Das deutsche Herz. Adolf Schmitthenner
das hat ihn eingeladen, er solle am Weihnachtsabend in das Binauer Schloß kommen ...“
Friedrich gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen. Dann faßte er seine Gattin an der Hand und führte sie vor die Leiche des Knaben. „Das ist er“, sagte er leise und trat zurück.
Ursula beugte sich über den armen jungen Trompeter, sah ihm ins Angesicht und faltete die Hände. Zuerst lag Neugier und Spannung in ihrem Antlitz, dann wurde Ergriffenheit und Schmerz daraus; aus ihren weit geöffneten Augen quollen Tränen und fielen auf das Angesicht des Toten. Friedrich legte ihr die Hand auf die Schulter; da richtete sie sich in die Höhe, ging an die Kirchhofmauer und brach einen Strauß wilder Rosen. Es dauerte eine Weile, bis sie die scheuen Kinder aus ihrem stacheligen Haus gefangen geholt hatte. Friedrich sprach derweilen mit dem Schultheißen von Hirschhorn über die Versorgung der Familie des Schiffers. Dabei lächelten seine beobachtenden Augen dem Beginnen der Gattin freundlich zu, und als ihr Blick dem seinen begegnete, rief er ihr halblaut zu: „Der Dank für seine Blumengäbe!“ Hannes aber, von einer aufhorchenden Kinderschar umgeben, erläuterte die Posaune durch Aufschlüsse und Anmerkungen.
Als Ursula vor die Leiche des Knaben trat, erblickte sie eine Gestalt, die gesenkten Kopfes oben am Raine hart an der Mauer kniete und mit gefalteten Händen inbrünstig betete. Beim ersten Aufblick wußte sie, daß es der Einsiedler Leonhard war. Mit Grauen sah sie auf die sich leise bewegenden Lippen und gedachte an die Seufzer und Klagen, die sie in der vergangenen Nacht gehört hatte. Unwillkürlich flüsterte sie: „Mutter!“ Da schaute der Jüngling auf, und die beiden betrachteten sich mit forschenden Augen. Zwischen ihnen lag, von dem Einsiedler den Frauen zugestreckt, der tote Trompeter. Die Augen, die vorhin offen gestanden hatten, waren jetzt zugedrückt, und die Arme waren kreuzweise übereinandergelegt.
„Mutter!“ wiederholte Leonhard und schaute Ursula bedeutungsvoll an.
„Du hast mit mir heute nacht der Mutter gerufen“, sagte er leise. „Ich habe es wohl gehört, als ich in deinem Burggraben lag.“
Sie wollte zürnend blicken, aber sie vermochte es nicht.
„Gewiß, ich hab’ es gehört. Es klang, wie wenn eine Tochter weint an ihrer Mutter Grab. Wo ist deiner Mutter Grab? Weißt du’s?“
Sie schüttelte leise den Kopf.
„Dann haben wir zwei das gleiche Leid“, sagte Leonhard, richtete sich auf und streckte ihr über die Leiche die Hand entgegen.
Ursula legte ihre Hand darein, und nun schauten sich die beiden verwundert an. Jedes schaute vom Antlitz des andern auf das Gesicht des Toten und hob dann wieder die erstaunten fragenden Augen, daß sie forschend in den lebendigen Zügen lasen. Da zog Ursula die Hand zurück und legte den Rosenstrauß dem Toten auf die Brust. Leonhard sah es und lächelte. Er bückte sich und griff ins Gras und holte einen mächtigen Waldblumenstrauß und legte ihn über die Rosen, so daß sich die zarten Blüten und Gräser in das aufgeblühte Morgenrot senkten.
Der Junker hatte die beiden nicht aus den Augen gelassen. Er brach das Gespräch ab, befahl, daß die Zuschauer entfernt und die Familie des Stapf nach Hause geleitet werde, und trat hinter seine Frau. Auch des Ritters Augen wanderten vergleichend von einem der drei Gesichter zum andern.
Schweigend ging er an die Kirchhofmauer, beugte sich hinüber und brach einen Rosmarinzweig. Dann ging er auf den Toten zu und legte den Zweig auf seiner Frauen Strauß. Leonhard sah ihm zu, beugte sich nieder, hob des Junkers Zweig auf und legte ihn ins Gras.
Friedrich griff an sein Schwert. Die Ader auf seiner Stirne schwoll. Leonhard sah ihn feindselig an und sagte:
„Sechs Särge sind bereit. Sie stehen am Wege über meiner Hütte. Laß sie heute abend herführen. Den Sarg für den Fährmann macht der Hirschhorner Schreiner.“
Ursula hob den Zweig ihres Gatten vom Boden und steckte ihn in ihre Rosen hinein, so daß er gerade über die Hände des Toten zu liegen kam. Dann trat sie zu ihrem Gatten und sah den Einsiedler bedeutungsvoll an, wie wenn sie ihm sagen wollte: Ich stehe zu dem.
Unterdessen hatte Hannes mit vielen Scheltworten und Sittensprüchen den Platz gesäubert. Er jagte gerade ein Rudel Buben zurück, das um den Friedhof herumgesprungen und von der andern Seite wiedergekommen war, als mitten durch die davdnlaufenden Kinder sich ein uralter Mann nahte. Er hatte einen eisgrauen Bart, trug eine Schaufel über der Schulter und schritt so schwerfällig daher, wie wenn jeder Fuß einen halben Morgen Ackerland trüge.
„Der Notwendigste kommt zuletzt“, rief Hannes dem Totengräber zu.
„Vor soviel lebendigen Leuten fürchte ich mich“, sagte der Mann, „bei den Toten ist mir’s wohler.“
Er warf einen gleichmütigen Blick über die sieben Leichen, dann setzte er sich dicht neben die letzte — es war der Fährmann — auf den Rain, legte den Spaten über seinen Schoß und den bodenschweren rechten Fuß auf das Eisen.
Friedrich nickte dem alten Manne freundlich zu. Dann verabschiedete er die Bürger, die beieinander in einer Gruppe zurückgeblieben waren. „Ich habe mit Leonhard ohne Zeugen zu reden“, sagte er zu ihnen.
„Und ich habe mit dir zu reden“, rief ihm Leonhard zu, „aber vor dem da“, er wies auf den toten Knaben, „und vor deinem Weibe.“
Der Junker schickte den Hannes zum Nachen zurück. Leonhard warf einen fragenden Blick auf den Totengräber.
„Er soll bleiben“, sagte der Ritter, „er kümmert sich nicht um lebendige Dinge.“
„Er soll bleiben“, erwiderte Leonhard, „denn er ist daheim bei den Toten.“
Sie standen sich schweigend gegenüber, bis der letzte weggegangen war. Der Totengräber klopfte mit der Fußspitze auf das glänzende Grabscheit. Ursula stand erwartungsvoll ihrem Gatten zur Seite. Sie hatte die Hand auf seinen Arm gelegt, sei es, um sich an dem Geliebten zu halten, sei es, um ihn durch ihre Nähe zu beschwichtigen.
„Ich will dir etwas sagen, Leonhard. Es ist das erstemal, daß wir uns Aug’ in Aug’ gegenüberstehen. Ich ließ dich bisher gewähren. Mißbrauche nicht meine Güte. Du hast mein Weib und mich in dieser Nacht gequält. Habe Erbarmen mit dieser um deiner Mutter willen. Erspare mir’s, daß ich dir gebieten muß. Ich bitte dich.“
Der Einsiedler richtete sich hoch auf, kreuzte die Arme über der Brust und sah feindselig zum Ritter hinüber.
„Hirschhorn“, sagte er, „ich habe etwas zu fragen; etwas und noch etwas. Zwei Kinder hatte sie, als man sie auf die Burg brachte, die jetzt dein Haus ist. Das eine war ein Sohn von sieben Jahren. Der entsprang und stak im Busch und schlich hinterher und fand so zum ersten Male den Weg in deinen Burggraben. Das andre war ein Mägdlein, fünf Jahre alt; das trug ein treuer Knecht und brachte es Gott weiß wohin. Wer aber ist dieser?“ — Er deutete auf Findebusch.
„Sie hatte noch ein drittes Kind“, sagte der eisbärtige Totengräber und drehte das Grabscheit hin und wieder, so daß die Sonne aus dem Eisen stach.
„Das dritte Kind trug sie unter dem Herzen. Ehe sie verschwand, ist sie seiner genesen, eines Knaben.“
Es war so stille geworden, daß das sanfte Rauschen des still gleitenden Flusses heraufklang.
Zu gleicher Zeit beugten sich Friedrich und Leonhard nieder; Friedrich streichelte die Hand des Toten, Leonhard griff in die wirren Locken. Ursula aber lehnte sich an ihren Gatten und barg ihr weinendes Gesicht an seiner Brust.
„Und nun die zweite Frage“, sagte Leonhard und richtete sich auf. „Wo ist meiner Mutter Grab?“
Auch Friedrich hatte sich erhoben.
„Hundertmal hast du mich so gefragt vom Burggraben herauf. Die Hochzeitsnacht hast du mir damit begeifert. Du kennst meine Antwort: Ich weiß es, aber das Geheimnis geht nicht über meine Lippen.“
Leonhard eilte zwischen den beiden Leichen hindurch auf den Junker zu, faßte ihn an der Hand und fiel auf die Knie.
Mit der andern Hand zerrte er an Ursulas Kleid.