Der Kuss. Boris Meyn
fast nur das Lammfleisch, der Wein und die Betriebskosten einen wirklichen Kostenfaktor darstellten. Die Karaffe Wasser auf dem Tisch gab es gratis, und selbst das Wagnis, dass wir seit einem Jahr alternativ einen hervorragenden Medoc zum Aufpreis von fünfzig Euro die Flasche anboten, hatte unserem Erfolg keinen Abbruch beschert. Ganz im Gegenteil hatten wir eine weitere Klientel als Gäste hinzugewonnen.
Ich spielte mit dem Gedanken, sie danach zu fragen, ob es denn hier in der Region erwähnenswerte Lokalitäten gäbe, deren Besuch sich gegebenenfalls lohnen würde, verwarf die Idee aber sofort, da sie der versteckten Einladung gleichkam, die aus einer harmlosen Plauderei in die tastende Zone gegenseitiger Bereitschaften geführt hätte. Genauso gut hätte ich sie gleich fragen können, wohin sie fuhr, und ihre etwaige Empfehlung eines Restaurants hätte ich mit der Offerte eines gemeinsamen Dinners beantwortet, der ich noch den Wunsch nach einem besonderen Wein nachgereicht hätte, gefolgt von meiner beiläufig zu erwähnenden Schwäche für süße Nachspeisen, und sehr wahrscheinlich – ich hatte längst festgestellt, dass sie keinen Ehering trug – wäre der Weg besiegelt gewesen, der in den nächsten Tag geführt hätte. Ohne Aufforderung, ohne die Plattitüden schmeichlerischer Komplimente, vielleicht sogar ohne den Namen des anderen zu erfahren, nur in der sicheren Erwartung auf die Frage danach, wie es nun weitergehen werde. Genau dieser Moment war es, der mich Abstand nehmen ließ trotz aller Verlockungen des ewigen Experiments und der Frage danach, ob und inwieweit der Ausgang immer gleich blieb.
Ich war nicht als Abenteurer gekommen, nicht so, wie damals vor dreißig Jahren, als ich den Weg das erste Mal auf mich genommen hatte, in der neugierigen Erwartung eines jungen Mannes, der für alles offen gewesen war, was ihm das Leben anbot.
Nur mit dem nötigsten Gepäck war ich aufgebrochen, die vage Hoffnung vor Augen, an der Kunsthochschule aufgenommen zu werden, eine Mappe mit Skizzen und Zeichnungen unter dem Arm, einen Seesack mit Kleidung, Werkzeug und drei Plastiken und Skulpturen, dilettantische Kopien klassischer Vorlagen, mit denen ich die Aufnahmekommission der Hochschule zu beeindrucken geplant hatte, zumindest was die handwerkliche Umsetzung betraf, denn Proportionen und Körperlichkeit wichen doch deutlich von den antiken Originalen ab. Was kein Wunder war, kannte ich doch nur die Fotografien im Kunstatlas der Schulbücherei, die mir als Vorlage gedient hatten. Aber zumindest waren es Arbeiten in einem recht kostbaren Material, weißem Marmor, in Wirklichkeit Bruchstücke und Reste aus der Werkstatt, mit denen mein Vater nichts mehr anfangen konnte. An der Oberflächenbehandlung war nichts auszusetzen gewesen, schließlich war ich durch die harte Schule eines Steinmetzes gegangen, und natürlich hatten mir alle Schleif- und Polierhilfen eines professionellen Betriebes bis zur Fertigstellung zur Verfügung gestanden.
Ich hatte nur wenig Geld zusammensparen können, etwa so viel, um die ersten drei Wochen zu überstehen, bis ich eine Arbeit gefunden hatte, die sich zeitlich mit dem geplanten Studium verbinden ließ. Aber zunächst galt es, eine preiswerte Bleibe zu finden, von der aus ich die Hochschule möglichst zu Fuß erreichen konnte, denn ein Fahrrad besaß ich nicht und für Bus- und Straßenbahntickets wollte ich mein mühsam Gespartes nicht ausgeben. Die Plätze im Studentenwohnheim waren längst belegt, die Jugendherberge lag am anderen Ende der Stadt.
Das waren die Dinge, die mir damals durch den Kopf gingen, als sich der Zug langsam der Stadt näherte, überfüllt mit Reisenden und Pendlern, trotz der stickigen Luft des Raucherwagens mit seinen nebligen Vorhängen, den noch widerspruchslos geduldeten Rauchschwaden, die unter dem Tonnengewölbe des Waggons bizarre Muster bildeten. Es war einer dieser silbrig glänzenden Eilzüge gewesen, die sich ihrem Ziel entgegen ihres Namens mit viel Muße näherten, die häufig unvermittelt anhielten und minutenlang auf freier Strecke ausharrten, bis die endlos langen Güterzüge oder auch die grün gestrichenen D-Züge vorbeigerauscht waren. Die Sitznischen mit ihren Polstern aus rotnoppigem Kunstleder waren zum Mittelgang hin offen, über ihnen trennte ein Geflecht aus messingfarben eloxierten Gepäckablagen die einzelnen Sitzgruppen, wobei große Kopfstützen am Ende der Bänke dafür sorgten, dass dösende oder schlaftrunkene Reisende sowie vom Feierabendbier angetüdelte Arbeiter, die aus den Industriestandorten der Randregionen zurück in die Stadt kamen, nicht von den Bänken rutschten. An den darüber angebrachten Garderobenhaken hatten die Jacken und Kopfbedeckungen der Reisenden das monoton schunkelnde Lied unebener Gleise getanzt.
Etwa zu dem Zeitpunkt, als der Zug das erste Mal den Fluss überquert hatte, den es auf dem Weg zur Stadt von Süden kommend zweimal zu kreuzen galt, hatte ich die Frau bemerkt, die mir schräg gegenüber auf dem Fensterplatz saß und mich aufmerksam betrachtete. Meine Mappe hatte ich zuunterst im Gepäcknetz verstaut, aber sie ragte aufgrund ihrer Größe immer noch weit über den Rahmen hinaus, sodass ich von Zeit zu Zeit aufblickte, um zu kontrollieren, dass sie nicht verrutscht war. Den Seesack hielt ich zwischen den Beinen und begutachtete abwechselnd meine darin verborgenen griechischen Göttlichkeiten, die mir als Eintrittskarte zum studentischen Leben dienen sollten, einen Torso der Aphrodite, den Kopf des Poseidon als Teil eines Reliefs sowie eine kleine Büste, die ich nach dem Vorbild des Perikles angefertigt hatte.
Ihr Blick haftete an den Werkstücken und an meinen Händen, wobei ihr Gesichtsausdruck lebhaft zwischen Erstaunen und Begeisterung wechselte, bis sie sich meiner Aufmerksamkeit sicher war, weil ich unvermittelt lachen musste und sie hinter gespielt schüchterner Maske Stellung bezog, um sofort wieder ein keckes, verschmitztes Grinsen anklingen zu lassen, das einer spielerischen Einlage, einer komödiantischen Grimasse gleichkam. Fasziniert von ihrem Mienenspiel hatte ich begonnen, sie genauer in Augenschein zu nehmen, und fragte mich insgeheim, warum sie mir bislang nicht aufgefallen war, wo sie doch so nah bei mir saß, denn hinter ihrer anfänglichen Unscheinbarkeit verbargen sich die dunkelsten und geheimnisvollsten Augen, die ich bis dahin gesehen hatte. Sie musste etwa in meinem Alter sein, sodass ich mich ermutigt gefühlt hatte, sie direkt anzusprechen.
»Sind sie so schlecht?«, hatte ich mit Blick auf die kleine Büste in meinen Händen gefragt. Sie hatte ein schmales, an den Wangen eingefallenes, fast knochiges Gesicht mit einer noch schmaleren Nase und einem umso größer wirkenden Mund mit vollen Lippen, die, einem anhaltenden Erstaunen gleich, stets geöffnet waren. Unter den kastanienbraunen Haaren, die sie fahrig unter einer Baskenmütze verstaut hatte, zeichneten sich große, apart abstehende Ohren ab, aber im Zentrum meiner Aufmerksamkeit hatten ihre Augen gestanden. Sie waren mandelförmig wie die der Nofretete, mit schwarzem Kajalstift gerändert, und ihre Iris war von so dunkler Farbe, dass sich der Übergang zu den Pupillen nur erahnen ließ.
Mit einem herzhaften Lachen hatte sie ihre Zähne entblößt, die von makellosem Weiß waren, aber angesichts ihres schmalen Kiefers überaus groß wirkten. »Weil ich lachen musste? Nein, das Lachen galt Ihnen, weil Sie so verträumt waren, so entrückt wirkten ... Haben Sie die gemacht? Den ... Perikles?«
»Man erkennt also schon, was es darstellen soll?«, hatte ich spaßeshalber erwidert. Zumindest kannte sie sich mit antiker Kunst aus, was mich verblüfft hatte.
»Nun ja, Perikles erkennt man dank seines unverwechselbaren Helms ja immer«, hatte sie gesagt, und als sie an meinem Gesichtsausdruck ablas, dass ihre Worte nicht gerade als Kompliment aufzufassen waren, hatte sie sich beeilt, ein »doch, sehr schön« hinzuzufügen, merkte aber wohl, dass ihr ursprüngliches Urteil kaum mehr zu revidieren war. »So etwas passiert mir ständig«, hatte sie zerknirscht zu verstehen gegeben. »Dabei wollte ich eigentlich nur sagen, dass ich keine Expertin auf dem Gebiet bin.«
Auch wenn ich vielleicht hatte wissen wollen, auf welchem Gebiet sie denn eine Expertin war, und aus dem Gespräch eine freundschaftliche Annäherung, ein gegenseitiges Kennenlernen hätte entstehen können, tat ich damals nichts dergleichen, obwohl ich zumindest eine Art Wiedergutmachung hätte einfordern können. Vielleicht hatte es mir zu dem Zeitpunkt auch noch am dazu notwendigen Selbstbewusstsein gemangelt, denn meine Erfahrungen in Bezug auf das andere Geschlecht waren kläglich, was wohl daran lag, dass ich mich, angeekelt von der offensichtlichen Schürzenjägerei meines Vaters – er war mit seinem unkontrollierten Eroberungsdrang das denkbar schlechteste Vorbild für einen Heranwachsenden gewesen – sehr schwer damit getan hatte, dem Flirten auch ohne ständigem Ziel vor Augen etwas abgewinnen zu können.
Vielleicht war es aber auch nur die Situation als solche gewesen, von anderen Fahrgästen beobachtet zu werden, deren Blicke keine pietätvolle Zurückhaltung signalisiert hatten,