Unsere Zukunft auf deiner Haut. E.M. Lindsey
war, aber wenn er ehrlich war, erinnerte er sich kaum noch an Rethymno, abgesehen davon, wie er auf einer kleinen Steinmauer saß und seinem Vater zuschaute, wie er auf einem kleinen Fischerboot die Netze einholte. Er erinnerte sich an den Geruch von totem Fisch und an die Feuchtigkeit und daran, dass er ins Wasser springen wollte, obwohl seine Mutter es nie erlaubt hatte.
Er erinnerte sich deutlicher an den Weggang als an die Zeit dort. Er erinnerte sich, dass seine Eltern zu Hause Englisch gesprochen hatten, sobald sie ihr schreckliches kleines Apartment in Jersey bezogen hatten. Trotzdem hatte er, als er ein Jahr später in den Kindergarten kam, noch Probleme mit der Sprache gehabt. Er erinnerte sich, dass die Kinder in seiner Klasse sich über ihn lustig gemacht hatten, weil sie seinen Akzent komisch fanden. Er erinnerte sich, einem Jungen namens Jake im ersten Schuljahr eine blutige Nase verpasst zu haben, weil er Nikos Art zu sprechen nachgeahmt hatte, aber auch, wie sehr dieser Moment in ihm den Wunsch geweckt hatte, dazugehören zu wollen.
Als er auf die Highschool kam, war er ein vollkommen anderer Mensch gewesen. Er war ein Jersey Boy ‒ ein Möchtegern mit aufgestelltem Kragen und lachsfarbenen Shorts, den Blick auf den Stanley Cup gerichtet, und er hatte es beinahe ‒ beinahe ‒ geschafft. Und dennoch, selbst als ihm das alles ohne Vorwarnung aus den Händen gerissen worden war, hatte er es nie vermisst. Vielleicht am Boden zerstört, weil er seinen Traum hatte aufgeben müssen, aber es hatte sich nie so angefühlt, als würde ihm ein Teil seiner selbst fehlen.
Er vermutete, dass er dieses Gefühl jetzt haben würde, wenn er ‒ aus irgendeinem Grund ‒ alles in Fairfield verlieren würde. Er hatte nie den Eindruck gehabt, für das Kleinstadtleben gemacht zu sein, dennoch war er hier.
»Alter, du solltest dein eigenes Fitnessstudio eröffnen oder so was«, sagte Cale rechts neben ihm.
Niko sah zu seinem Kumpel hinüber ‒ dessen zu stark gebleichtes Haar schweißnass war und dessen Haut durch die Anstrengung, die Gewichte zu stemmen, rosig glänzte. »Warum zum Teufel sollte ich das tun?«
»Weil du praktisch hier lebst?«, schlug Sage vor. Sage bildete einen seltsamen Gegensatz zu Cale und ihm. Er war riesig, mindestens 1,90 Meter groß, mit braunem Haar, geweiteten Ohrlöchern, einem Lippenpiercing und beide Arme von Tattoos bedeckt. Sage war der Verschlossenste von ihnen dreien. Er war nicht der Typ, der über sein Privatleben sprach, und er schlug nie vor, abgesehen von ihrer Zeit im Studio, Zeit zusammen zu verbringen.
Niko wusste nur, dass Sage einen Verlobten gehabt hatte, der gestorben war, weil er ihn eines Abends nach einer anscheinend recht heftigen Auseinandersetzung in einer Bar zufällig getroffen hatte und Sage ziemlich offensichtlich geweint hatte. Niko hatte Sage seine Adresse aus der Nase gezogen und dafür gesorgt, dass er ins Bett kam. Gerade als Niko den Raum verlassen wollte, hatte Sage sehr leise geflüstert: »Warum bist du einfach gestorben, Ted? Du verdammter Idiot. Wir wollten doch heiraten.«
Niko hatte ihn nicht danach gefragt. Nie. Und Sage hatte nie darüber reden wollen, was in Ordnung war. Objektiv betrachtet war er einer der heißesten Typen, die Niko je gesehen hatte, und er hatte einen Uniabschluss in Mathematik und Physik. Er hatte einen späten Start gehabt und eine schwere Vergangenheit, außerdem war er beängstigend schlau. Doch damit endeten die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Sie waren sogar einmal beinahe aufeinander losgegangen, weil sie sich nicht einigen konnten, ob Tomaten Obst waren oder nicht. Niko wusste, dass sie es technisch gesehen waren, aber das zählte nicht, und das war das Problem.
Trotzdem war er ein toller Trainingspartner und Niko hatte nicht vor, einem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen.
»Alter, bist du noch da?«, fragte Sage.
Niko blinzelte. »Tut mir leid. Ich war in Gedanken woanders. Es war eine lange Woche und ich habe das Gefühl, mir läuft das Gehirn aus den Ohren. Aber egal, ich will kein Fitnessstudio eröffnen, denn ich komme zwar gern her, aber ich will nicht hier arbeiten. Ich will nicht, dass sich das hier wie Arbeit anfühlt. Ähm, und davon abgesehen habe ich vielleicht eine andere Idee.«
Es gab in der Nähe des einzigen Blumenladens im Ort ein Restaurant, das im Begriff war zu schließen. Es war ein kleines American Diner, in das nie jemand ging, denn dieser Kram war für die Hipster der Stadt einfach zu passé. Er hatte überlegt, dort eine Art neumodisches griechisches Restaurant zu eröffnen, denn er konnte mit Leichtigkeit die alten Familienrezepte von seiner Mutter bekommen und ihnen einen modernen Anstrich verpassen. Hausgemachtes Essen mit modernem Einschlag, damit all die großkotzigen Yuppies jeden Abend dort essen wollen würden.
Er liebte es, als Buchhalter zu arbeiten ‒ Zahlen ergaben einfach Sinn ‒, aber in letzter Zeit sehnte er sich nach etwas anderem. Etwas Beständigem, um Wurzeln zu schlagen. Er hatte das Geld dafür ‒ verdammt, er hatte mehr als das, obwohl er nicht glaubte, jemand in Fairfield könnte eine Ahnung haben, dass er ein richtiger Millionär war ‒ und es gab keinen Grund, es nicht zu versuchen. Er verdiente genug und wenn es hart auf hart kam und er alles verlor, würde es ihm nicht schlechter ergehen als jetzt im Moment.
»Willst du uns davon erzählen?«, fragte Cale, nachdem die Stille zu lange angehalten hatte, um noch höflich zu sein.
Niko legte die Gewichte ab und griff nach seinem Handtuch, um sich den Nacken abzutrocknen. Sein Bein begann zu zwicken, und er würde es nachher kühlen müssen, aber das Workout fühlte sich gut an. »Vielleicht. Ich bin mir noch nicht sicher.« Er ließ sich zurück auf die Bank sinken, bettete die Hände auf den Bauch und seufzte. »Ich muss echt flachgelegt werden.«
»Du bist nicht mein Typ«, meinte Cale.
Niko versetzte ihm einen sanften Tritt. »Du meiner auch nicht. Keiner von euch Arschgesichtern ‒ obwohl Sage schon ganz nett anzusehen ist.«
»Interessant, dass du das sagst«, meinte Sage und lehnte sich etwas näher. »Wusstest du, dass ich einen Zwillingsbruder habe?«
Nikos Augenbrauen schossen nach oben und er stemmte sich auf die Ellbogen hoch. »Ich sagte, ganz nett anzusehen, aber wenn ich nicht auf dich stehe, kann ich mir nicht vorstellen, warum ich an deinem Klon interessiert sein sollte.«
»Zwilling, nicht Klon«, erwiderte Sage mit einem ironischen Grinsen. »Und glaub mir, unsere Ähnlichkeiten enden mit unserem Gesicht und einem Teil unserer Tattoos. Er ist ein verdammter Nerd, wie du, und wir kriegen uns auch ständig wegen Tomaten in die Haare.«
»Oh nein, verdammt, das höre ich mir nicht noch einmal an«, sagte Cale. Er sprang auf und ergriff die Flucht, während Niko in seine Wasserflasche lachte.
»Aber im Ernst, du würdest ihn wahrscheinlich mögen«, sagte Sage einen Moment später. Er nahm sein eigenes Handtuch und wischte sich einen Teil des Magnesiums von den Händen. »Er ist Künstler. Ich meine, wir arbeiten beide im Tattooladen, aber er ist die Art von Künstler mit Leinwand und Staffelei. Seine Arbeit ist atemberaubend. Das könnte ich niemals. Und er ist ein anständiger Kerl. Jedenfalls ein besserer als ich.«
»Du bist auch nicht schlecht«, meinte Niko mit einem ehrlichen Lächeln, denn er mochte sich vielleicht nicht zu Sages Persönlichkeit hingezogen fühlen, aber er mochte den Kerl. »Aber ernsthaft, wenn ihr beide so ausseht«, er wedelte mit der Hand in Sages Richtung, »wieso seid ihr dann beide Single?«
»Ich bin Witwer«, sagte Sage nach einer kurzen Pause leise und zögerlich. »Oder, na ja, jedenfalls fast. Wir wollten in dem Monat heiraten, aber er wurde krank und, äh… ja. Ich habe nicht das Gefühl, als wäre ich bereit für jemand Neues. Derek ist… verdammt, er hat Einiges an der Backe. Wir hatten es als Kinder ziemlich schwer und er hat damit zu kämpfen, aber er ist die Mühe wert, verstehst du? Mit jemandem, der gewillt ist, sich Mühe mit ihm zu geben.«
Niko dachte lange über seine Worte nach, um herauszufinden, was genau Sage damit meinte. Er wusste, was eine schwere Kindheit bedeuten konnte ‒ so war es seinem Vater ergangen und er hatte im Laufe der Jahre Freunde gefunden, die sich ebenfalls damit herumschlagen mussten. Sie tendierten dazu, Bindungsstörungen und Vertrauensprobleme zu haben, nichts, womit er nicht umgehen konnte. Aber er war sich nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee war.
»Hör mal«, fuhr Sage fort und unterbrach seinen Gedankengang, »ich bin mir nicht einmal sicher, ob Derek