Ten Mile Bottom. Teodora Kostova

Ten Mile Bottom - Teodora Kostova


Скачать книгу
Zimmer verließ, erwartete ich, eine Nonne hinter mir zu hören, die eine Glocke schlug und Schande rief, bis ich all meine Sünden gestand. Ich hatte der Psychiaterin den Witz erzählt, aber sie hatte ihn nicht verstanden. Genauso wenig wie irgendeine andere Anspielung auf Game of Thrones. In der zweiten Woche gab ich es auf, sie zum Lächeln bringen zu wollen. Am Ende der dritten Woche war ich nicht sicher, ob ihre Gesichtsmuskeln überhaupt in der Lage waren, ein Lächeln zu formen. Ich hatte auf Doktor Sheltons Gesicht noch nie einen anderen Ausdruck gesehen als die sorgsam aufrechterhaltene, hochprofessionelle, ausdruckslose Maske.

      Es war beschissen, dass es mir etwas ausmachte. Der Entzug machte mich noch nervöser als sonst. Alle anderen Patienten in diesem Höllenloch hielten Abstand zu mir, weil ich alle finster anstarrte, die Blickkontakt zu mir suchten. Man konnte mit Sicherheit sagen, dass die Gruppentherapie- und Meditationssessions nicht so gut liefen und ich wurde dazu verbannt, allein zu meditieren – mit Doktor Sheltons persönlicher Empfehlung.

      Als würde es mein Verlangen ersticken, das flüchtige Glück zu spüren, wenn die Drogen meine Sinne betäubten, und meine Gedanken zum Schweigen zu bringen, wenn ich eine Wand anstarrte und so tat, als würde ich meinen Kopf leeren und mich nur auf den Moment konzentrieren.

      Nachts konnte ich nicht schlafen. Ich starrte an die Decke, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und ich die Umrisse der kargen Möbel in meinem Zimmer ausmachen konnte. In diesen Momenten war das Flüstern in meinem Kopf am lautesten und die Sehnsucht nach den betäubenden Wirkungen der Drogen und des Alkohols am schlimmsten. Ich zitterte und hatte jede Nacht Krampfanfälle, anfangs nur wegen der physischen Folgen des Entzugs und später, lange nachdem das Gift meinen Körper verlassen hatte, wegen der Hilflosigkeit und Verzweiflung.

      Wenn der Morgen kam, blieb die Erleichterung aus. Nur Erschöpfung und Elend stellten sich ein.

      Ich hasste es. Aber Widerstand würde zu nichts führen. Doktor Shelton musste meine Entlassungspapiere unterschreiben und das würde nur passieren, wenn sie überzeugt war, dass ich weder für mich selbst noch für andere eine Gefahr darstellte. Dass ich wieder in die große, beängstigende Welt gehen und nicht mit dem Gesicht voran in das erste schwarze Loch der Versuchung fallen würde, das mir über den Weg lief.

      Tja, krasser Scheiß, Doktor. Ich machte mir nicht vor, dass ich stark genug war, der Verlockung eines benebelten Geistes zu widerstehen – eines glückselig ruhigen Geistes – und sah auch nicht wirklich einen Grund, warum ich widerstehen sollte. Aber ich musste die Ärztin vom Gegenteil überzeugen. Fürs Erste musste ich so tun, dass es mich interessierte, was mit mir passierte.

      ***

      Während der ersten vier Wochen durfte mich niemand besuchen. Kein Fernsehen, kein Handy, kein Internet, keine Zeitung oder irgendeine andere Verbindung zur Außenwelt. Ich konnte mir ein vorab abgesegnetes Buch aus der kleinen Bibliothek ausleihen und das war auch schon die ganze Unterhaltung, die mir gestattet wurde.

      Ich war ohnehin nicht in der Stimmung, mich mit jemandem zu unterhalten oder von den Problemen der Welt zu hören. Ich hatte mich beinahe selbst davon überzeugt, bis der erste Tag der fünften Woche kam und meine Illusionen zerstörte. Während ich im Gemeinschaftszimmer saß, wo sich die Leute meistens versammelten, um gesellig zu sein, hielt ich den Atem an und hoffte jenseits aller Vernunft, dass Renee mich besuchen würde und fürchtete, stattdessen meine Mutter zu sehen, während sich die Tür öffnete und schloss und mehr und mehr Besucher hereinströmten.

      Tja, Renee kam nicht. Genauso wenig wie meine Mutter. Da die Hälfte des offenen Tages vorbei war, verlor ich die Hoffnung, dass sich jemand um mich scherte und stand auf, um den Raum, der von Gelächter und Unterhaltungen erfüllt war, zu verlassen. Die Tür öffnete sich erneut und mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich sah, wie Aiden hereinkam.

      Wie angewurzelt und mit großen Augen sah ich zu, wie er die Tür hinter sich schloss und mich in dem überfüllten Zimmer sofort entdeckte. Er ging auf mich zu, mit langen, selbstbewussten Schritten, mit denen er die Distanz in Sekundenschnelle überbrückte.

      Er hatte sich verändert. Nicht so sehr körperlich, obwohl er sich die Haare geschnitten und viel Gewicht verloren hatte, sodass seine Gesichtszüge schärfer wirkten. Irgendetwas in ihm hatte sich am meisten verändert, aber ich konnte nicht sagen, was es war.

      Die Leute hatten immer gesagt, dass wir uns so ähnlich sahen, dass wir Brüder sein könnten, und das stimmte vermutlich. Wir waren beide schlank und etwa gleich groß, mit dunklen Haaren, die ohne großzügig aufgetragene Stylingprodukte in alle Richtungen abstanden, und wir hatten beide ein rundes Gesicht, das uns viel jünger aussehen ließ, als wir eigentlich waren. Für mich war der größte Unterschied unsere Augen. Nicht nur die Farbe – meine kühl und schwarz und Aidens warm und haselnussbraun –, sondern was sich dahinter verbarg. In Aidens Blick sah ich immer eine Güte, die ich in meinem nie gefunden hatte.

      Aiden durchquerte den Raum und nahm mich, ohne zu zögern, in den Arm. Er umarmte mich so heftig, dass ich spürte, wie etwas in mir zerbrach.

      »Finney«, sagte er erleichtert.

      »Du hast dir die Haare geschnitten«, war alles, was ich herausbrachte.

      Aiden lachte leise, dann ließ er mich los. Sein Blick suchte meinen und plötzlich war ich mir bewusst, wie schlimm ich aussehen musste. Verlegen wandte ich den Blick ab und deutete mit einem Nicken auf die Schiebetüren.

      »Wollen wir ein Stück gehen?«

      Aiden nickte und folgte mir. Ein paar Leute hatten sich ebenfalls entschieden, den Tag draußen zu verbringen und den Sonnenschein im späten April zu genießen. Die sanfte Brise war angenehm auf meiner Haut und in meinen Haaren, die ich in den letzten Monaten nicht mehr gebändigt und bei denen ich auf jegliches Styling verzichtet hatte. Mittlerweile sah ich auch kaum noch in den Spiegel.

      Ich spürte Aiden neben mir und mein Geist beschwor ein Bild von ihm herauf: seine Haare, die meinen so ähnlich waren und sich in der Brise bewegten, wie er die Hand hob, um sie beinahe unbewusst glatt zu streichen. Aber als ich mich umdrehte, verschwand das gedankliche Bild meines Freundes und wurde von seinem neuen Kurzhaarschnitt und seinen hervortretenden und scharfen Zügen ersetzt, denen die weichen, dunklen Locken fehlten, die sein Gesicht umrahmten. Ich war wehmütig und ein wenig traurig.

      »Du hast abgenommen«, sagte er, als er mich ansah.

      Ich schnaubte. »Genau wie du.«

      Er lachte spöttisch, nickte leicht und stimmte ohne Zögern zu, dass wir beide kaputte Loser waren.

      »Setzen wir uns«, sagte er, nahm meine Hand und zog mich zu einer leeren Bank in der Nähe. Ich protestierte nicht, obwohl ich mich nicht wirklich darauf freute, ihn anzusehen, während wir redeten. Aidens warme Augen waren der Grund gewesen, warum ich so oft vom Abgrund zurückgetreten war; ich hatte mich einmal danach gesehnt, wie er sich so vollständig auf mich konzentrierte, dass er den Rest der Welt ausschloss. Das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein. Jetzt erfüllte mich der Gedanke an Aidens stechenden Blick mit Schrecken.

      Wir setzten uns. Aiden drehte sich zu mir, wie ich es erwartet hatte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah weiter geradeaus, als wäre der grüne Rasen vor uns das Interessanteste, was ich je gesehen hatte.

      »Wie geht's dir?«, fragte Aiden zögerlich, als wüsste er nicht alles über mich. Er hatte schon immer nach nur einem Blick in meine Richtung sagen können, wie ich mich fühlte.

      »Wo warst du?«, fragte ich, anstatt zu antworten, und die Verärgerung schlich sich in meine Worte.

      Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Aiden nickte, als hätte er gewusst, dass ich das sagen würde. Tja, Small Talk war noch nie meine Stärke gewesen.

      »Ich hatte einen Herzinfarkt«, sagte er nüchtern.

      Mein Kopf wirbelte so schnell zu ihm herum, dass es in meinem Nacken schmerzhaft knackte. Ich ignorierte es.

      »Du hattest was?«, sagte ich mit offenem Mund. Er schenkte mir ein liebevolles Lächeln, ehe er seine Worte wiederholte.

      »Ich hatte einen Herz…«


Скачать книгу