Der Kuss. Boris Meyn
hatte ich genau richtig reagiert, auch wenn mein eigentliches Empfinden für die schöne Unbekannte, deren Namen ich erst Tage später erfahren sollte, mir etwas anderes gesagt hatte.
Als wir uns das zweite Mal begegneten, verschlug es uns beiden gleichermaßen die Sprache. Uns blieb gar nichts anderes übrig, als die unglaubliche Zufälligkeit des Geschehens als eindeutiges Signal der Zugehörigkeit, als Vorsehung zu deuten. Ich hatte gerade das Procedere der Aufnahme erfolgreich überstanden und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es an diesem Tag noch etwas geben könne, das mein Glücksgefühl hätte steigern können, als ich sie am Treppengeländer der großen Halle in der Kunsthochschule lehnend erblickte.
Im ersten Augenblick hatte ich gedacht, es handle sich nur um eine Ähnlichkeit, aber fast im gleichen Moment war mir klar, dass es niemanden sonst mit diesen Augen geben konnte. Ihr musste es ähnlich ergangen sein, denn als sich unsere Blicke trafen, schien sich alles um uns herum in marginale Unschärfe zu verflüchtigen. Die beiden Studenten, mit denen sie im Gespräch gewesen war, ließen uns jedenfalls alleine, und es mussten etliche Sekunden gewesen sein, die wir uns einfach wortlos angestarrt hatten. Sie war viel kleiner und zierlicher, als ich sie in Erinnerung hatte.
Wer von uns zuerst das Wort erhob, entzog sich meiner genauen Erinnerung, aber beide waren wir zielstrebig darauf erpicht gewesen, uns keinesfalls erneut aus den Augen zu verlieren, was schließlich dazu führte, dass wir die nächsten Tage fast unzertrennlich aneinander kletteten und keine Gelegenheit ausließen, das nachzuholen, was uns seit unserer ersten Begegnung entgangen war.
Sie hieß Julia und studierte bereits seit zwei Semestern mit dem Schwerpunkt Textile Gestaltung. Der Umstand, dass sie zudem zwei Jahre älter als ich war, ließ sie glauben, die Führungsrolle in unserer angehenden Liebschaft übernehmen zu müssen, was ich dankbar geschehen ließ. Julia arbeitete nebenher als Verkäuferin in der Stoffabteilung eines großen Kaufhauses und konnte sich dank dieser Einkünfte eine eigene Wohnung leisten, in der ich mich auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin gerne einquartierte, bis ich etwas Adäquates gefunden hatte.
So wurde ich mit dreitägiger Verspätung zu ihrem Teddybären mit Namen Perikles, den sie am liebsten schon im Zug eingesammelt und mitgenommen hätte, wie sie mir in unserer ersten gemeinsamen Nacht gestand, in der ich nicht anders konnte, als ihr beizupflichten, dass auch sie mir nicht aus dem Kopf gegangen war, als ich die ersten Tage in der Stadt herumgeirrt war, versucht hatte, mich im Betrieb der Hochschule zurechtzufinden, die Gegend erkundet, die ersten Nächte auf Parkbänken geschlafen hatte und zum Waschen frühmorgens über den Zaun eines nahen Freibades geklettert war. Und dieser Perikles war ich geblieben, bis mir der Platz auf Nofretetes Regal der Teddybären zu eng wurde und das erwachsene Steifftier die Sehnsucht nach Freiheit überkam.
Nein, ich war längst kein Perikles, kein Abenteurer mehr, auch wenn mich das Verlangen danach beizeiten überkam. Die Lehren, die ich aus lästigen Skandalen und Feldzügen gezogen hatte, ließen sich nicht mit einem peloponnesischen Krieg oder dem Skandal um Phidias vergleichen, waren mir dennoch ständige Warnung, denn die Mechanismen, die aus Kriegsherren Teddybären und aus Teddybären Gefangene machten, hatten sich in meinem Leben nie geändert. In diesem Sinne verabschiedete ich mich von der unbekannten Frau, als der Zug im Hauptbahnhof zum Stehen kam, ohne ihren Namen erfahren zu haben und ohne die Aussicht auf eine Verabredung.
Vielleicht wiederholte sich der Zufall einer erneuten Begegnung, vielleicht auch nicht. Ich hatte es trotz der fordernden Einladung von Anelis vorgezogen, erst einmal in einem Hotel unterzukommen und die Stadt aufs Neue zu erkunden. Falls ich die Unbekannte wiedertreffen sollte, konnte ich mein Schicksal immer noch herausfordern.
Bevor ich die Hallen des innerstädtischen Bahnhofs verließ, der früher wie ein Riegel die Geschäfts- und Handelswelt auf der einen von den zwielichtigen Gassen der Gescheiterten auf der anderen Seite getrennt hatte, nutzte ich die Gelegenheit und kaufte mir einen Stadtplan. Ich war nicht sicher, ob ich mich nach den vielen Jahren der Abwesenheit in dieser Stadt noch zurechtfinden würde. Beim Überqueren der Ringstraße tankte ich dankbar ein paar Sonnenstrahlen, dann tauchte ich ein in die beschattete Schlucht der großen Fußgängerzone und ließ mich mitreißen vom Sog der Passanten auf ihrem Weg zu den alten, inzwischen mit Glasfassaden armierten Tempeln des Konsums.
Das Erste, was mir auffiel, war der Geruch der Stadt. Ich kramte in meinen Erinnerungen, aber den damaligen Geruch hatte ich abgelegt wie einen alten, von Motten zerfressenen Mantel. Ich wusste nur noch, dass in den Teilen der Stadt, in denen industrielle Produktionsstätten gestanden hatten, sehr oft ein durchdringender Geruch von Hefe in der Luft gelegen hatte, ganz abgesehen vom Gestank der Hafenbezirke, einer Mischung aus modrigem Brackwasser und den Abgasen der Schwerölverbrennung.
Zumindest hier an diesem Ort war davon nichts zu spüren. Weder der penetrante Duft gebratener Hähnchen lag in der Luft, noch begegnete ich den stets hungrig machenden Schwaden von Frittenfett und Currywurst, die einst an jeder zweiten Ecke aus den Imbissbuden und Verkaufswagen aufgestiegen waren. So langsam kam die Erinnerung zurück. Was ich hingegen wahrnahm, war eine Melange aus Coffee to go, Parfüm, Nikotin und Schweiß wie ein letztes Aufbäumen gegen den aseptischen Geruch von Geld und Kommerz.
Ungewohnt waren auch die vielen Stühle und Tische vor den zahlreichen Lokalen. Was ich in Erinnerung hatte, war das rast- und ruhelose Strömen der Menschen vor den Schaufenstern und durch die Passagen, deren Anzahl sich gleichwohl verdoppelt haben musste, unterbrochen höchstens von den Pulks der selbst ernannten Outlaws, die sich um die Brunnen und an markanten Plätzen versammelten und demonstrativ alternative Lebenskulturen propagierten, letztendlich nichts anderes als rebellierende Jugendliche, wie es sie seit jeher gegeben hatte. So gut wie nichts davon war geblieben.
Touristen und Einheimische waren auf den ersten Blick kaum auseinanderzuhalten. An diesem Ort wirkte die Stadt vollgestopft und überlaufen von Menschen, die nicht zu arbeiten schienen, flanierende Pärchen, Männer in teuren, maßgefertigten Anzügen, die sich sowohl alleine als auch in kleinen Gruppen bewegten, sicher Geschäftsleute auf dem Weg in die Mittagspause, blasse Mädchen mit kurzen Röcken, darunter einheitlich dreiviertellange, schwarze Strumpfhosen und Ballerinas, das Handy am Ohr, egal ob laufend oder sitzend, auf das Gerät starrend, abgerückt von der Welt, zumindest der realen.
Vorbei die Zeit, wo man in dieser Stadt sein Mittagessen im Stehen einnahm. Sushi Bars, Cafés und Spezialitätenrestaurants von unglaublicher regionaler Vielfalt hatten Fischbrötchen und Chinamann allerorten abgelöst. Was früher unter Asia-Food lief, differenzierte man inzwischen nach Ländern, abwechselnd Vietnam, Korea und Thailand, außerdem gab es indische, malaysische oder philippinische Delikatessen. Früher hätte man jede Wette eingehen können, in der Küche beim Asia-Restaurant schwarzhäutige Kenianer oder Ghanaer anzutreffen.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, das alte Vorurteil den Küchenhierarchien in fernöstlichen Restaurants gegenüber prüfen zu wollen, ließ es dann aber und setzte mich am Ende der Fußgängerzone unter den Schirm eines Eiscafés, dessen Mobiliar durch einen Zaun von Buchsbäumen in eckigen Terracotta-Kübeln zu dem der benachbarten Pizzeria abgegrenzt wurde.
Ein wenig Wehmut überkam mich. Alles wirkte so aufgeräumt und sauber, wie man es in den achtziger Jahren – wenn überhaupt – höchstens aus Zürich kannte. Die Gehwege und Bürgersteige waren blitzblank und aufgeräumt, obwohl kein Reinigungsfahrzeug oder Straßenkehrer zu sehen war. An den Laternenmasten klebten weder Aufkleber noch Offerten. Dafür gab es Spenderboxen mit kostenlosen Tüten für Hundedreck und Mülleimer, die nicht mehr gelb oder grün waren, sondern rot und mit einer eigenen Öffnung für Zigaretten. Auf den zweiten Blick bemerkte ich die plakativen Wortspielereien auf den Tonnen, mit denen die Passanten zur Nutzung aufgefordert wurden. Zumindest in ihrer Aufmachung erinnerten sie an die infernalische Plakatierungswut früherer Zeiten.
Die Straßen waren verkehrsberuhigt und zugeparkt wie in Paris. Der Lieferverkehr parkte in der zweiten und dritten Reihe mit dem Unterschied, dass die hiesigen Straßen und Gassen in ihren Ausdehnungen und ihrer Breite nicht an die französischen Boulevards heranreichten. Entsprechend zäh floss der Verkehr. Dafür gab es hier Autos von unglaublichen Ausmaßen, die angesichts der beengten Verkehrssituation eine Groteske der Unvernunft waren. Luxuslimousinen und Sportwagen, zweistöckig wirkende Geländewagen, die ich aus den Anzeigen