatte, fielen ihr ein.
Schon kurz nach der Hochzeit blieb die Monatsblutung aus. Von ihrer Mutter wusste Anna, was das zu bedeuten hatte. An Pfingsten war sie sich sicher: Sie trug ein Kind im Bauch. Ueli, als sie sich ihm anvertraute, schloss sie in seine Arme. Er war bewegt. «Ein Kind», sagte er und seine Stimme zitterte ein wenig, «wir bekommen ein Kind!»
Auch Margrit strahlte. «Es wird weitergehen», meinte sie. «Eine neue Generation wird heranwachsen und einmal den Hof übernehmen. Hoffentlich bin ich bei der Geburt noch da.»
Dieses erste Jahr nach ihrer Heirat war für Anna eine glückliche Zeit. Ihr war, als würde sie im gleichen Mass in ihre Rolle als Bäuerin hineinwachsen, wie das Kindlein in ihrem Leib grösser wurde. Sie musste sich gegen die Fürsorglichkeit von Ueli wehren, der es nicht gerne sah, dass sie neben der Arbeit im Haus auch auf dem Feld mithalf. «Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit», lachte sie ihn aus, «meine Mutter hat jeweils bis zum letzten Tag geschuftet und ich und meine Geschwister haben dabei keinen Schaden genommen.»
An einem Augustabend, nachdem man tagsüber das Korn geschnitten und zu Garben gebunden hatte, sassen sie bei Margrit, die aus der Schrift vorlas. Anna schien ganz in Gedanken versunken. Sie lächelte.
«Was hast du?», fragte Ueli, der sie beobachtete.
Sie nahm seine Hand und legte sie auf die Wölbung ihres Bauches. Margrit liess die Bibel sinken. Ueli runzelte die Stirn. Dann ging ein Lachen über sein Gesicht. «Es bewegt sich», sagte er.
Auch die Schwägerin wollte das Kindlein spüren. «Siehe, da ich die Stimme deines Grusses hörte, hüpfte mit Freuden das Kind in meinem Leibe», zitierte sie aus dem Gedächtnis. «Lukasevangelium, Erstes Kapitel», fügte sie hinzu und nickte bedeutungsvoll.
«Welches Kind?», wollte Anna wissen.
«Johannes, der später den Herrn im Jordan taufte», erklärte Ueli, «auch unser Kind wird einmal Johannes heissen.»
«Und wenn es ein Mädchen ist?»
«Es wird ein Sohn sein.»
Es war ein Sohn. Am zweiten Weihnachtstag setzten die Wehen ein. Gegen Abend liess Ueli die Hebamme von Langnau, Gret Fridlin, holen. Sie war eine Witfrau, eine erfahrene Geburtshelferin, deren eigene Kinder längst erwachsen waren. Während die Abstände zwischen den Wehen kürzer wurden, sass sie neben Annas Bett. Sie trank einen Becher Hypocras, den ihr Ueli, der aus dem Schlafzimmer verbannt worden war, hatte bringen lassen, und erzählte von ihrer Vorgängerin, von der sie vor zwei Jahrzehnten in ihr Handwerk eingeführt worden war, und von der Frauengemeinde, vor der sie ihre Prüfung hatte