Ultramarin. Henrik Tandefelt
ist weit und breit noch keine Straßenbahn zu sehen. Die Möwen am Marktplatz machen uns nur widerwillig Platz. Eine langweilige und hässliche Autobahn erwartet uns. Bella schläft, Muffins ebenfalls. Erst hinter Vääksy wird die Landschaft etwas abwechslungsreicher. Wir biegen auf eine schmale Landzunge ab, machen eine Pause und strecken im Grünen die Beine. Tauchen die Zehen ins Wasser, während Muffins ein Bad nimmt. Als wir in Sysmä ankommen, riecht das ganze Auto nach nassem Hund. Der Ort selbst ist zwar keine Schönheit, doch an der Landschaft gibt es nichts auszusetzen.
Mustonens Sommerhaus liegt ein paar Kilometer weiter östlich an einem See. Ein blauer Volvo mit mattem Lack aus den neunziger Jahren steht vor einer grauen Scheune. Durch die Ritzen kann man einen matten russischen Popeda erahnen – eine Automarke, die noch in den fünfziger Jahren in Finnland oft als Taxi benutzt wurde. Wir lassen den Wagen stehen und spazieren über eine Wiese auf ein kleines Haus zu. Im Hintergrund glitzert der See. Auf der Treppe wartet ein großer rostbrauner Hund. Ein Kollege von Muffins. Etwas unbedacht lasse ich Muffins von der Leine, und der schießt knurrend los.
Ein muskulöser, nur mit einer Badehose bekleideter Mann kommt uns über die Wiese entgegen. Eine Sense über der Schulter, abgeschnittene Stiefel an den Füßen. Offenbar unser Gastgeber. Blondes, zurückgekämmtes Haar und blaue Augen. Ziemlich hoch aufgeschossen und mit einem Lächeln, das man nur als strahlend bezeichnen kann.
»Hallo! Du musst Josef sein«, sagt er mit festem Handschlag.
»Richtig geraten, und das hier ist Bella. Muffins hast du ja schon gesehen.«
»Ja, der tollt mit Tipsa auf der Wiese herum. Sieht so aus, als hätten sie richtig Spaß«, entgegnet er und gibt Bella die Hand.
»Tipsa?«
»Ja. Der Name stand auf dem Halsband. Aber kommt nur herein ... ach nein, setzen wir uns lieber ans Wasser. Ihr könnt schon vorgehen, über die Wiese bis zur Sauna, ich hole den Kaffee«, sagt Olli. Wir schlendern auf dem leicht abschüssigen Pfad bis zum See. Wenige Meter vom Ufer entfernt befindet sich die kleine Sauna. Ein zwanzig Meter langer Steg führt mitten ins Blaue. An einem frei stehenden Pfahl liegt ein langes, schmales, sich an beiden Enden verjüngendes Ruderboot vertäut. Ein typisch schwedisches Binnenseemodell, das aussieht wie die Miniaturausgabe eines Wikingerschiffs. Es gluckert träge im Wasser, wie nur Holzboote das tun.
»Hab auch ein paar Teebeutel mitgenommen!«, ruft Olli, als er uns mit einem Tablett entgegenkommt. Er hat einen verwaschenen blauen Trainingsanzug angezogen.
»Da scheint Lindström ja was verraten zu haben«, entgegne ich, und Olli nickt lächelnd.
Bella lacht, die Sonne scheint, und wir setzen uns auf ein paar bequeme Gartenstühle vor die Sauna.
»War das eigentlich deine Idee oder die von Lindström?«, frage ich.
»Welche Idee?«, fragt Olli unschuldig, füllt die Becher und bietet uns Marmorkuchen an.
»Die mit dem Hund.«
»Ach, die ... auf die sind wir zusammen gekommen.«
»Wie das?«
»Angefangen hat alles damit, dass eine schwedische Familie hier in der Gegend ein Ferienhaus mietete. Sie hatten einen jungen Hund dabei, den sie bei ihrer Abreise einfach seinem Schicksal überließen. Zunächst haben sich dann die Nachbarn um ihn gekümmert. Vielleicht glaubten sie, er würde doch noch irgendwann abgeholt werden. Sie schrieben mehrere Briefe, bekamen aber nie eine Antwort. Schließlich wurde ihnen klar, dass der Hund absichtlich zurückgelassen worden war. Die hatten offenbar das Interesse an dem Tier verloren.«
»Pfui Teufel, was sind das nur für Leute!« Bella streichelt Tipsa, die versucht, ihr einen Hundekuss zu geben, ehe sie auf die Wiese prescht, um wieder mit Muffins zu spielen. Olli fährt fort:
»Die Nachbarn tauften sie auf den Namen Tipsa, konnten sich aber nicht ewig um sie kümmern, also wurde der Hund ein Fall für die Polizei. Irgendein Bürokrat verfügte schließlich, der Hund solle eingeschläfert werden. Ein Polizist wurde beauftragt, ihn zum Tierarzt zu bringen, doch sah er sich außerstande, den Auftrag auszuführen. Er brachte es einfach nicht übers Herz, einen gesunden, jungen Hund töten zu lassen. Da kam er auf die Idee, ihn mir zu überlassen, und dazu konnte ich einfach nicht Nein sagen. Schaut nur, wie sie spielen! Wie kommt man nur darauf, einen solchen Hund einzuschläfern?«
»Und jetzt kannst du ihn nicht länger behalten?«
»Mein Enkelkind ist allergisch gegen Tierhaare. Am Anfang haben wir nichts bemerkt, aber irgendwann begannen die Schwierigkeiten. Tipsa kann jedenfalls nicht hier bleiben, und in die Stadt mitnehmen kann ich sie auch nicht. Ich habe doch nur eine kleine Wohnung in der Runebergsgata, mitten in Helsinki. Dort ist einfach nicht genug Platz für einen so temperamentvollen Hund.«
»Wohnst du allein?«, fragt Bella.
»Ja, meine Frau Jaana ist vor ein paar Jahren gestorben. Sie hatte ... Krebs.«
Tipsa kommt angetrabt, als wolle sie ihr Herrchen trösten. Schmiegt sich an ihn und schleckt Ollis Ohr ab. Danach schnüffelt sie an mir herum, bevor sie ihren Kopf auf Bellas Knie legt. Muffins setzt sich hechelnd an ihre Seite.
»Tipsa hat mir ... bedeutet mir viel. Ich will, dass sie es gut hat. Sie ist daran gewöhnt, viel Platz zu haben und sich frei bewegen zu können.«
»Vielleicht findet sich ja eine nette Familie, die sie aufnimmt. Ich werde mich mal umhören«, verspreche ich.
»Wie wär’s mit meinen Eltern?«, schlägt Bella vor. »Meine Mutter hat oft davon gesprochen, wie schön es wäre, einen Hund zu haben. Sie hat sowieso das Gefühl, dass sie zu wenig draußen in der Natur ist. Ich frag sie mal«, sagt Bella, während sie ihren Bikini aus der Tasche zieht. »Kann man vom Steg aus ins Wasser springen?«
»Ja, da vorn ist das Wasser gut drei Meter tief«, antwortet Olli und zeigt ihr einen kleinen Raum neben der Sauna, in dem sie sich umziehen kann.
Ein paar Minuten später springt Bella ins Wasser, gefolgt von Tipsa und Muffins. Olli und ich beobachten schweigend, wie die Hunde an Land schwimmen, kurz über den Rasen toben und sich erneut ins Wasser stürzen, während Bella weit hinausschwimmt. Viel zu weit. Ich spüre eine gewisse Unruhe, bis sie kehrtmacht und uns wieder entgegenkommt. Ich wende meinen Blick von ihr ab und nehme unhöflich das letzte Stück Kuchen.
»Was für ein himmlischer Frieden«, seufze ich. »Der blaue See, die raschelnden Birken, eine eigene Sauna ...«
»Ja, das denkt man. Aber was meinst du, was hier los ist: Alkoholmissbrauch, Diebstahl, Körperverletzung – obwohl mich das eigentlich nichts angeht. Ich arbeite ja nicht hier.«
»Lindström hat mich doch wohl nicht nur wegen Tipsa hierher geschickt«, sage ich, während Bella mit den Hunden im Wasser spielt.
»Tja ... es gibt da noch dieses unaufgeklärte Verbrechen, das sich hier im Polizeidistrikt von St. Mickels ereignet hat. Natürlich ist das nichts Ungewöhnliches, aber dieser Fall interessiert mich, weil er diese Gegend betrifft ...« Dann erzählt Olli mir von dem Raubmord auf Hiitelä.
Ein pensionierter Arzt und Junggeselle namens Jens Bäck wohnte seit vielen Jahren auf einem kleinen Hof namens Hiitelä, unweit von Sysmä. Er war der langjährige Hausarzt vieler Leute aus der Umgebung, inzwischen schon über achtzig und seit Jahren im Ruhestand. Er züchtete Orchideen und kümmerte sich um seine Haustiere. Mit der Zeit wurde er ein bisschen sonderlich. Das Haus war irgendwann bevölkert von Enten, Katzen und Kaninchen, die überall frei herumliefen. Sauber machte er so gut wie nie. Im Stall stand ein Pferd, das sich die Koppel mit ein paar Kühen, einigen Ziegen und einem Esel teilte, auf dem die Kinder der Gegend reiten durften. Auf seine alten Tage wurde er immer mürrischer und unnahbarer. Ein paar alte Patienten hielten ihm noch die Treue, doch ansonsten wurde er immer mehr zum Eigenbrötler.
Sein Hof stammte aus dem späten 18. Jahrhundert. Neben dem Wohnhaus gab es ein Gebäude, in dem sein Gehilfe Dimitri wohnte, sowie ein weiteres, in dem sich die Praxis befand. Außerdem einen Stall und eine Scheune. Die Leute hielten ihn für vermögend, außerdem machte das Gerücht die Runde,