Unsere Zukunft auf deiner Haut. E.M. Lindsey
so?«
»Er sieht aus wie du«, fragte Niko und hob die Augenbrauen, »nur ohne die kranken Ansichten zu Obst und Gemüse?«
Sage zeigte ihm den Mittelfinger, grinste dabei jedoch. »Er mag auch den Hipster-Mist, den du hörst. Wie dieser alte Scheiß. Enya? «, verdeutlichte er.
Niko spürte, wie sein Lächeln breiter wurde, und obwohl er es noch nie jemandem verraten hatte, war Enya auf seiner Aufwärm-Playlist gewesen, wenn er sich vor dem Umziehen gedehnt hatte. »Damit könnte ich leben.«
»Ist das ein Ja?«, drängte Sage.
Niko zuckte mit den Schultern. »Ich könnte es viel schlimmer treffen, als einen Typen abzubekommen, der aussieht wie du, aber weiß, wo die verdammten Tomaten auf der Ernährungspyramide stehen.« Er griff nach seinem Handy. »Gib mir deine Nummer und ich schicke dir meine. Du kannst mir eine Nachricht schreiben, wenn er interessiert ist.«
Er hegte keine große Hoffnung. Sein Glück bei Verabredungen war im Laufe der Jahre bestenfalls erbärmlich gewesen, aber vielleicht war es ein Anfang. Zumindest war er im Leben viel weiter gekommen, als er jemals gedacht hatte, und das hatte etwas zu sagen.
Kapitel 3
»Sie wissen, wie leid mir das tut, Sam. Ich wollte nicht, dass das passiert.« Beths Stimme klang beschämt und entschuldigend, denn sie wusste verdammt genau, was passieren würde, wenn sie den Bericht ihrer Inspektion an ihren Chef übergab. Der gleiche verfluchte Mist wie jedes Mal, seit er den Adoptionsprozess begonnen hatte. »Es sollte wirklich nicht lange dauern.«
Er warf ihr einen unbeeindruckten Blick zu, als sie sich auf sein Sofa setzte und die Hände sittsam im Schoß faltete. Er fuhr sich mit den Fingern durch sein frisch gewaschenes Haar und ließ seine Hände dann zu den Rädern seines Rollstuhls wandern. »Was soll's.«
»Kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Das ist in dieser Situation nicht hilfreich.«
»Sie und ich, wir wissen beide, wie das endet«, sagte er ein bisschen zu harsch zu ihr, aber er fühlte sich innerlich zerschlagen. Es würde darauf hinauslaufen, dass ihm ein Richter sein kleines Mädchen aus den Armen riss und sie Fremden gab, und das wäre das Ende. Er hatte noch nicht mal ein Kind gewollt, verdammt. Als man sie als Neugeborenes von seiner drogenabhängigen Cousine weggeholt hatte ‒ die das Krankenhaus verlassen und sich nie die Mühe gemacht hatte zurückzublicken ‒, hatte er nichts davon gewusst. Zum Teufel, er hatte nicht einmal gewusst, dass das Baby überhaupt existierte. Der Anruf bei ihm war ein letzter Versuch gewesen, einen Verwandten zu finden, bevor man das Baby zur Adoption freigegeben hätte.
Sam hatte die Sachbearbeiterin an diesem Tag am Telefon beinahe ausgelacht, aber er war höflich gewesen und hatte gesagt, er würde ein paar Anrufe tätigen und sehen, was er tun konnte. Er wusste, dass er nicht geeignet war, Vater zu sein. Er bekam sein eigenes Leben ja schon kaum auf die Reihe, verdammt, und damit hatte seine Lähmung nichts zu tun. Es war die Tatsache, dass seine Arbeitszeiten nicht gerade mit der Erziehung eines Kindes vereinbar waren und er in einem Tattooladen arbeitete, um Himmels willen. Es war nicht so, als hätten sie im Studio eine angegliederte Kindertagesstätte. Und zum Teufel, er hatte noch nie ein Kind im Arm gehalten, geschweige denn die Verantwortung dafür getragen, dass es am Leben blieb.
Doch die Vorstellung, dass sie von einer Pflegefamilie zur nächsten geschoben wurde, dass jeder – einfach jeder ‒ sie sich schnappen und für sich beanspruchen konnte, ohne beweisen zu müssen, dass er würdig war? Diese Vorstellung ging ihm unter die Haut und ließ ihn nicht in Ruhe.
Irgendwie fand er sich auf der eintausendfünfhundert Kilometer langen Fahrt nach Norden zu einem kleinen Vorort wieder, wo ein Haus mit drei Schlafzimmern stand, in dem sechs Pflegekinder, eine überforderte Mutter und ein Vater lebten, der nach der Arbeit lieber sein Bier genoss, statt sich hin und wieder um den Abwasch zu kümmern. Die Mutter hatte ihr Bestes gegeben, aber sie war überarbeitet und Sam wusste, dass er Maisy nicht dort lassen würde.
Das Mädchen war ausgehungert nach Liebe und Aufmerksamkeit, denn es war einfacher, sie in ein klappriges altes Kinderbett zu legen und sie schreien zu lassen, als ihr zu geben, was sie brauchte. Sie klammerte sich an ihn, als wäre es das erste Mal, dass jemand sie im Arm hielt, und damit war die Entscheidung gefallen. Sie hatte ihm das Herz rausgerissen und hielt es in ihren pummeligen, kleinen Händen.
Der Papierkram zog sich ewig hin und es hatte ihn ein Vermögen gekostet, für vier Monate eine schreckliche Wohnung zu mieten, denn so lange hatte es gedauert, eine Bestätigung zu bekommen, damit er sie aufnehmen konnte. Wenn die Jungs im Laden nicht zusammengelegt hätten, um ihm genug Geld zu schicken, damit er über die Runden kam, hätte er es nicht geschafft. Aber irgendwann war es überstanden und er fuhr mit ihr auf dem Rücksitz seines Autos nach Hause. Sie war auf der Fahrt dorthin beunruhigend brav gewesen und hatte sich in jedem Motelzimmer wie ein Engel verhalten.
Es hätte ihn nicht überraschen sollen, dass die Hölle losbrach, sobald er mit ihr durch seine Haustür trat. Sie weinte zwei Wochen lang ohne Unterlass, und er bekam insgesamt vielleicht neun Stunden Schlaf. Aber letzten Endes rauften sie sich zusammen und eines Morgens wachte er mit ihr neben sich auf und ihre kleine Hand lag an seiner Wange. Sie schenkte ihm mit ihren lediglich vier Schneidezähnen ein fast zahnloses Lächeln, gab ihm einen Klaps auf die Wange und sagte: »Dadadada.« In diesem Moment wusste er, dass er buchstäblich bis zu seinem letzten Atemzug um sie kämpfen würde, denn sie gehörte zu ihm.
»Ich gebe nicht auf«, versicherte er Beth schließlich und fuhr mit seinem Rollstuhl in die Küche, um seine Schlüssel und seinen Geldbeutel zu holen. »Als ich sie zum ersten Mal mit nach Hause gebracht habe, habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sie mir nur über meine Leiche wieder wegnehmen können, und das war mein Ernst. Aber ich bin diesen Kampf einfach leid. Was auch immer Sie für Vorurteile gegen mich haben, weil ich tätowiert bin und meine Beine nicht funktionieren, Sie und ich, wir beide wissen, dass ich das Beste bin, was ihr passieren konnte.«
Beth, die ihm gefolgt war, sah ihn mit steinerner Miene an. »Es geht nicht darum, was ich denke.«
Er lachte auf. »Ich weiß. Nur dass die Art und Weise, wie Sie denken, genau die gleiche ist, wie sie denken, und wenn ich Ihre Meinung nicht ändern kann, werde ich verlieren. Trotzdem gebe ich nicht auf.«
Sie starrte ihn noch einen Moment an, dann seufzte sie und er glaubte, dass er vielleicht ‒ nur vielleicht ‒ einen kleinen Anflug von Schuldgefühlen in ihren Augen entdeckte. »Soll ich Sie mitnehmen?«
»Oh, ich kann selbst fahren, danke. Ich vermute, wir werden uns dort nicht sehen.« Danach brachte er sie zur Tür und ging anschließend zurück ins Wohnzimmer, um Derek anzurufen.
Er war dankbar, dass Derek nicht versucht hatte, ihn lange aufzuhalten oder ihn aufzumuntern, denn das war im Moment zwecklos. Er hatte dieses Spielchen schon so oft mitgespielt, dass er es im Schlaf konnte. Er würde mit mehreren Leuten zusammensitzen ‒ an einem runden Tisch, damit er sich ebenbürtig fühlte. Sie würden ihm aufdringliche Fragen darüber stellen, wie er es schaffte, allein zu scheißen oder zu duschen, und was mit Maisy passieren würde, wenn er stürzte, und wie oft er sie als Baby fallen gelassen hatte. Sie würden ihn fragen, wie sicher sein Arbeitsplatz war und ob er etwas in der Hinterhand hätte, wenn das mit den Tattoos nicht funktionierte ‒ denn anscheinend waren fast zwanzig Jahre am selben Arbeitsplatz nicht gut genug, damit seine Stelle als beständig galt, weil es in ihren Augen keine respektable Berufswahl war.
Danach würden sie einen uralten Rollator mit einem kaputten Rad aus dem hintersten Schrank holen und ihn bitten, damit durch den Raum zu gehen. Und er würde es tun. Ohne seine Schienen würde er seine gelähmten, verkümmerten Beine wie ein tanzender Affe auf der Uferpromenade über den dünnen, abgenutzten Teppich schleifen. Dann würde er sowohl Mitleid als auch Ekel in ihren Gesichtern sehen, denn während er das tat, sah er genauso aus wie der Behinderte, den sie in ihm sahen.
Sie wollten nie Videos von den Fitnesskursen sehen, die er leitete, oder von den Marathons, die er mit seinem umgebauten Fahrrad gewonnen hatte, für das er ein paar Tausender hingeblättert hatte. Sie wollten nicht sehen, dass er zu Hause besser zurechtkam als Leute mit