Ultramarin. Henrik Tandefelt
denn Ingbritt?«, frage ich, während ich ein Auge auf das ›Hufvudstadsbladet‹ werfe, das aufgeschlagen auf dem Frühstückstisch liegt. Ein Journalist namens Sandbacka hat einen politischen Kommentar geschrieben.
»Die überlegt gerade, sich selbstständig zu machen.«
»Also hat sie noch keine Stelle gefunden? Keine neue Schule in Sicht?«
»Nein, sieht nicht so aus. Es sei denn, sie will jeden Tag zwischen Boköping und Stockholm hin- und herpendeln. Bei uns in der Gegend tut sich gar nichts. All die vollmundigen Wahlversprechen, das Schulangebot zu erweitern, sind doch längst wieder vergessen. Was machen Bella und Muffins?«
»Denen geht’s ausgezeichnet.«
»Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich einen alten Freund und Kollegen in Helsinki habe?«
»Kann mich nicht erinnern«, antworte ich und befürchte, dass Lindström nun auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen kommt.
»Olli Mustonen. Ich habe ihn mal auf einer Konferenz der Nordischen Länder kennen gelernt. Er spricht fließend Schwedisch, und du kannst doch auch ein bisschen Finnisch, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ich kann mich einigermaßen verständlich machen. Sag mal, willst du mich etwa wieder in irgendwelche Ermittlungen reinziehen?«
»Wie kommst du denn darauf?« Lindström klingt beinahe entrüstet. »Es geht nur um einen Hund. So einer wie dein Muffins. Olli hat mich gestern von seinem Sommerhaus aus angerufen. Er hat vor kurzem einen Hund in Obhut genommen, und jetzt hat sich herausgestellt, dass eines seiner Enkelkinder allergisch gegen Tierhaare ist – typisch. Jedenfalls kann er den Hund nicht behalten, sagte er mir. Und da habe ich an dich gedacht, rein zufällig gewissermaßen.«
»Ach, rein zufällig ...«
»Ja, ich dachte, du würdest vielleicht jemanden kennen, der ... du hast doch so viele Hundebekanntschaften. Vielleicht willst du Olli ja mal anrufen. Ist wirklich ein netter Kerl, hat ein Sommerhaus in der Gegend von Sysmä.«
»Warum hat Olli den Hund denn in Obhut genommen?«
»Ach, irgendwelche schwedischen Touristen, die ein Sommerhaus gemietet hatten. Die sind am Ende der Ferien einfach abgehauen und haben den Hund zurückgelassen wie einen Müllsack. Das ist genauso einer wie Muffins. Grüß ihn von mir, wenn du nach Sysmä fährst. Ist bestimmt eine schöne Gegend. Er sagt, man kann da auch angeln.«
»Hm.«
»Na, komm schon, ein kleiner Ausflug kann doch nicht schaden. Olli ist wirklich nett, und von Helsinki nach Sysmä ist es gar nicht weit, glaub ich. Bella ist doch so eingespannt, und du hast jede Menge Zeit. Außerdem hat Olli bestimmt eine Sauna, haben das nicht alle Finnen?«
Lindströms Argumente sind nicht von der Hand zu weisen, und meine Sehnsucht nach einer Sauna ist groß. Am besten eine mit Holzfeuerung. Vielleicht könnte Bella ja mitkommen. Keine so üble Idee. Ich sehe uns schon an einem einsamen See sitzen. Die Hummeln brummen, ich halte Bella im Arm ...
»Ich denk drüber nach. Könnte ja auch sein, dass ich zufällig mal dort vorbeikomme.«
Zwei kleine Zimmer und eine Miniküche, größer ist die Wohnung nicht, aber wir sind schließlich nicht als Touristen nach Helsinki gekommen. Bella hat ihre Arbeit, ihre Proben. Im Herbst soll Premiere sein. Dann folgen die Vorstellungen. Ich bereite zurzeit eine Fotoausstellung vor.
Bella hat eine Partie in ›Figaros Hochzeit‹ übernommen. Sie ist Mezzosopran und singt die Rolle des Cherubino, eines hoffnungslos verliebten Pagen. Es ist eine so genannte Hosenrolle, also eine Männerrolle, die traditionell mit einer Frau besetzt wird. Sie umfasst zwei bekannte Arien, die sie schon früher mit Bravour gesungen hat. Außerdem hat sie bereits zugesagt, in Stockholm mit Les Goûts-Réunis zu konzertieren, einem finnischen Ensemble, das sich auf Couperin, Monteclair und Rameau spezialisiert hat. Wann genau, steht noch nicht fest.
Falls ihr Gastspiel in Helsinki ein Erfolg wird, könnte sie Chancen auf ein längerfristiges Engagement an der finnischen Nationaloper haben. Wir werden sehen. Es hat natürlich auch seinen Reiz, in Europa umherzureisen und an den verschiedenen Opernhäusern zu gastieren, doch sehnen wir uns beide nach einem Ruhepol in unserem unsteten Dasein. Zwar haben wir uns auch im Obergeschoss von Signor Rossis Lebensmittelladen im kleinen Ort Palestrina südöstlich von Rom1 wohl gefühlt, aber inzwischen möchten wir ein richtiges Zuhause. Gerne im Norden. Wenn’s nach mir ginge, am liebsten in Schweden.
Gegen Helsinki ist wirklich nichts einzuwenden, dennoch fühle ich mich ein wenig einsam. Ich treffe hin und wieder meine Cousins und bereite meine Fotoausstellung vor; das ist alles, was ich tue. Die Ausstellung trägt den Titel ›Festung Europa‹ und findet im Laterna Magica statt, einer Mischung aus Antiquariat und Galerie. Während der beiden Jahre, die Bella und ich in Italien verbrachten, habe ich den Menschenhandel dokumentiert, der vor allem von Albanien und Gibraltar aus organisiert wird. Ein abenteuerliches und gefährliches Unterfangen, das mich meine liebste Leica kostete, eine abgenutzte schwarze M-6. Nach dem resoluten Eingreifen der italienischen Küstenwache liegt sie nun auf dem Grund der Adria. Den letzten Film hatte ich vorher rausgenommen. Aber die Fotos sind gut geworden.
Ich habe nicht gewagt, Bella alle Details zu erzählen ...
Eine steife Brise kommt vom Finnischen Meerbusen herein, weht über die Festung Sveaborg hinweg, erfasst den Marktplatz und bahnt sich ihren Weg durch den Esplanade genannten kleinen Stadtpark. Am Schwedischen Theater hat sie drei Richtungen zur Auswahl. Für gewöhnlich bevorzugt sie den Mannerheimvägen.
Von unserer Wohnung aus spaziere ich durch das Zentrum. Die Straßencafés zeigen das junge, elegante Helsinki. Ich passiere die Storkyrkan in Richtung Fredsgata, in der sich das Laterna Magica befindet. Überprüfe ein letztes Mal die Hängung meiner Fotos. Das urige, verwinkelte Kellerlokal erschwert zwar manchmal die freie Sicht auf die Bilder, bietet aber andererseits einen reizvollen Kontrast. Ich kann es natürlich nicht bleiben lassen, in alten Zeitschriften zu blättern: ›Kotiliesi‹, ›Anna‹ und ›Uusi Nainen‹, vermutlich die einzigen linksorientierten Frauenzeitschriften des Nordens.
In einer Wochenzeitung aus der ersten Hälfte der vierziger Jahre finde ich eine Frontreportage aus dem so genannten Fortsetzungskrieg, die die Kampfmoral der finnischen Truppen stärken sollte. Sehe Bilder enthusiastischer Soldaten, die sich um einen Topf mit Ersatzkaffee scharen oder mit dem Schlachtruf »Uraliin!« (Zum Ural!) gegen die Rote Armee vorrücken.
Das Ergebnis ist bekannt.
Nachdem ich mich mit der Hängung einverstanden erklärt und weitere Zeitschriften durchgeblättert habe, schlendere ich gemächlich nach Hause. Betrachte die Schaufenster und lausche einer Gruppe russischer Straßenmusiker, die auf vier Xylofonen und im rasenden Tempo den Toreromarsch aus ›Carmen‹ hinfetzen. Ich lasse mich treiben und nehme einen kleinen Umweg durch die Mercators Passage in Kauf, um auf einen Sprung in Aamos Anderssons Kunstmuseum vorbeizuschauen. Plötzlich werden die Erinnerungen an Ritva wieder lebendig. Wie lange ist das her? Ob sie immer noch als Geheimagentin arbeitet? Sie könnte auch verheiratet sein, im Ausland wohnen – falls sie überhaupt noch am Leben ist. Ich ziehe es vor, diesen Gedanken zu verdrängen. Anziehend war sie ... und geheimnisvoll.
Schließlich gehe ich nach Hause und rufe Lindströms Kollegen an. Kriminalkommissar Olli Mustonen lädt mich spontan in sein Sommerhaus ein. Lindströms Freunde sind meine Freunde, sagt er. Ich frage ihn, wo Sysmä liegt. Ungefähr drei Stunden nordöstlich von Helsinki. Mindestens sechs Stunden hin und zurück. Das wird definitiv einen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Auf der Straßenkarte sehe ich, dass Sysmä am Päjänne-See liegt, der sich von Lahti bis hinauf nach Jyväskylä erstreckt. Dort ist meine Karte zu Ende. Als Bella nach Hause kommt, schlage ich ihr für das nächste Wochenende einen kleinen Ausflug vor. Irgendwann müsse es sich doch mal auszahlen, dass wir unser Auto hierher mitgenommen haben, argumentiere ich. Sie protestiert zaghaft. Eigentlich hatte sie mit Les Goûts-Réunis proben wollen, doch schließlich ruft sie den Ensembleleiter Miikka Helasvuo an. Der ist total erkältet und erklärt krächzend und schniefend, dass er gegen eine Pause nichts einzuwenden habe. Zu husten und gleichzeitig Querflöte zu spielen