Der Kuss. Boris Meyn
Wenn tatsächlich wohlhabende Gäste einkehrten, was in letzter Zeit immer häufiger geschah, fuhren sie mit dem Taxi vor. Ich winkte nach dem braun beschürzten Ober, einem schwuchtelig mit den Hüften tänzelnden Jüngling mit Pilzkopf, braun gebrannt und mit peinlichem Tattoo am Oberarm, der mich erwartungsvoll anschmachtete, und bestellte einen Cappuccino und einen Krokantbecher mit Sahne, seine begehrlichen Blicke ignorierend. Mit meinem hellen Leinenanzug fühlte ich mich inmitten der kurzen Röcke und dunklen Anzüge etwas deplatziert, ließ es mir aber nicht anmerken und genoss heimlich den Exotenstatus, der mir zufiel.
Mit dem Cappuccino und dem Eis kam die Maisonne. Sie gab ein kurzes Intermezzo zwischen den Dachmansarden zweier Geschäftshäuser. Zumindest für einen Augenblick erfüllten die Sonnenschirme ihren Zweck, bevor die langen Schlagschatten der Geschäftshäuser die Konsumschlucht wieder ins Dunkel tauchten.
Der Cappuccino schmeckte dem Preis entsprechend süß, das Eis war im American Style überdekoriert, die Waffel ungenießbar. Wo waren sie geblieben, die unzähligen Tauben, welche die Stadt hier früher besetzt gehalten hatten? Keine Baustellen mehr, keine verwahrlosten Fassaden, die in den Siebzigern noch mehrheitlich die Straßenzüge dominiert hatten. Alles wirkte aufgeräumt und fertig, Sonnenmarkisen, früher als Regenmarkisen verspottet, über jedem Schaufenster, Ton in Ton gehalten mit dem Putz der darüber aufragenden Fassaden, Auslagen wie für Fotografen arrangiert.
Man hätte den Eindruck gewinnen können, die Geschäfte konkurrierten gegenseitig in der Wiederholung des Weglassens. Keine Krimskrams-, Ramsch- und Teeläden mehr, kein Tinnef weit und breit. Die Mischung war weg, konzentrierte sich wahrscheinlich an anderen Orten. Hier herrschte gähnende Eintönigkeit. Selbst die großen Kaufhäuser, früher Vorwand, dringend in die Stadt zu müssen, Unordnung über die zahllosen Etagen mit ihrem Geflecht aus Rolltreppen und Lichtschächten verteilt, waren nur noch Rudimente ihrer selbst. Das also war mein erster Eindruck.
Um nicht in Melancholie zu verfallen, hatte ich ein Zimmer bei einer amerikanischen Hotelkette gebucht, sachlich und neutral, mit Angeboten, die mich nicht in Versuchung führten. Ich war nicht als Abenteurer gekommen und hatte keinen Bedarf an befristeter Gefolgschaft. Zwei Nächte mit der Option auf Verlängerung. Anelis hatte mir angeboten, bei ihr zu wohnen. Einen genauen Ankunftstag hatte ich ihr wohlweislich nicht mitgeteilt. Ich wollte keine Verpflichtung eingehen.
Beim Einchecken nur der Anflug fragender Verständnislosigkeit mit Blick auf meine kleine Reisetasche, der binnen Sekundenbruchteilen in der angelernten Maske transatlantischer Toleranz verschwand: Der Gast war König – egal welcher Insignien er sich bediente. Kein Stirnrunzeln, wenn man mit ausgewaschenen Jeans die Suite betrat, keine tadelnd rollenden Augen, wenn normales Besteck zum Fisch verlangt wurde, Pommes Frites zur Seezunge geordert oder Kartoffeln zum Spargel mit der Gabel zermust wurden. Diese Freiheiten hatte Europa dem Amerikanismus in der Reisebranche zu verdanken, wie er irgendwann in den achtziger Jahren seinen Siegeszug gegen die zwanghaften Zeremonien traditioneller Benimmregeln angetreten hatte. Who cares? Dort war das Geld, das den Umsatz brachte. Nun waren die Russen und Chinesen in die Rolle der kapitalkräftigen Eroberer geschlüpft. In Frankreich zumindest. Ob es auch hier so war, würde sich zeigen.
Das Zimmer hatte beachtliche Ausmaße und auf dem King-Size Bett hätte man eine Orgie veranstalten können. Ich verstaute meine Kleidung im riesigen Schrank, wobei ich mir aus Unwissenheit die Finger in einem Automatikbügel klemmte, dessen Technik sich mir auf den ersten Blick nicht erschloss, und das nur, um zwei Hemden und eine Hose faltenfrei zu bekommen. Meine Wertsachen, darunter ein Verrechnungsscheck in Höhe von sechs Millionen Euro, schloss ich im zimmereigenen kleinen Wandtresor ein. Dann scheiterte ich daran, die Tür des Zimmers mittels einer elektronischen Karte abzuschließen, sodass ich den Zimmerservice rufen musste. Man erklärte mir wie einem Außerirdischen, in welcher Reihenfolge das Schließen, Einstecken, Warten und Rausziehen zum Erfolg führte.
Ich dankte dem Zimmermädchen und verabschiedete mich mit dem erleichterten Blick eines Hilflosen, an den sie – ich war mir sicher – noch eine Weile zurückdenken würde, weil sie mich die ganze Zeit so angeschaut hatte, dass es mir nicht sonderlich schwerfiel, ihre Gedanken zu erraten. Dann war ich zurück im Strudel der Straße, der mich aufsog wie einen Heimkehrer aus dem Gulag, wie einen geläuterten Eremiten.
Wie sehr ich diese Stadt vermisst hatte, merkte ich erst, als ich nach mir bekannten Dingen Ausschau hielt und mir bewusst wurde, dass selbst zwei Jahrzehnte mit all ihren Zyklen und Legislaturperioden ihren Grundcharakter nicht hatten verändern können. Tatsächlich erkannte ich kaum etwas, das ich mir eingeprägt hatte – die Erinnerung haftete ja meist an Kleinigkeiten, nicht am Ganzen, und diese Kleinigkeiten existierten nicht mehr. Aber das allumfassende Konstrukt, das Schachbrett, auf dem diese Stadt gegründet lag, hatte sich genauso wenig verändert wie die Dimensionen der strukturellen Topografie.
Ich vermisste die Telefonzellen, die früher geballt an markanten Punkten gestanden hatten. Gezwungenermaßen kehrte ich bei einem der mit grellen Farben beworbenen Telefonshops ein und erstand mein erstes Handy. Es verging bestimmt eine halbe Stunde, in der mich die junge und adrette Verkäuferin von den Vorzügen der unterschiedlichen Produkte zu überzeugen versuchte. Ich nickte zustimmend und ließ mir das Premiummodell aufschwatzen. Der Vertrag wäre fast noch daran gescheitert, dass ich keinen ständigen Wohnsitz in Deutschland vorweisen konnte. Deshalb gab ich Anelis’ Adresse an. Nachdem auch dieses Problem aus dem Weg geräumt war, verließ ich nach mehr als einer Stunde Aufklärungsarbeit den wenige Quadratmeter großen Laden, bewaffnet mit einer Grundeinstellung, die selbst einen so technologiefeindlichen Menschen wie mich dazu in die Lage versetzen sollte, an jedem Ort meiner Wahl nicht nur telefonieren zu können, sondern dazu noch Hunderte von Dingen zu erledigen, die mir freiwillig nie in den Sinn gekommen wären.
Die Galerie Finissage, die Anelis seit nunmehr zehn Jahren betrieb, lag hinter dem Domplatz. Ich hatte Schwierigkeiten mit der Zuordnung der Straßennamen, weil die Sanierung ganzer Stadtteile zu neuen Freiflächen, Parks und Sehenswürdigkeiten geführt hatte und zu einem neuen innerstädtischen Wegesystem. Ich musste nur den Strömen von Passanten folgen, um zur nächsten Sehenswürdigkeit, zum nächsten Knotenpunkt oder Denkmal zu gelangen. Aber das wurde mir erst später bewusst. Noch hielt mich die Erinnerung gefangen und ich versuchte den alten Eckpunkten auf einem neuen Stadtplan zu folgen, sie wiederzuerkennen, die Spuren unserer damaligen Zeit aufzuspüren. Ich war glücklich bei jedem noch so marginalen Indiz.
Wie ein kleiner Junge schlich ich um die mit Backsteinornamenten ziselierten Ecken gewaltiger Kontorhäuser, bis ich einen Blick erhaschen konnte auf die Vorgänge in dieser Kathedrale der Künste. Die Fenster der Galerie hatten grün getönte Scheiben, dahinter lockten Kaskaden weißer und grauer Stoffbahnen, die, transparenten Jalousien gleich, den direkten visuellen Zugriff auf die Geschehnisse und Kunstobjekte im Inneren verwehrten. Gleichzeitig mussten sie ein Lockmittel für das kapitalkräftige Publikum sein, das gewillt war, Monats-, ja Jahresgehälter für Kunst zu berappen, die so spärlich in den Räumen arrangiert wurde, dass kein nachbarliches Objekt den Wert beeinflusste. Kunstpräsentation in der Leere des Raums, der auf mich nicht einmal besonders einladend wirkte. Ich brauchte nur wenige Minuten, um zu sehen, dass die Jahrzehnte auch an Anelis nicht spurlos vorbeigegangen waren.
Sie hatte immer noch die knabenhafte Statur androgyner Burschikosität und trug ihre Haare kurz wie eh und je. Inzwischen leuchteten sie so weiß, dass ich kaum glauben konnte, sie färbe sie nicht nach. Mein eigenes Haar begann gerade zu einem lichten Grau zu changieren. Anelis trug Schwarz, wie sie es immer getan hatte. Wahrscheinlich war sie sogar der Kollektion dieser legeren Hosenfrau mit dem schiefen Lächeln treu geblieben, die inzwischen zu Weltruhm gelangt war, das Fräulein Chanel von Hamburg. Zumindest hatte Anelis damals immer von ihren Entwürfen geschwärmt. Nur hatte sie sich die Kostüme und Hosenanzüge nicht leisten können und sich entsprechend sartrös Existenzialistisches selbst nähen müssen. Bestimmt waren diese stets charmanten Notlösungen inzwischen Originalen gewichen.
Ich war überrascht, auch ihre Bewegungen sofort zu erkennen. Das zarte Herumgewedel mit ihren schlaksigen Armen, wenn sie sprach, als gälte es, Instruktionen für einen Maskenbildner in Gebärdensprache zu übersetzen. Ich war zu weit entfernt, um zu erkennen, ob sie immer noch so mit Sommersprossen übersät war. Wahrscheinlich waren sie inzwischen zu Altersflecken mutiert. Im Sommer waren Gesicht,