Ultramarin. Henrik Tandefelt
seid direkt daran vorbeigeschwommen. Eigentlich wollte ich Hecht zum Abendessen machen. Mit jungen Kartoffeln und Salat. Dann könnten wir nachher noch in die Sauna und den Mond anschauen, ein paar Biere trinken ... wie man das eben so macht in Finnland.«
»Hört sich sehr verlockend an, aber wir sollten jetzt wirklich bald aufbrechen. Bella muss morgen zur Probe und ...«
Weiter komme ich nicht, weil Bella mich unterbricht:
»Ich hab doch morgen keine Probe! Außerdem liebe ich Hecht.«
»Na also. Dann ist die Sache klar. Ihr bleibt. Wie wär’s, wenn ihr noch einen Ausflug nach Hiitelä zum Hof von Jens Bäck macht? Währenddessen hole ich den Hecht und kümmere mich ums Essen. Der Hof steht übrigens leer«, klärt Olli uns auf.
Ich schaue Bella an, sie zwinkert mir zu.
Der Weg ist voller Schlaglöcher und auch sonst in erbärmlichem Zustand. Auf den letzten dreihundert Metern wird er von mächtigen Ulmen gesäumt, was der Zufahrt dann doch einen herrschaftlichen Charakter verleiht. Die Hunde freuen sich über den Ausflug. Die niedrig stehende Sonne lässt das Laub glitzern und die Schatten über das Pflaster tanzen. Das Wohnhaus ist in kühlem Hellblau gestrichen, mit weißen Eckbalken und Fenstern, ein anderthalbgeschossiges Haus im Empirestil. Zu beiden Seiten befinden sich zwei asymmetrisch angeordnete Gebäude. In dem einen hatte sich Bäcks Praxis befunden, das andere war von seinem russischen Gehilfen Dimitri bewohnt gewesen.
Im Rondell vor dem Hauptgebäude wuchern Blumen und Büsche. Auch der angrenzende Rasen ist verwildert. Hinter dem linken Nebengebäude sieht man eine Scheune, in der möglicherweise das Vieh untergebracht wurde. Der auf einer Anhöhe gelegene Hof wird von fruchtbaren Wiesen umgeben, auf denen hoher Wiesenkerbel blüht. Zur Rechten schlängelt sich ein Bach zum See hinunter, der in der Ferne zu erahnen ist.
Als wir das Wohnhaus erreichen, werfe ich zunächst einen Blick durch die Fenster. Die Räume sind in gutem Zustand. Jemand muss hier renoviert haben. Danach schauen wir durch die Fenster der Nebengebäude. Eines ist ebenfalls von sämtlichen Möbeln befreit und gründlich gereinigt worden. Wir machen schweigend kehrt. Verlassene schöne Häuser machen mich immer traurig. Bella wechselt das Thema.
Tipsa schläft bei uns im Gästehaus. Mitten in der Nacht kommt sie angeschlichen, kratzt an der Tür und drängt sich, sobald ich sie hereingelassen habe, neben Muffins, der zwischen Bella und mir liegt. Ich streichele sie und versichere ihr, dass sie bei uns bleiben darf. Tipsa schnauft zufrieden.
»Wir kümmern uns schon um dich, Tipsa, schlaf gut ...«
Sie scheint so wohlig zu schlummern, dass sie gar nicht merkt, wie Bella und ich uns wenig später davonschleichen, um ein nächtliches Bad zu nehmen. Wir lassen uns nackt ins Wasser gleiten, während die Mücken im Mondlicht tanzen.
2
Der robuste Olli Mustonen hat Tränen in den Augen, als wir uns verabschieden. Er umarmt und tätschelt Tipsa, ehe sie willig in den Wagen springt und sich neben Muffins legt, um uns nach Helsinki zu begleiten.
»Lass uns in Kontakt bleiben«, sagt er mit belegter Stimme.
»Aber klar«, entgegne ich, »und denk an die Unterlagen. Ich werde dafür sorgen, dass Lindström sie sich gleich ansieht.«
Olli verspricht, alles zu schicken, was er über den Fall auftreiben kann. »Und sag ihm, dass er sich ruhig mal wieder hier blicken lassen kann«, fügt er hinzu.
Er winkt uns hinterher, während er im Rückspiegel immer kleiner wird. Es ist sicher nicht einfach, sich von seinem Hund zu trennen. Er muss sich einsam vorkommen.
In unserer engen Wohnung in der Töölögata findet sich Tipsa rasch zurecht. Liegt die meiste Zeit auf Bett oder Sofa, wo sie kaum mehr Platz beansprucht als Muffins. Bella widmet sich ihrer Arbeit, und ich habe jetzt zwei Hunde, mit denen ich spazieren gehen kann. Unsere Ausflüge werden immer länger und immer grüner. Der ›Helsingin Sanomat‹ bringt eine positive Ankündigung meiner Ausstellung. Das ›Hufvudstadsbladet‹ hat noch keine Zeile geschrieben. Noch nicht. Wenn die Ausstellung vorbei ist, sollen die Fotos abgehängt und nach Hause transportiert werden. Das organisiert die Galerie, doch wenn ich noch ein bisschen warte, kann ich sie genauso gut in meinem eigenen Auto mitnehmen.
Die Vernissage verläuft zur allgemeinen Zufriedenheit. Leena Saraste, Niina Tuittu, Matti Kaleva, Ben Kaila, Stefan Bremer und ein paar andere finnische Fotografen sind anwesend, und es dauert nicht lange, da verschwinden wir alle ins Restaurant Kolme Kruunua. Es wird ein feuchter Abend, doch nach dem einstündigen Spaziergang nach Hause bin ich einigermaßen wiederhergestellt. Zumindest so weit, um zu begreifen, dass ich in Helsinki eigentlich nichts mehr zu tun habe. Ich kann mich schließlich nicht ewig nur um die Hunde kümmern; außerdem möchte ich gern wissen, wie es in der Firma läuft.
Noch am selben Tag küsse ich Bella zum Abschied, nehme Muffins mit, dessen Impfausweis ohne Fehl und Tadel ist, und schlage Kurs Richtung Åbo ein. In Salo machen wir eine kleine Pause, ehe wir an Bord der gemütlichen »Seawind« gehen – mein Lieblingsboot, vor allem, wenn ich einen Hund dabeihabe. Die arme Tipsa muss in Helsinki bleiben, bis die Grundimmunisierung gegen Tollwut, Leptospirose und andere Krankheiten gewährleistet ist und die Wiederholungsimpfungen durchgeführt sind. Das dauert mindestens fünf bis sechs Monate. Bella wird also sämtliche Verpflichtungen einer Hundebesitzerin kennen lernen, aber so schlimm ist das auch wieder nicht. Ihre Arbeit mit dem Korrepetitor findet für gewöhnlich zwischen elf und fünfzehn und zwischen neunzehn und zweiundzwanzig Uhr statt. Dazwischen bleibt ihr genug Zeit zum Spazierengehen. Leider haben Hunde an der Oper keinen Zutritt. Später, wenn Bella einmal eine berühmte Operndiva sein wird, wird das natürlich alles anders. Doch Gott sei Dank hat sie in dieser Hinsicht keine Ambitionen.
Am frühen Morgen legt das Boot in Stockholm an. Wir steigen ins Auto und fahren in Richtung Boköping. Ich werde die Gelegenheit nutzen, um Jurek aufzusuchen, meinen Freund und Mitarbeiter, der mit seiner Freundin Louise in meinem Haus wohnt. Eigentlich wohnen sie im Obergeschoss, doch wenn ich nicht da bin, benutzen sie selbstverständlich auch das Untergeschoss. Normalerweise kündige ich mich telefonisch an, aber jetzt bin ich eh schon fast da. Er ist völlig überrascht, als ich plötzlich im Flur stehe und Muffins sich auffordernd in die Küche setzt.
»Hallo, ist da jemand? Ach, Josef ... ich hatte dich glatt für einen Einbrecher gehalten. Obwohl es ja nicht viele gibt, die so groß sind wie du.« Jurek steigt die dunkle Treppe aus dem Obergeschoss hinab.
»Ich bin zufällig hier vorbeigekommen und hatte die Schlüssel in der Tasche. Eigentlich war ich auf dem Weg zu Lindström. Wollte nur mal kurz Hallo sagen und eine Runde mit dem Hund drehen, bevor ich wieder verschwinde.«
»Ist ja schon eine ganze Weile her«, bemerkt Jurek ein wenig spitz.
»Ich war die ganze Zeit in Helsinki. Bei Bella. Sie arbeitet dort.«
»Bella, ach ja, den Namen hast du schon mal erwähnt ...«
Jurek und Louise habe ich also die Hälfte meines Hauses vermietet, weil ich nicht wusste, was ich sonst damit tun sollte. Es ist mit unangenehmen Erinnerungen verbunden und von Nachbarn umgeben, die ich nicht einzuschätzen vermag. So, wie die Dinge liegen, könnten sie gut und gerne auch das ganze Haus mieten. Aber irgendwo muss mein alter Plunder ja schließlich bleiben, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hat. Wie lange das noch so gehen soll? Ich weiß es nicht. Vielleicht wollen ja Bella und ich eines Tages ... oder werden wir im Ausland leben?
Viele offene Fragen.
»Komm, lass uns mit dem Hund spazieren gehen. Was machst du eigentlich zu Hause um diese Uhrzeit? Solltest du nicht auf dem Weg zur Arbeit sein? Du bist doch nicht etwa krank?«, frage ich.
»Nein, aber wir haben gestern Überstunden gemacht. Lass uns erst mal eine Tasse Tee trinken und ein paar Brote essen«, entgegnet Jurek, ehe er in die Küche verschwindet.
Eine halbe Stunde später, nachdem wir das Frühstück beendet haben, machen wir einen kleinen Waldspaziergang. Ich erzähle von meinem Leben in Helsinki und frage Jurek, ob ihm ein Maler namens Ajvazovskij bekannt sei, aber er verneint.