Unsere Zukunft auf deiner Haut. E.M. Lindsey
geholfen wird.«
»Und Sie erwarten, dass ich dafür bezahle?«
Danach schlief Sam wieder ein. Er vergaß die Worte seines Vaters nicht, aber in diesem Moment stand er zu sehr unter dem Einfluss von Medikamenten, um sich daran zu stören. Dann wachte er fünf Tage später wieder auf und ihm wurde bewusst, dass von der Hüfte abwärts nichts mehr da war. Kein Gefühl, keine Bewegung, als wäre er auf Hüfthöhe durchgeschnitten worden. Doch er konnte seine Beine, seine Füße und seine Zehen sehen. Er konnte sie sehen und sein Gehirn wusste noch, wie sie sich bewegen sollten, aber keine noch so große Anstrengung brachte auch nur das kleinste Wackeln hervor.
In den nächsten Tagen folgten massenhafte Erklärungen, die sein fünfzehnjähriges Gehirn nicht verarbeiten konnte. Irgendetwas von einer inkompletten Lähmung und dass er zwar im Moment nichts fühlen konnte, das aber nicht immer so bleiben musste. Die Ärzte und Schwestern erklärten ihm, dass man nicht vorhersagen konnte, was die Zukunft bringen würde, nur dass sein bisheriges Leben, wie es vor dem Unfall gewesen war, unwiderruflich vorbei war.
Eine harmlose Spritztour mit seinen bekloppten Freunden ‒ denn was sonst konnte man in einem Loch wie White Beach, Alaska schon tun ‒ hatte seine gesamte Welt auf den Kopf gestellt. Er konnte es in den Augen seiner Eltern sehen. Er hatte etwas Besseres als sie werden sollen. Er sollte den amerikanischen Traum leben. Erfolgreicher, intelligenter, reicher sein. Einfach… mehr. In seiner Kindheit hatten seine Eltern ihm immer wieder gesagt, dass er nicht auf den Ölfeldern arbeiten würde wie sein Dad oder sich von Aushilfsjob zu Aushilfsjob hangeln wie sein Granddad. Er würde aufs College gehen und etwas aus sich machen. Und seine Frau würde nicht für einen Hungerlohn Hotelzimmer putzen.
Er sollte den amerikanischen Traum leben. Doch dank einer dummen Entscheidung waren seine Träume ruiniert worden, genau wie seine linke Hüfte, sein rechter Fuß und seine untere Wirbelsäule.
Er war kein Running Back mehr. Er konnte überhaupt nicht mehr rennen. Er war ein Junge im Rollstuhl, der lernen musste, sich einen Katheter in den Schwanz zu schieben, damit er sich im Unterricht nicht bepinkelte. Er war der Junge, der seinen Verdauungstrakt jeden Morgen stimulieren musste, indem er sich zwei Finger in den Arsch steckte, denn seine Muskeln waren nicht mehr stark genug, um zu scheißen wie früher. Er war der Junge, der sechs Wochen lang nicht zur Schule gehen konnte, nachdem er aus der Reha zurückgekehrt war, weil die Türen nicht breit genug waren und die Treppen keine Rampen hatten. Zwar gab es einen Aufzug, doch der war seit einer Ewigkeit nicht gewartet worden, denn er war zum letzten Mal benutzt worden, als der Quarterback sich beim Homecoming-Spiel den Knöchel gebrochen hatte, was zehn Jahre vor seiner Zeit passiert war.
Wenigstens hatte er seinen Status an der Schule nicht verloren. Stattdessen waren seine Mitschüler ganz scharf darauf, von sich behaupten zu können, mit dem Typen befreundet zu sein, dessen Beine nicht mehr funktionierten. Im letzten Schuljahr wurde er zum Abschlussballkönig gewählt und drei Seiten im Jahrbuch handelten davon, welche Inspiration er doch war. Eines Abends hatte er die Seiten angestarrt und ein paar Zitate seiner Freunde aus dem Footballteam gelesen, die erzählten, wie sehr seine Stärke sie inspirierte. Wen interessierte da schon, dass heute Morgen sein Katheter verrutscht war und er im Badezimmer den ganzen Boden vollgepinkelt hatte. Sein Gleichgewichtssinn war noch nicht gut genug, um es aufzuwischen, deshalb hatte er wie ein Kleinkind, das sich in die Hose gemacht hatte, auf seine Mom warten müssen. Aber klar, welch Inspiration.
Er hatte das Jahrbuch in den Mülleimer gestopft und es mit dem Whiskey seines Dads getränkt, den er in der Nacht zuvor gestohlen hatte, weil seine Beine einfach nicht aufhören wollten zu krampfen und die Schmerzmittel einen Dreck halfen. Er dachte nicht nach, als er das Ding in Brand setzte. Es interessierte ihn nicht, als der Feueralarm losging und seine Mom schrie und versuchte, seinen beinahe zu breiten Rollstuhl durch die beinahe zu schmale Zimmertür zu schieben, bevor das gesamte Haus in Flammen aufging.
Er sah den leeren Ausdruck auf den Gesichtern seiner Eltern, nachdem sie das Feuer gelöscht hatten. Er hörte die Erschöpfung in ihren Stimmen, als sie ihm sagten: »Geh einfach ins Bett. Wir reden morgen darüber.« Normalerweise hätte er einfach auf dem Sofa geschlafen, doch das konnte er nicht mehr, denn es war zu schmal und er fiel jedes Mal herunter, wenn er es versuchte. Deshalb saß er nun in seinem Zimmer fest, das noch feucht war und nach verbranntem Fotopapier und Feuerlöscher stank, und wo der schwarze Fleck an der Wand ihn erbarmungslos daran erinnerte, dass nichts in Ordnung war.
Sie würden am Morgen nicht darüber reden. Das wusste er. Denn er hatte mit angehört, wie sie im Wohnzimmer versucht – und versagt – hatten, mit gedämpften Stimmen zu sprechen. Er hatte die Qual in der Stimme seiner Mutter gehört, während sie geweint hatte. »Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte kein behindertes Kind.«
Und das Mitleid für sie in der Stimme seines Vaters, als er erwiderte: »Ich weiß, Schatz. Und ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«
Sam glaubte zu verstehen, warum manche Leute einfach ihre Pillen nahmen und alle hinunterschluckten, als spielte nichts auf der Welt eine Rolle, außer dass es endlich ein Ende hatte. Aber ein Teil von ihm wollte leben ‒ er wollte etwas finden, wodurch er sich wieder lebendig fühlte, größtenteils, um es diesen beiden Menschen heimzuzahlen, die ihm eigentlich einen Grund zu leben hätten geben sollen. Er gab vor, die Überraschung und die Erleichterung in ihren Augen nicht zu bemerken, als er ihnen erzählte, dass er von der University of Colorado 5000 Kilometer entfernt ein volles Stipendium erhalten hatte.
Er gab vor, nicht zu bemerken, wie gern ihm seine Mutter beim Packen half und wie enthusiastisch sein Vater dafür sorgte, dass sein Auto für die lange Fahrt quer durch das Land gerüstet war.
Und er gab vor, nicht zu bemerken, dass sie ihm nicht sagten, er solle sie oft anrufen und an den Feiertagen nach Hause kommen. Aber das war in Ordnung. Wirklich. Es war in Ordnung, verdammt.
Für Sam änderte sich erst im zweiten Studienjahr etwas, als er einen Job im Buchladen annahm und ein wütender Kerl mit einem Stapel Bücher und einem Gesichtsausdruck hereinkam, als wäre er bereit, in den Krieg zu ziehen.
Der Typ ließ beinahe alle Bücher in Sams Schoß fallen, als er ihn erkannte. »Heilige Scheiße. Samuel Braga. Der Footballstar von White Beach.«
Natürlich kannte Sam den Mann. Sein Name war Antonio und er war drei Jahre älter als Sam. Sie hatten in der gleichen Straße gewohnt, ihre Väter hatten auf denselben Ölfeldern gearbeitet und sie hatten den Großteil ihres Lebens nebeneinanderher gelebt. Tony hatte schon lange nicht mehr dort gewohnt, als Sams Pick-up sich überschlagen, einen Hügel hinuntergerollt und im Graben liegen geblieben war. Das war deutlich zu erkennen, denn anscheinend hatte er keine Ahnung von Sams Unfall gehabt, bis er den sportlichen, kleinen Rollstuhl unter Sams Hintern sah. An Tony hatte sich nicht viel geändert, abgesehen von ein paar Piercings in den Augenbrauen und der Tatsache, dass kaum ein Zentimeter Haut an seinem Arm nicht mit Tattoos bedeckt war. Aber sein Gesichtsausdruck war noch derselbe, genauso wie seine Art, als er sich über die Theke lehnte und anfing zu reden, ohne sich Gedanken zu machen, ob er mit seinen Worten Sams verletzliches kleines Herz brach.
»Was zum Teufel ist denn mit dir passiert?«
»Bill Sanders«, sagte Sam und schob seinen Rollstuhl zurück, dann verschränkte er die Arme. »Der Wichser hat sich besoffen, dann haben wir den Pick-up von meinem Dad genommen. Er hat sich überschlagen.«
»Wann?«, wollte Tony wissen, als hätte er ein Recht darauf, das zu wissen.
Aus irgendeinem Grund störte Sam das nicht. Tatsächlich war es das erste Mal, dass jemand aus seiner Vergangenheit wissen wollte, wie es zu dieser Situation gekommen war, statt sich bloß daran zu stören, dass Sam sich in einen zerbrechlichen Krüppel verwandelt hatte. »Im zweiten Jahr. Direkt nach dem Homecoming.«
»Leck mich am Arsch«, sagte Tony und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Diese Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit auf seine Armbanduhr und er stöhnte auf. »Hör mal, Mann, ich will die hier zurückgeben, denn Professor Jameson hat beschlossen, zwei Wochen nach Semesterbeginn seine gesamte Leseliste über den Haufen zu werfen. Und ich habe gleich Unterricht, also kannst du das regeln? Und gib mir deine Nummer, denn du und ich werden