Unsere Zukunft auf deiner Haut. E.M. Lindsey
einer Dreijährigen umgehen konnte, die einen Tobsuchtsanfall hatte, weil sie nach dem Abendessen kein Eis bekam, weil sie ihr Gemüse nicht aufgegessen hatte.
Nein. Sie interessierten sich nur für den einzigen Aufenthalt in der Notaufnahme, weil sie auf dem Spielplatz eine Betonstufe hinuntergefallen war und mit drei Stichen am Kinn genäht werden musste. Sie interessierten sich für die neun Monate Psychotherapie, der er sich mit sechzehn Jahren unterzogen hatte, weil er Selbstmordgedanken gehabt hatte, nachdem er mit angehört hatte, wie seine Eltern darüber sprachen, dass er den Rest seines Lebens der Gesellschaft auf der Tasche liegen würde. Sie interessierten sich für die Tatsache, dass er nicht einfach aufspringen und auf ihren Befehl hin den verdammten Charleston tanzen konnte.
Er verpackte all das zu einem hässlichen, verbitterten Ball aus Wut, der wahrscheinlich eines Tages zu einem Magengeschwür führen würde, und setzte ein Lächeln auf, während er seine Schlüssel nahm und hinausging. Es würde ein verdammt langer Tag werden, aber das war ihm egal. Er hatte nicht gelogen, als er zu Beth gesagt hatte, dass ihm klar war, wohin das führen würde, sie ihn aber umbringen mussten, wenn sie ihm Maisy wegnehmen wollten. Er würde sie nicht verlieren. Sie war sein Leben, basta.
»Okay, Mr. Braga, gehen Sie zu dieser Adresse und melden Sie sich an der Rezeption. Wir werden Sie anrufen lassen, sobald wir wissen, wann genau der Kurs stattfindet.«
Seine Finger ballten sich um die Visitenkarte zur Faust und er versuchte, sie nicht aus purer, unverfälschter Wut in seiner Handfläche zu zerquetschen. Er rang sich ein Lächeln ab, als er mit ihrer leeren Miene konfrontiert war. »Und es sind sechs Wochen, sagten Sie?«
Die Frau mit den viel zu weißen Haaren, die in ihrem Nacken zusammengebunden waren, schenkte ihm ein gönnerhaftes Lächeln. »Sechs Wochen, ja. Dann werden wir Sie erneut beurteilen.«
»Also nehme ich sechs Wochen lang an einem Reha-Kurs teil, in dem es darum geht, wie man mit einer Lähmung zurechtkommt ‒ wobei nichts davon mit Kindererziehung zu tun hat ‒, und das ist dann nicht einmal eine Garantie dafür, dass mein Fall damit abgeschlossen ist und ich meine Tochter adoptieren darf?« Vor Frustration schnürte sich ihm die Kehle zu und er konnte das Zögern in ihren Augen sehen.
»Sehen Sie, Mr. Braga, unser Protokoll sieht vor, dass wir…«
Er hob die Hand und brachte sie zum Schweigen. »Als ich den Autounfall hatte, war ich fünfzehn. Ich bin seit über zwanzig Jahren gelähmt, was bedeutet, dass ich länger einen Rollstuhl benutze, als dass ich laufen konnte. Denken Sie, ich wüsste nicht genau, wie ich im Alltag mit meiner Behinderung zurechtkomme?«
»Sir, ich…«
»Und meine Tochter lebt seit fast drei Jahren bei mir. Was bedeutet, dass ich es geschafft habe, auf und ab zu gehen, während sie drei Stunden am Stück geschrien hat, weil sie Koliken hatte. Ich habe mit ihr Krupp-Anfälle, die Grippe und jede verdammte Erkältung und Ohrenentzündung durchgemacht, die sie jemals hatte. Ich habe sie sauber gemacht, sie beschützt und ihr zu essen gegeben. Ich habe mich tadellos um sie gekümmert. Und jetzt sagen Sie mir, in Ihrem Protokoll steht, dass ich an diesem Kurs teilnehmen muss ‒ ein Kurs, den ich vor zwanzig Jahren schon gemacht habe, und dass mir das immer noch keine Garantie gibt, dass diese Beurteilungen aufhören und man sie einfach bei dem einzigen Menschen bleiben lässt, den sie als Elternteil kennt?« Sein Atem ging schnell und er konnte fühlen, wie seine Brust eng wurde, was kein gutes Zeichen war. Wenn seine Beine zu krampfen begannen, würde sie das nur in ihrem Glauben bestätigen, dass er unfähig war. Er zwang sich zur Ruhe, obwohl sie auf seine Unterlagen starrte, statt ihm in die Augen zu schauen.
»Ich bin mir nicht sicher, was Sie von mir hören wollen, Mr. Braga. Ich halte mich nur an die Vorgaben.«
»Na schön«, du verdammter Roboter, fügte er in Gedanken hinzu. Er stopfte die Karte in seine Hemdtasche, packte dann die Räder seines Rollstuhls und schob ihn zurück. Sein Rücken schmerzte, und er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, eine Bar zu finden, um seine Sorgen in einer Flasche Whiskey zu ertränken, und der Sehnsucht, nach Hause zu gehen, um Maisy festzuhalten und sie niemals loszulassen.
Er schaffte es hinaus und in sein Auto, bevor er anfing zu zittern. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und drückte den Kopf ans Fenster, während die Knochen in seinen Beinen anscheinend versuchten, seine Haut einfach abzuschütteln. Die Krämpfe nahmen ihm immer den Atem, also wartete er, bis sie nachließen, bevor er sein Handy hervorzog, um Kat anzurufen, die beim dritten Klingeln abnahm.
»Hey, Babe. Willst du mit dem Zwerg reden?«
Sam biss die Zähne zusammen und atmete durch die Nase aus. »Ich… gleich. Ich habe gerade… ich bin gerade fertig geworden und, äh…«
»Was haben sie gesagt?«, fragte sie und ihre Stimme war leise und klang beinahe gefährlich.
»Nichts. Es ist… ich muss sechs Wochen lang an einem verdammten Kurs teilnehmen, und dann werden sie meinen Fall neu beurteilen«, gestand er. Er schluckte schwer. »Und sie sagten, sie wollen versuchen, ihren leiblichen Vater ausfindig zu machen, um herauszufinden, ob es in seiner Familie jemanden gibt, der das Sorgerecht beantragen möchte.«
»Großer Gott«, hauchte sie. »Sam…«
»Hör mal, es ist ‒ es ist, wie es ist. Ich werde einfach den Mund halten und weitermachen. Das ist alles, was ich im Moment tun kann.«
Nach einem Moment der Stille sagte Kat: »Lass sie heute Nacht hier. Sie spielt mit Jazzy und wir gehen nachher Pizza essen. Du kannst nach Hause gehen und dir etwas Ruhe gönnen. Ich bringe sie morgen Früh nach Hause, okay? Und ich sage Tony, er soll deine Termine morgen verschieben.«
»Nein«, setzte er an.
»Diskutier nicht mit mir«, fuhr Kat auf. »Du weißt, dass du das brauchst.«
Er hasste, dass sie recht hatte, und ließ den Kopf aufs Lenkrad fallen. »Ja. Also gut.«
»Ruf mich einfach an, wenn du zu Hause bist, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist. Und ruf vielleicht Derek an, damit er dich ein wenig ablenkt, okay? Alles wird gut.«
Er wollte sie zurechtweisen, dass sie kein Recht hatte, das zu sagen, weil er im Moment wirklich keinen Grund hatte zu glauben, dass es so kommen würde. Wäre er ein anderer Mensch ‒ mit weniger Tattoos und einem besseren Ruf, mit einer heldenhaften Vergangenheit, auf die er sich berufen konnte, könnte er sich vielleicht an die Öffentlichkeit wenden und den Staat für diesen Bull-shit an den Pranger stellen. Aber er war bloß ein Niemand. Ein Niemand, dessen Eltern es nicht ertragen konnten, auch nur an ihn zu denken, und der nicht viel mit seinem Leben angefangen hatte, abgesehen davon, sich in einer kleinen Stadt einzurichten und dort Wurzeln zu schlagen.
Aber wenigstens das hatte er. Seine Familie, sein Geschäft und vorerst ‒ sein kleines Mädchen. »Ich rufe dich später an«, versicherte er ihr und legte dann auf, bevor sie noch etwas sagen konnte. Er wollte einfach nur nach Hause und diese kleine Pause, die Kat ihm anbot, na ja, die musste genügen.
Kapitel 4
»Was hältst du davon?«
Niko erschrak und drehte sich um, wo er zwei grinsende Gesichter im Türrahmen entdeckte. Er stieß die Luft aus, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und ließ die Schultern sinken. »Ich muss euch beiden eine verdammte Glocke umbinden.«
Die beiden in der Tür lachten gleichzeitig und nicht zum ersten Mal schien es, als würden sie dasselbe denken. Jane, die Rothaarige, war mit Max verheiratet, Nikos ehemaligem Mitbewohner aus der Zeit, als er nach Fairfield gezogen war. Holland, die Blonde, gehörte fest zu ihr und Jane war kaum ohne sie anzutreffen. Beide führten nun ein relativ erfolgreiches Maklerbüro, von dem ihm gerade alle zum Verkauf stehenden Objekte gezeigt wurden, und das sogar unter der Hand. Das war der einzige Grund, weshalb er überhaupt eingewilligt hatte, sich tatsächlich ein paar Immobilien anzusehen.
Zu diesem Zeitpunkt war er gezwungen gewesen, seine finanzielle Lage preiszugeben, und obwohl er damit gerechnet hatte, dass sie versuchen würden, ihn über den Tisch zu ziehen, war das nicht passiert. Es war ein weiterer Grund,