Ein Grund zum Bleiben. Peter Seeberg

Ein Grund zum Bleiben - Peter Seeberg


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behalten will.

      Viele glauben nicht, daß man so etwas überhaupt hat. Wenn man lange auf einer Bank sitzt, in einem Park oder auf einem Hinterhof, weil man müde ist oder bloß, um nachzudenken oder weil die Sonne scheint und wenn man nicht gut sieht, dann ist man ein Opfer. Dann setzt sich jemand auf die Bank, sag’ ich Ihnen, und aus Mitleid reden sie mit einem, und es gibt viele, die selbst schon ein bißchen ins Alter gekommen sind, die gerne etwas für einen tun. Glauben Sie bloß nicht, daß wir völlig fertig sind. Die können leicht Hilfe anbieten, weil sie die Stärkeren sind, das ist nett von ihnen, man ist der Schwächere, und man hat überhaupt nichts dagegen, wenn so eine Dame einen mit sanfter Hand am Arm nehmen und ein Stück begleiten will. Das kann leicht Folgen haben, sehr leicht.» Belinsky räusperte sich. «Es ist ja ein großes Elend, wenn man damit ganz allein ist.» Er sah sich im Zimmer um und summte dabei vor sich hin. «Gehen Sie mal in die Küche», sagte er dann.

      In der Küche hatte Leo eine kleine, alternde Frau angetroffen, die eine geblümte Schürze trug und Kartoffeln schalte. Sie warf Leo einen scheuen Blick zu und trat leicht hinkend zur Seite.

      «Oh», sagte Leo, «so steht es also. Aber das ist doch ausgezeichnet.»

      «Ja, das ist ausgezeichnet.» Sie errötete.

      Belinsky rief herüber: «Verstehen Sie nun das Ganze?»

      «Nicht das Ganze», antwortete Leo und nickte der Frau zu. Er ging in die Stube zurück und wiederholte: «Nicht das Ganze.»

      «Die Dame, die Sie sahen, wohnt bei mir. Wir wollen heiraten, aber das wird noch zwei, drei Monate dauern. Sie wohnt in einer anderen Wohnung des Blocks, weiter drüben und weiter unten, weil sie nicht so gut Treppen steigen kann. Nun ist es so, daß ihr Mann noch nicht gestorben ist, er liegt im Krankenhaus. Es zieht sich lange hin, aber es ist völlig hoffnungslos. Es geht mit ihm bloß so langsam. Der Arme. Und deshalb können wir noch nicht gleich heiraten, aber welche Wohnung können wir sofort bekommen? Ich kann hier als Alleinstehender nicht wohnen bleiben, heißt es.»

      «Das Einfachste wäre, wenn Sie zu der Dame hinunterziehen», sagte Leo.

      «Das wäre wohl nicht gerade das Richtige. Dem Mann gegenüber», sagte Belinsky. «Doch für uns? Wir leben ja auch nicht ewig, und wir mögen einander. Aber die Nachbarn haben gedroht, sie würden es dem Mann erzählen.»

      «Ziehen Sie hinunter, und dann warten wir ab, was geschieht», schlug Leo vor.

      «Man hätte ja gern etwas Sicheres gewußt, so daß man sich danach richten kann», hatte Belinsky gesagt.

      Leo war aufgestanden und hatte sich verabschiedet. Als er hinausgegangen war, hatte Belinsky die Hand zu einem Gruß erhoben, eine Geste, die nicht zu beantworten war.

      Das war überstanden, und er war wegen der Wurzelbehandlung zu Rosa gegangen; danach ins Büro, um den Bericht über die Belinsky-Sache zu diktieren, der bei einer Abteilungskonferenz vorgelegt werden sollte, damit man in Zukunft etwas beweglicher vorgehen konnte. Danach hatte er mit Viola das Auto gekauft. Am späten Nachmittag hatte sie angerufen und ihm mitgeteilt, sie reise in die Winterferien, um das Auto einzufahren. Sie habe noch ein paar Ferientage zugut, und die Firma habe sie gebeten, die jetzt zu nehmen. Er hatte entgegnet, das sei doch eine völlig idiotische Zeit, um Ferien zu machen, aber sie könne ja wohlnichts dafür. Er wünsche ihr jedenfalls alles Gute. Sonst hatte er den Mund gehalten. Sie verdiente seit langem mehr als er, und sie ließ keine Gelegenheit ungenutzt, ihm zu zeigen, daß sie ihr eigener Herr war, auch in Gefühlsdingen.

      Abends hatte er Rosa und Connie besucht. Connie sah ganz vernünftig aus, obwohl er in der letzten Zeit mehrere Anfälle von Verfolgungswahn gehabt hatte. Auch Rosas Vater war dort gewesen. Connie ging nach dem Essen zu einer Versammlung, der Vater blieb noch ein wenig, und schließlich hatte er, Leo, allein in einer Sofaecke gesessen, halb schlafend über eine Illustrierte gebeugt, die einen verwegenen Artikel über die Zukunft brachte, in der die Menschen gezwungen sein würden, sich das Dasein als ein großes Spiel einzurichten, an dem man teilnahm. Das würde nicht völlig gefahr- und risikolos sein.

      Rosa war mit zu ihm nach Hause gegangen. Anfangs hatte sie der Gedanke geplagt, ihre Tochter allein gelassen zu haben. Sie war aber völlig verwandelt, als sich herausstellte, daß er seine Schlüssel vergessen hatte; sie mußte durch ein rasch eingeschlagenes Fenster einsteigen, wobei sie das Regal mit den Haferflocken und dem Scheuerpulver umstieß. Sie hatte sich köstlich amüsiert und war erst spät am Morgen nach Hause gegangen, nachdem sie sich mehrere Stunden im Badezimmer eingeschlossen hatte, weil er sie einmal seine Schwester genannt hatte.

      Am Tag darauf war er dann zu dem Kurs nach Tauben gefahren, bei miserablem Wetter und auf schlechter Straße, genau wie jetzt, bei der Rückefahrt.

      Leo Gray hielt nicht viel von seinen Kollegen; sie waren ihm zu eifrig bei der Arbeit, und sie hatten ihr ganzes Leben nur auf eine einzige Idee gesetzt, an der sie auch festhielten, als sie längst keine Funktion mehr erfüllte. Die Methoden der Werbe- und Militärpsychologie hatten angefangen, sich bei den smartesten Ideologen der Sozialfürsorge durchzusetzen. Das Gute war eine Ware, die ansprechend verpackt werden wollte.

      Entrüstung war stets ein gutes Zeichen für Leben und Wärme, das er bei anderen nicht missen wollte, bei sich selbst aber kaum fand. Doch er freute sich auf den Kurs, ganz einfach, weil er dort Erna treffen würde. Er hatte den Blick über die Stuhlreihen gleiten lassen, sie aber nicht entdecken können. Er hatte dann ganz hinten Platz genommen und ein sommersprossiges Lächeln und einen raschen Händedruck erhalten, als sie – ein wenig verspätet – an ihm vorübereilte, nach vorn, zu den ersten Stuhlreihen, wo sie immer saß, damit sie nicht so weit zu laufen brauchte, wenn sie opponierte.

      Die ersten Redner hatten seltsame Vorschläge unterbreitet, und Erna hatte einem der Referenten sogar Ohrfeigen angeboten; dann aber war es doch recht gemütlich geworden. In der Mittagspause hatte er am Ausgang auf Erna gewartet. Sie war fröhlich auf ihn zugekommen, hatte seinen Kopf in die Hände genommen, ihm die Ohren gerieben wie einem kleinen Kind.

      «Hallo, du langweiliger Kerl! Muß ich denn immer alles alleine sagen?»

      Sie setzten sich an einen Tisch. Er legte seine Hand auf die ihre, und sie legte ihre zweite Hand darüber, und er vollendete den Turmbau mit einem Klaps und sagte: «Erna . . .» Sie machte ihre linke Hand frei, um Bier einzuschenken. «Kennst du das neue Spiel?»

      «Ja, Leo, ich kenne es.»

      «Donnerwetter, Erna. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Hast du es mit jemandem gespielt?»

      «Ja», antwortete sie. Er hielt ihr seine Hand entgegen, und sie schlug ihm mit der geballten Faust auf die Handfläche.

      Als das Nachmittagsprogramm abgewickelt war, warfen sie die Taschen in ihre Wagen und gingen in die Stadt. Es war dunkel geworden. Die Straßenbeleuchtung spiegelte sich fett auf Gehsteig und Fahrbahn, Menschen mit schmalen oder breiten Gesichtern kamen ihnen entgegen und sahen sie nicht an; sie gingen vorbei nach links und rechts, mit einer langen Liste von Punkten im Kopf, nach denen der Heimweg ablaufen würde.

      «Wir haben Glück, Leo», sagte Erna, legte den Arm um seine Hüfte und griff nach seiner Hand.

      «Alle haben Glück, Erna. Es landet ein grünes Blatt auf deiner Hand, und das kann genug sein.»

      «Das ist nicht genug», sagte sie.

      «Nein», sagte er. «Aber es nützt nichts, etwas verlangen zu wollen. Das ist es.»

      «Tja», murmelte sie.

      Sie aßen gemeinsam, tanzten gemeinsam, bummelten gemeinsam durch die Stadt und gingen gemeinsam ins Hotel.

      «Das wird allmählich zur schlechten Gewohnheit», hatte Erna gesagt und ihm das Haar zerzaust.

      «Zweimal im Jahr!»

      «Eine kleine Selbsttäuschung, Erna», entgegnete er und freute sich über die Haut ihres Rückens, die glatt war und duftete. «Es ist gegen die Weltordnung.»

      «Nein, Leo. Dann hast du überhaupt nichts begriffen.»

      Mit


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