Der Kuss. Boris Meyn
die Jahre war ich den Menschen gegenüber vorsichtig geworden, hatte Skepsis und Wachsamkeit hervorgebracht, mit denen ich, hochsensiblen Antennen gleich, Absichten und Begehrlichkeiten auslotete.
Ihre Augenbrauen mussten gezupft sein. Es war unwahrscheinlich, dass sie seitlich so über die Augen bis zu den Schläfen hin reichten, gleichfalls war die Nasenwurzel in ganzer Breite unbehaart. Den üppigen Haarwuchs ließ auch ihr kräftiges Haupthaar vermuten, das sie zwar streng nach hinten gekämmt und kurz zusammengebunden trug, das aber so unbändig schien, dass es nicht glatt am Kopf anlag, sondern von Spuren fahriger Wirbel durchzogen war. Ihr Haaransatz war unregelmäßig, und dort, wo die hellen Härchen auf ihrer Stirn in gezackter Linie ins Haupthaar mündeten, hatten sich kurze Locken dem gedachten Ordnungsschema entwunden und bildeten im Schlaglicht der Sonnenstrahlen einen diffusen Flaum, der wie ein Kranz um ihren Kopf lag und ihr fast etwas Elfenhaftes gab. Ihr Profil konnte ich nur erahnen, da sie den Kopf zwar ab und an hob, aber nicht zur Seite schaute. Auch Form und Größe ihrer Ohren blieben mir verborgen, dafür bot sich mir ihr Mund an, der im Verhältnis zum kräftigen Kinn nicht sehr breit war, was ihrem Gesicht einen eigenartigen Reiz verlieh. Die Mundwinkel endeten zwar auf Höhe der Iris, aber ihre Augen standen trotz ihrer langen und schmalen Nase mehr als eine Augenbreite auseinander. So konnten die mir verborgenen Ohren auch niemals dem Abstand von Mundwinkel zu Augenwinkel entsprechen, wie es idealerweise hätte sein müssen. So zumindest war es mir einst beigebracht worden, dort, wo uns dieser Zug hinbringen sollte.
Ich spürte, wie mir das Gesicht gegenüber zur Büste geriet, und ich war kurz davor, die Proportionen der unbekannten Frau in eine dreidimensionale Skizze zu verwandeln. Nur aufgrund ihrer hohen Stirn lag die Achse ihrer Augen auf halber Höhe des Kopfes, was allein deswegen merkwürdig anmutete, weil ihr Gesichtsfeld nicht nach unten versetzt war. Alles schien am rechten Platz, auch der Abstand von Nasenspitze zu Oberlippe war nicht verkürzt. Ganz im Gegenteil leitete ein wohlproportioniertes Grübchen, so wurde es im Kontrast des seitlich einfallenden Lichts beschattet, zu ihren Lippen über, die sie im unregelmäßigen Rhythmus mit ihrer Zungenspitze befeuchtete, eine trotzig spöttische Oberlippe, die auf einer vollen und sinnlichen Unterlippe ruhte. Mein besonderes Augenmerk schenkte ich der winzigen, unscheinbaren Narbe am Rand ihrer linken Braue, die noch aus Kindszeiten stammen musste.
»Die Folge einer kindlichen Unachtsamkeit, die von der Lenkerstange meines Fahrrades herrührt.« Mit dem Zeigefinger ihrer rechten Rand strich sie langsam über ihre Braue, als könne sie die zierliche Narbe ertasten. So genau also war sie meinem Blick über den Rand des Buches gefolgt. Nein, sie kannte ihre Makel nur allzu gut. Makel, die keine waren. Weder die klitzekleine Narbe, noch ihre etwas unreine und grobporige Haut, die sie überflüssigerweise mit Make-up zu kaschieren versucht hatte.
Das spitzbübische Lächeln wiederholte sich, auch wenn ihr die Röte der Überwindung dabei ins Gesicht schoss. Ihre Stimme war leise und freundlich. Sie klappte das Buch auf ihrem Schoß zu, dessen Cover mit Steg und Bootshaus an einem See oder Fjord den skandinavischen Krimi verriet, auch ohne dass ich Titel oder Namen des Autors entziffern konnte, und richtete sich soweit im Sitzen auf, dass der Kragen ihrer Bluse aufklappte und den Blick auf eine Kette mit goldenem Kruzifix freigab. Sie hatte die kräftig gezeichneten Schlüsselbeine und auffällig breiten Schultern einer Sportlerin.
Ich hätte die sich anbahnende Konversation mit nur einem einzigen französischen Satz unterbinden können, der mich als Ausländer ausgewiesen hätte. Aber schließlich hatte ich ihr Gesicht studiert, wie ein Künstler sich seinem Modell annähert, hatte ihren Kopf und nun auch ihren Oberkörper in ein metrisches Raster gezwängt, das mir Aufschluss über Proportionen und Maße gab, meine Gedanken hatten heimlich nach Rückschlüssen auf ein Wesen gesucht, dem ich mit meinen Blicken zu Leibe gerückt war. Das alleine hätte nach einer Entschuldigung gerufen, die mir nicht in den Sinn kam. Insofern verwarf ich die Idee und ergab mich dem Schicksal einer harmlosen Plauderei.
»Sie haben angefangen.« Ich erschrak, als ich mich in meiner Muttersprache reden hörte, so anders klang meine Stimme, und ich versuchte mich im selben Augenblick zu erinnern, wann ich das letzte Mal deutsch gesprochen hatte.
»Womit?«
»Mich zu beobachten, meine Gesichtszüge zu studieren.«
»Sie erschienen mir allemal interessanter als mein Buch.« Das war gewagt.
»Das Schicksal miteinander Reisender. Zumindest, wenn man sich gegenübersitzt.« So formulierte ich es, obwohl ich es besser wusste. Hätte ich geantwortet, dass das Buch demnach sehr langweilig oder schlecht sein müsse, wäre der weitere Verlauf unserer Unterhaltung besiegelt gewesen. »Es tut mir leid (was es nicht tat), falls Sie sich durch meine Blicke belästigt gefühlt haben. Ich war in Gedanken. Mein Berufbringt es mit sich, dass ich Menschen sehr genau beobachte. Ich hatte keine unschicklichen Absichten.« Ich hatte sie auch jetzt noch immer nicht, selbst wenn ich mit der Vorstellung spielte, sie könne spontan ein selbstbewusstes Wie Schade als Antwort geben.
»Was machen Sie denn beruflich?« Sie war doch schon längst erweckt, die Neugierde.
»Ich bin Bildhauer.« Was gelogen, zumindest übertrieben war. Die letzte Büste, mehr ein Torso der Erinnerung, ein Fragment verblassender Liebe, hatte ich vor mehr als fünf Jahren geschaffen. Seither schob ich jede Idee, jedes Projekt mit beliebigen Ausreden vor mir her, konnte mich nicht überwinden, den seltsamen Gedanken, die zwischen Sehnsucht nach Einsamkeit und dem Bedürfnis nach Liebe angesiedelt waren, bildlich Ausdruck zu verleihen. Und mehr beschäftigte mich nicht. Es war die Angst vor einer Bindung, das wusste ich nur zu genau, denn jede Bindung fraß mich auf, beraubte mich meiner Freiheiten.
Stets aufs Neue hatte ich den Versprechen Glauben geschenkt, dass man mir mein ewiges Bedürfnis danach, die Anarchie des Liebens auszuleben, niemals beschneiden wolle, und jedes Mal hatte sich dieser Vorsatz nach kurzer Zeit ins Gegenteil gekehrt, gewachsen aus Unverständnis, Eifersucht und unbegründeten Verlustängsten. Der Wunsch danach, mich für sich alleine zu haben, mich zu besitzen, legte mir spätestens dann Fesseln an, wenn die Faszination sinnlicher Körperlichkeit ins Spiel kam, und da ich keinen Torso, keine figürliche Skulptur ohne diese lüsterne Begierde formen konnte, war der Schaffensprozess für mich gleichsam zum dauernden Leidensweg geworden.
»Wie seltsam. Ich hätte Sie für einen Journalisten gehalten.« Sie deutete auf die Magazine neben mir, die ich seit dem Zwischenstopp in Paris mit mir herumschleppte und in die ich noch keinen Blick geworfen hatte. »Jemand, der sich mit Weinen und so beschäftigt ... ein Restaurantkritiker.«
Ich tat überrascht. Sie konnte nicht ahnen, wie nah sie sich an der Realität bewegte. Natürlich verriet einen das, womit man sich umgab, aber ich hätte sie nicht für eine so gute Beobachterin gehalten. Auch wenn nicht ich es war, der schrieb, sondern über mich geschrieben worden war.
Das Restaurant, das ich seit nunmehr vier Jahren gemeinsam mit Jacques betrieb, hatte es angeblich zu einer Randnotiz im Gourmetjournalismus geschafft, was ich mit dem Kauf von a la Carte, La Cuisine und dem deutschen Feinschmecker hatte überprüfen wollen. Für einen Eintrag in den Guide Michelin hatte es aufgrund unserer mangelnden Lobby-Ressourcen natürlich auch im vierten Jahr nicht gereicht, was jedoch deshalb zu verschmerzen war, weil eine solche Empfehlung unser Konzept allein aufgrund der verfügbaren Kapazitäten auf eine harte Probe gestellt hätte. Dem zu erwartenden Ansturm des Restauranttourismus hätten wir nichts entgegenzusetzen gehabt. Bislang hatten wir als regionaler Geheimtipp gegolten, weil die ursprüngliche Idee über die Jahre beibehalten worden war, ohne sich zu vergrößern.
Inzwischen mussten wir mehr als die Hälfte der Reservierungsanfragen absagen, dabei hätten wir ohne Weiteres noch eine Auberge mit Gästezimmern anmieten können. Das Konzept hieß: Minimalismus. Ich hatte die Idee von den sozialen Tafeln der Armenspeisung mit dem kleinen Unterschied abgeleitet, die Qualität des angebotenen Gerichts bis zum Maximum auszureizen. So gab es nach wie vor nur das eine Tagesgericht, einen nur dem Namen nach an das klassische Ratatouille erinnernden Eintopf, für den die Gäste inklusive eines Glases anständigen Rotweins nicht mehr als fünf Euro zu zahlen hatten. Wer mehr bezahlen wollte, dem war es natürlich freigestellt.
Die Rechnung war aufgegangen, auch wenn mir Jacques anfangs einen Vogel gezeigt hatte. Wir bezogen das Gemüse,