Der Kuss. Boris Meyn
einen herum aus verabredeter Distanz, nur um nicht dazuzugehören, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass man auch ein Teil des Systems war. Ich verkniff mir meine Kritik. Die Toleranz gegenüber scheinbar Gleichgesinnten war eine heilige Kuh, egal, was für ein Stuss gefaselt wurde.
Für kurze Zeit spielte ich mit dem Gedanken, bei Mark unterzuschlüpfen, aber er war mir zu unorganisiert und zu selbstsüchtig. Hinzu kam der Umstand, dass er, wenn es draußen kälter wurde, in seinen Räumen ein Zelt aufschlagen musste, weil es keine Heizmöglichkeiten gab. Ein Leben in Schlafsack und Trainingsanzug aber, wie er es den Winter über praktizierte, wenn er nicht in einem der Jazzkeller nächtigen konnte, war mir zu ungemütlich. Ich hatte den Luxus, den Julia nach wie vor mit mir zu teilen bereit war.
Auf Winklers Empfehlung hatte ich einen Job als Nachtwache in der städtischen Antikensammlung angetreten, was mir gut zupass kam, konnte ich doch dort vier Nächte in der Woche nebenher mein Studium der Skulpturen und Plastiken fortsetzen. Ich arbeitete gemeinsam mit Karl Bollmann, einem kriegsversehrten Marineoffizier, der die Zeit damit totschlug, seine Aufmerksamkeit zwischen Videoschirmen und BILD-Zeitung hin und her gleiten zu lassen. Ich machte meine Rundgänge und konnte den Blick für die idealen Proportionen in der Anatomie griechischer und römischer Kunst schärfen, währenddessen Bollmann anatomische Studien in schmuddeligen Sexblättchen betrieb.
Was die Arbeitsteilung betraf, waren wir uns schnell einig. Er war dankbar, mit seiner Prothese nicht durch das Labyrinth der Gänge und Ausstellungsräume stiefeln zu müssen. Ich war froh, nicht mit ihm in der stickigen Bude sitzen und lauwarmen Kaffee aus der Thermoskanne trinken zu müssen. Ich dehnte meine Rundgänge immer weiter aus. Nachdem ich meine Antikenstudien beendet hatte, drang ich immer mehr in die benachbarte Skulpturensammlung der Moderne vor, schlich mit Skizzenblock und Bleistift um die Werke von Barlach, Maillol, Rodin, Arp, Chillida, Serra und anderen, zeichnete im Halbdunkel der Räume wie ein Besessener aus allen Perspektiven, bis mir die Plastiken so vertraut waren, dass ich mir einbildete, sie aus der Erinnerung selbst formen zu können.
Wenn ich frühmorgens in Julias Wohnung zurückkehrte, empfing sie mich liebevoll, und in der Regel legte sie sich dann noch für eine kurze Zeit zu mir ins Bett, auch wenn sie sich bereits angezogen hatte. Meist aber stand sie spärlich bekleidet oder nackt in der Küche, bereitete sich einen Tee und wartete auf ihren Krieger, dem sie stets aufs Neue eine ungekünstelte Lüsternheit präsentierte.
Sex am Morgen war für sie Bestandteil eines guten Starts in den Tag. Selbst wenn ich schlaff und müde aus der nächtlichen Schlacht heimkehrte, brauchte sie mich kaum zu überreden, denn mein Körper hatte hinsichtlich ihrer bezaubernden Versuchung längst ein Eigenleben entwickelt. Sie sprach nie aus, dass sie mich die Nacht über vermisst hatte, ihre Augen aber betonten es fortwährend.
Maura war die Einzige, die sie hin und wieder durch die Nächte begleitete, in denen ich arbeitete. Die beiden gaben sich dann stundenlang esoterischem Schnickschnack hin, legten Karten, pendelten bei Kerzenschein irgendwelche Gegenstände aus oder machten spirituelle Sitzungen mit selbst gehäkeltem Voodoo. Maura war die Tochter eines Professors für Sanskrit, der am Goethe-Institut in Poona arbeitete, und hatte über ihre Familie direkten Kontakt zu den Geschehnissen um Bhagwan Rajneesh und dessen Meditationsveranstaltungen. Das übertrug sich indirekt auch auf uns. Julia war ganz hingerissen von den transzendenten Aspekten, zumal sie ihre sexuelle Phantasie anregten und die Gier nach Vereinigung erklärten.
Auf mich wirkte Maura ziemlich durchgeknallt. Die Art und Weise, wie sie sich betont körperlich exaltierte und Julia in Beschlag nahm, bereitete mir mehr Sorgen, als ich mir eingestehen wollte. In der Tat war es dann auch Maura, die Julia irgendwann den Vorschlag unterbreitete, man könne doch mal ein paar sexuelle Experimente zu dritt angehen, schließlich würden doch viele Männer vom Sex mit zwei Frauen träumen.
Ob sie heimlich in mich verliebt war oder sich mit diesem Vorschlag mehr Julia annähern wollte, wusste ich nicht. Es war für mich durchaus denkbar, dass sie sich heimlich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte, aber dem klassischen Lesbentyp entsprach sie keinesfalls. Die Sache scheiterte dann auch daran, dass mich Maura körperlich überhaupt nicht reizte, obwohl die Vorstellung an sich auch in meiner Phantasie ihren Platz gehabt hatte. Doch musste ich zugeben, dass mir die reale Umsetzung gedankliche Schwierigkeiten bereitete, was ich so auch Julia erklärte. Ich musste mich auf einen Menschen konzentrieren können.
Aber das, was über Maura in unsere Zweisamkeit floss, tat uns gut. Zumindest das Körperliche genoss ich sehr – der religiös-philosophische Unterbau blieb mir hingegen suspekt. Auch wenn ich versuchte, die transzendenten Aspekte zu berücksichtigen: Für mich stand die Libido im Vordergrund. Das ganze Drumherum, die äußeren Signale und Erkennungszeichen, Kleidung, Farben, Ketten und Symbole, wie sie Jahre später in die Öffentlichkeit getragen wurden, fand ich albern. Auch Julia lehnte es ab, sich nach irgendwelchen festgelegten Regeln zu kleiden. Umso intensiver tauchten wir in einen Strudel sexueller Erforschungen ab und liebten uns danach, weil das Experiment zum Zentrum wurde.
Maura hatte Julia ein Kamasutra geschenkt. Wir beide hatten auch ohne Tantra unseren Spaß und lustige Momente, wenn wir uns durch die miris coitici arbeiteten, die besonderen Vereinigungen, und feststellten, dass die Anatomie unserer Körper bestimmte Stellungen unmöglich erscheinen ließ. Wir lachten uns halb tot über die albernen Namensvergleiche aus der indischen Tierwelt, wenn es um Form und Größe unserer Geschlechtsteile ging, erprobten vorgeschlagenes und dargestelltes Rollenspiel bei der Verführung, wobei wir uns vorstellten, auf der Bühne eines Theaters zu stehen, und steigerten unsere Sprache dabei bis zur Grenze der Lächerlichkeit, vor allem wenn wir uns in der Öffentlichkeit bewegten und ein spontanes Begehren wie die schüchterne Frage nach einer Verabredung formuliert vortrugen.
Es wurde zu unserem Spiel, die umständlich und kompliziert teils prosaisch vorgetragenen Wünsche des anderen dann mit einem banalen eigentlich möchte ich lieber ficken zu beantworten. Und das taten wir dann auch als Erstes, wenn wir wieder zuhause waren.
Von Anfang an war Julia diejenige gewesen, die mich auch in sexuellen Dingen an die Hand genommen hatte. Ich hatte bei ihr keine Gelegenheit gehabt, mich hinter meiner Unerfahrenheit zu verstecken, so stürmisch hatte sie mich geführt. Ich war gerne ihr gelehriger Schüler gewesen. Dabei hatte sie, wie sich schnell herausstellte, kaum mehr Erfahrung als ich, was mich verblüffte.
»Ein Jahr die Pille und wildesten Sex – aber nur im Traum«, gestand sie mir scherzend nach unserem ersten Mal. Nichtsahnend war ich ihrer Einladung auf einen Tee in ihre Wohnung gefolgt, die recht nah bei der Hochschule lag. Noch am Tag unseres überraschenden Wiedersehens, kaum zwei Stunden später.
Endgeschoss in einem Altbau, das man nach dem Krieg provisorisch hergerichtet und mit vereinfachter Dachlandschaft versehen hatte. Zumindest keine Wasserrohre an der Decke und keine feuchten Wände. Ein Flur, in dem man sich verirren konnte, der Fußboden mit Nadelfilz beklebt, davon abgehend ein großer heller Raum, in dem ihr Webstuhl stand, nach vorne hinaus zwei ineinander übergehende kleinere Räume, Plakate und Kerzenlüster an den Wänden, auf dem Boden Matratzen, Kissen und viel Rattan.
Es roch orientalisch. Räucherstäbchen. Sandelholz, wie sie erklärte. Die Küche war ein schmaler Schlauch, am Ende stand noch ein alter Narag-Ofen, wie er früher auch bei uns zu Hause gestanden hatte, zur Seite gab es eine Anrichte, einen Spülstein und einen Kühlschrank mit massiver Hebeltür. Das Bad war dafür umso geräumiger, was daran lag, dass die Toilette in einem eigenen kleinen Kabuff am Ende des Flurs untergebracht war, der hingegen so eng war, dass man sich bei geschlossener Tür kaum darin bewegen konnte. Ein Wendemanöver mit heruntergelassener Hose schien unmöglich. Wenn man sich aufs Klo setzen wollte, betrat man den Raum am besten im Rückwärtsgang.
Mitten im Bad, das wohl zehn Quadratmeter groß sein musste, stand eine alte Badewanne, emailliert mit klassischen Löwenfüßen und ebenso alten Armaturen. Ein wirkliches Schmuckstück, vor allem, weil es darüber noch einen Duschkopf aus glänzendem Messing gab. Der Duschvorhang hing wie ein Baldachin aus gerafftem Chintz von der Decke und konnte mit einer Kette abgesenkt werden. Ich war überwältigt, und weil ich mich das letzte Mal vor zwei Tagen in einem öffentlichen Freibad gewaschen hatte, lag mir die Frage nach einer Dusche förmlich auf den Lippen.
Alles Weitere geschah