Ten Mile Bottom. Teodora Kostova
leckte sich über die Lippen und wandte den Blick ab. Aiden wurde nur selten wütend oder verlor die Kontrolle über seine Emotionen, deshalb war ich es gewohnt, dass er ruhig auf meine regelmäßigen Ausbrüche reagierte. Aber in diesem Moment ließ mich seine entspannte Körpersprache noch mehr rotsehen.
»Ist das dein verfickter Ernst?«, schrie ich. Aiden sah sich um, um nachzusehen, ob irgendwelche Leute in der Nähe waren, aber es wäre mir sogar scheißegal, wenn mich die ganze Welt hören könnte. »Du verschwindest beinahe zwei Monate, keine Anrufe oder Nachrichten oder auch nur ein Zettel unter meinem Kissen, und dann marschierst du hier rein, dünn und blass und mit raspelkurzen Haaren und sagst mir ohne Vorwarnung, dass du einen Herzinfarkt hattest? Was zur Hölle, Aiden?«
»Wie sollte ich es denn sonst einleiten?«, sagte er und ein seltener Hauch von Verärgerung mischte sich unter seine Worte.
Normalerweise hatte ich für jede Gelegenheit eine geistreiche und sarkastische Antwort parat. Nicht dieses Mal. Ich öffnete und schloss meinen Mund ein paar Mal, ohne dass mir eine passende Einleitung für Ich hatte einen Herzinfarkt einfiel. Aiden ließ mich eine Weile wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappen und wartete geduldig, dass ich entweder alles herausschrie oder mich so weit beruhigte, dass er etwas sagen konnte. Ich verschränkte erneut die Arme, lehnte mich auf der Bank zurück, zog sicherheitshalber einen Schmollmund und wartete, dass er anfing zu reden.
Aiden nagte einige Sekunden an seiner Unterlippe, als würde er seine Gedanken sammeln oder vielleicht die richtigen Worte suchen, um mich nicht wieder aufzuregen, ehe er das Wort ergriff. »Die Nacht, in der du die Überdosis hattest? Erinnerst du dich an irgendwas?«
»Nicht wirklich, nicht, nachdem wir auf der Toilette die zweite Dröhnung genommen haben.« Ich durchsuchte mein Gedächtnis nach weiteren Hinweisen, was in dieser Nacht passiert war, aber ich hatte es erfolglos tausendmal getan, nachdem ich im Krankenhaus aufgewacht war. »Ich glaube, wir sind zur Bar gegangen und hatten ein paar Shots?«
»Ja.« Er nickte und sah mich dann mit einem traurigen Lächeln an. »Wir hatten viele Shots. Wir haben getanzt. Dann wolltest du noch eine Dröhnung und ich konnte dich nicht aufhalten. Wir haben uns gestritten und du bist mit einem Typen zur Toilette gegangen. Ich war selbst ziemlich hinüber, also hab ich dich gehen lassen.« Ein Muskel zuckte an Aidens Kiefer und ich war ziemlich sicher, dass Schuld hinter seinen Worten lag.
Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr er fort. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bevor ich dich gesucht habe. Ich war so was von high und bin durch den Club gestolpert, aber ich kann mich noch glasklar an den Moment erinnern, als ich dich auf dem Boden hab liegen sehen. Ich bin neben dir auf die Knie gegangen und hab um Hilfe geschrien. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich hab absolut keine Ahnung, wie man jemanden wiederbelebt oder auch nur den Puls checkt. Zum Glück ist kurz nach mir jemand reingekommen und muss einen Krankenwagen gerufen haben, denn in dem einen Moment hatte ich deinen Kopf auf dem Schoß und mein ganzer Körper hat vor Angst gezittert, dass du tot sein könntest und im nächsten sind die Sanitäter reingestürmt, haben mich aus dem Weg geschoben und dich auf eine Liege geschnallt.«
Aiden atmete tief ein und laut wieder aus. Er schien einen Moment zu brauchen, um sich zu sammeln, genau wie ich. Bis jetzt hatte ich nicht genau gewusst, was an diesem Abend passiert war, und ich erinnerte mich immer noch an nichts, aber so, wie er darüber sprach, die Qual in seinen Augen…
»Also.« Aiden räusperte sich, sah mich an und der Schmerz in seinen Augen ließ mich zusammenzucken. »Ich bin nicht ganz sicher, was passiert ist, nachdem sie dich weggebracht haben. Ich erinnere mich, dass ich ziemlich neben mir stand, aber auf eine seltsame Art und Weise, nicht nur wegen der Drogen. Ich erinnere mich auch an viel Schmerz und eine seltsame Art von außerkörperlicher Erfahrung, bei der ich meine Gliedmaßen nicht kontrollieren konnte und zu Boden gegangen bin.«
Ich war dankbar für Aidens Pause. Ich wollte ihm eine Hand auf den Mund legen, damit er aufhörte zu reden, aber wie könnte ich? Ich hatte ihm das angetan. Ich. Das Mindeste, was ich tun konnte, war, zu hören, was er zu sagen hatte.
Aber… ich wusste nicht, ob ich es konnte. Es fühlte sich an, als hätte ich den absoluten Tiefpunkt erreicht und nichts könnte mich je wieder an die Oberfläche bringen.
»Finney«, sagte er und legte seine Hand auf meinen Arm. Ich drehte mich zu ihm. Sein Gesichtsausdruck wurde sanfter, als er mir in die Augen sah, und ähnelte beinahe dem runden Babygesicht, an dessen Anblick ich so gewöhnt war. Beinahe. Er hatte so viel Gewicht verloren, dass seine Gesichtszüge wahrscheinlich nie wieder so weich und unschuldig sein würden wie zuvor. »Was mir passiert ist, ist nicht deine Schuld.«
Ich schnaubte. Ich hatte in so wenigen Worten noch nie eine so große Lüge gehört.
»Ich bin vierundzwanzig, ein Erwachsener, und treffe meine eigenen Entscheidungen«, fuhr er fort und grub seine Finger in meinen Arm. »Genau wie du.« Er wandte den Blick ab. »Offensichtlich können wir die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können definitiv etwas für die Zukunft tun.«
Oh, um Himmels willen, erspar mir die aufmunternden Worte.
Meine Worte mussten deutlich zu hören gewesen sein, als ich die Augen verdrehte, denn Aiden zog seine Hand zurück und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich.
»Du kannst so nicht weitermachen, Finn«, sagte er.
Ich sagte stur einfach gar nichts, sondern zog nur eine Braue nach oben. Je mehr Leute mir sagten, dass ich mein Leben nicht so leben konnte, wie ich es wollte, desto selbstzerstörerischer wurde ich.
Aiden erkannte das. Er erkannte immer alles, verdammt. Aber in diesem Moment sah ich, wie sich etwas in seinen Augen veränderte, ein Geheimnis, das an die Oberfläche drang, das er verborgen hatte, unsicher, ob er es mir sagen sollte. Er hatte ein Ass im Ärmel und würde es auf den Tisch legen.
»Ich kann so nicht weitermachen. Ich brauche eine Auszeit von…« Er deutete zwischen uns, um uns, ich wusste es verdammt noch mal nicht, aber ich begriff, was er meinte.
»Du meinst von mir.« Ich war darauf vorbereitet, dass er ging. Ich wollte, dass er ging. Ich wollte seinen Rücken sehen, wollte sehen, dass sein dämlicher Haarschnitt und sein bevormundender Blick aus meinem Leben verschwanden. Ich wollte aufstehen, aber er hielt meinen Arm fest und zog mich zurück.
»Ja. Von dir. Und von all unseren anderen Freunden.«
Ich konnte nicht glauben, dass er es wirklich gesagt hatte. Mein sanfter, freundlicher Aiden, der einzige Mensch, der immer für mich da gewesen war, bei mir gewesen war, verließ mich.
»Und du musst dasselbe tun.«
Ich lachte. Ich konnte nicht anders. Ein enttäuschtes, ungläubiges Lachen platzte aus mir heraus, aber während ich lachte, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen.
»Tu, was du für dich für am besten hältst, Kumpel, aber sag mir nicht, wie ich mein Leben leben soll.«
Und da war es. Der harte Ausdruck in seinen Augen, die Anspannung in seinen Kiefermuskeln. Der Moment, in dem er sich bereit machte, mich zu zerstören.
»Renee hatte eine Fehlgeburt, als du die Überdosis hattest«, sagte er, ohne Bedauern in den Augen. Da lag nur Entschlossenheit.
Ich zuckte von ihm zurück, als hätte er mich tatsächlich geschlagen. Meine Ohren klingelten und zum ersten Mal in meinem Leben war mein Kopf ohne die Hilfe illegaler Substanzen vollkommen leer.
»Sie wird mich dafür hassen, dass ich es dir gesagt habe. Sie hat mich schwören lassen, es geheim zu halten, aber ich glaube, du musst es wissen«, fuhr Aiden fort, als hätte er nicht gerade meine gesamte Welt in tausend Stücke zerschlagen. »Wir lieben dich, Finney, aber du musst anfangen, auf dich achtzugeben. Renee ist deine kleine Schwester und trotzdem hat sie ihr ganzes Leben lang auf dich aufgepasst. Sie wäre am Boden zerstört, wenn dir etwas passiert.«
Ich hörte seine Worte, konnte aber nicht reagieren. Eine Weile war mein Kopf wunderbar leer und wurde dann von Anschuldigungen, Schuldgefühlen, Erinnerungen an Renee und mich als Kinder, Teenager und Erwachsene überflutet. Und dann glitten