Ein Grund zum Bleiben. Peter Seeberg

Ein Grund zum Bleiben - Peter Seeberg


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Wasser. Die Ackererde hatte sich vollgesogen mit Wasser, und der Druck des Wagens preßte ab und zu eine Blase hervor, die mit einem leichten Seufzer zerplatzte.

      Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei. Die Fahrer hatten alle eine Hand vor dem Gesicht, wenn sie in regelmäßigen Abständen gähnten. Ein riesiger Feuerschein erfüllte die Wagen, wenn sie mit einem Streichholz oder Feuerzeug sich eine Zigarette oder Pfeife anzündeten. Kein Fahrer war so wach, daß er die große, frische Rindenwunde an der hundertjährigen Ulme bemerkte, gleich beim Kilometerstein fünfundachtzig, keiner bemerkte die lange Schleuderspur am Straßenrand, keiner die Furchen in der Böschung, keiner das stille Auto auf dem Acker. Privat hatte Leo Gray zu diesem Zeitpunkt beinahe aufgehört zu existieren, und auch öffentlich erhob er keinen Anspruch auf ein Dasein. Er war fast ein Nichts.

      Das Licht wurde weißer. Die Bäume knackten ein wenig in den Kronen, als es Tag wurde, und hätte jemand den Kopf zu der großen Rindenwunde herabgeneigt, hätte er den Duft verborgenen Frühlings, ja beinahe des Sommers unter den Bäumen verspürt.

      Mittlerweile war ein großes Milchauto – ein Aluminiumtankwagen – unterwegs nach Tauben, der Fahrer saß hellwach am Steuer. Es näherte sich mit gleichmäßiger Fahrt dem übel zugerichteten Baum, der nicht übersehen werden wollte. Alles wird umgehend gesehen werden, und der große Wagen wird anhalten. Hilfe wird kommen.

      Gregor kannte den Weg wie seine Westentasche. Die Katze an der Böschung, den Vogel im Baum, jede Stelle kannte er; die Menschen, die aus einem Seitenweg herauskommen oder an einer Haltestelle warten und ihm mit der Hand ein Zeichen geben konnten.

      Schon aus etwa hundert Meter Entfernung machten die Scheinwerfer den hellen Fleck in der Rinde aus, und Gregor begann zu verstehen. Ein Auto war ins Schleudern geraten, war gegen den Baum geprallt. Er sah die große Wunde, die im Licht der Scheinwerfer und des bescheidenen Tages schimmerte. Er drehte den Kopf zur Seite, setzte die Geschwindigkeit herab und sah das Auto auf dem Acker stehen. Ein Stückchen weiter, das wußte er, verbreitete sich die Fahrbahn, eine Haltestelle. Dorthin ließ er den Wagen rollen; er stellte den Motor ab, schaltete das Standlicht ein und kletterte hinaus. Sein kleines Maskottchen, ein Gummitroll, drehte sich eifrig an seiner Schnur. Er ging langsam am Straßenrand entlang, blieb vor dem Baum stehen, betrachtete die nackte Wunde und die Rinde, die in Fetzen herabhing. Dann blickte er zum Wrack hinüber. Er stieg vorsichtig die Böschung hinunter, blieb ein paar Meter vor dem Auto stehen und schob die Hände in die Hosentaschen. Er wollte es nicht glauben, doch dort saß noch jemand hinter den geborstenen Scheiben. Er ging um das Auto herum und sah die Gestalt gegen die Frontscheibe gepreßt daliegen, wie dikker Rauch, der sich an dem Glas vorbeiwälzte. Er ging auf die andere Seite. Dort war die Scheibe einen Spalt heruntergekurbelt, so daß er hineinsehen konnte. Es hatte den Motor in das Wageninnere gestaucht, gegen die Beine des Mannes, dessen Arme herabhingen, der eine schräg über das Lenkrad.

      Gregor trat hinter das Auto. Es war mühsam zu gehen. Er schüttelte den Kopf, sah sich um, und dann rannte er los, schräg über das Feld, so daß ihm der Atem knapp wurde und er für sein Herz zu fürchten begann. Hinauf zu seinem Auto, Motor an, Blinker’raus, sorgfältige Rückspiegelkontrolle, und nun fuhr er davon, fast einen Kilometer weit, wo ein Hof lag. Er bedauerte, daß er keine Funkanlage hatte. Er bog in den Hof ein, wo der Mann eben den Traktor vor einen Anhänger spannte, stellte den Motor ab und sprang heraus.

      «Was willst du denn so früh am Morgen?» rief der Mann und kam ihm auf dem Traktor ein Stück entgegen.

      Gregor zögerte und sah den Mann an, so daß der unwillkürlich den Traktor abstellte.

      «Ich muß telefonieren», sagte Gregor. «Ein Auto ist von der Straße abgekommen, nicht weit von hier.»

      Der Mann kletterte vom Fahrzeug und ging voraus. Er zog die Stiefel an der Küchentreppe aus.

      «Komm mit», sagte er und drehte sich nach Gregor um, «komm schon», sagte er und schaute auf die Stiefel.

      Die Frau stand in der Küche und wusch ab. Dampf wogte ihr ums Gesicht.

      «Es ist ein Unglück passiert», sagte der Mann. «Er will bei uns telefonieren.»

      Sie nickte Gregor zu.

      «Das muß es gewesen sein, was wir vor einer halben Stunde gehört haben», sagte sie. «Der Kleine fing an zu schreien, die merken so etwas.»

      Der Mann zeigte auf das Telefon. «Dort ist es, du brauchst nur dreimal die Null zu wählen.»

      Gregor nahm den Hörer ab und wartete auf den Summton.

      «Stimmt etwas nicht?» fragte der Mann. «Soll ich?»

      Gregor schüttelte den Kopf, der Summton war zu hören. Er wählte dreimal die Null, es knarrte und knackte in den Relais, dann meldete sich die Stimme des Wachhabenden.

      «Ja», sagte Gregor. «Es ist beim Kilometerstein fünfundachtzig in Richtung Stadt. Ein Mann ist dort von der Straße abgekommen. Es sieht böse aus. Sie müssen sofort kommen.»

      Der Wachhabende stellte eine Frage.

      Der Mann stand in der Mitte des Zimmers und beobachtete Gregors Gesicht. Der Frau wischte den Tisch ab und hängte den Abwaschlappen an seinen Platz.

      «Das weiß ich nicht», sagte Gregor. «Ich habe nicht nachgeschaut. Es sieht böse aus, sehr böse. Sie müssen sofort kommen.»

      Der Wachhabende sagte etwas.

      «Ja, ich warte», sagte Gregor. «Ich warte, bis Sie kommen.» Er legte den Hörer auf.

      «Das kostet nichts», sagte der Mann. Gregor blickte in das Gesicht der Frau, ein Gesicht mit kleinen Augen hinter Brillengläsern.

      «Sie kommen gleich», sagte er.

      Er ging zur Tür. Der Mann folgte ihm.

      «Hole lieber erst die Rüben vom Feld», sagte die Frau.

      Gregor hob die Hand und winkte, als er vom Hof rollte. Der Mann stieg eben wieder in seine Stiefel. Gregor fuhr zur Haltestelle zurück und parkte dort, ohne den Wagen zu wenden. Er ging zum Baum und blieb an dessen unbeschädigter Stelle stehen, etwa einen Schritt vor dem Stamm, so daß die Ambulanz ihn rechtzeitig sah und anhalten konnte. Er hielt die Hände anfangs auf dem Rücken verschränkt, dann vorn, zur Faust geballt, schließlich ließ er sie seitlich hängen. Er wußte nicht mehr wohin mit den Händen. Es ging ja nicht an, sie in die Taschen zu stecken.

      Nach einer Weile verschränkte er sie wieder auf dem Rücken und setzte den linken Fuß einen halben Schritt zurück. Er beobachtete den Verkehr von und zur Stadt. Alle Fahrer warfen ihm einen hastigen Blick zu, doch alle fuhren weiter, jeder hatte auf sich selbst aufzupassen. Gregor lauschte angestrengt, um die Sirene der Ambulanz schon von weitem zu hören. Er hörte sie oft, doch ihr Ton verhallte immer wieder. Es hatte noch andere Unfälle gegeben.

      Gregor blies große weiße Fahnen aus den Nasenlöchern. Er bemerkte es, und es schien ihm irgendwie unpassend. Er putzte sich die Nase, und die Fahnen blieben eine Weile aus; dann kamen sie wieder: große Signale seiner Anwesenheit. Das war ihm nicht recht. Er hob den Kopf ein wenig, doch sie bildeten sich auch über seinem Kopf. Sie verflogen, aber andere, fast genau gleiche, bildeten sich, sobald er ausatmete. Er atmete weniger kräftig und ließ den Atem behutsam seitlich ausströmen.

      Nun tat sich etwas, kein Zweifel, er blickte auf die Uhr. Seit er telefoniert hatte, waren zwanzig Minuten verstrichen. Die Sirene der Ambulanz ertönte weit hinter den Hügeln; der Ton kam näher, Gregor hörte, daß er sich die Hügel hinaufbewegte, sich oben ausbreitete, dann wieder in die Täler tauchte und nur noch gedämpft herüberklang. Endlich kam er geradenwegs auf ihn zu. Im Nebel fing es an zu flammen und zu flimmern, das Auto verringerte hörbar die Geschwindigkeit, und langsam, in einer Lichtorgie, mit verklingenden Signalen, tauchte es aus den Nebelschwaden auf. Gregor trat vor, winkte mit weit ausholenden Armbewegungen, und die Ambulanz fuhr an den Straßenrand. Der Beifahrer hatte die Scheibe heruntergedreht und nickte ihm unter seiner Mütze zu, sagte jedoch kein Wort. Auch der Fahrer hatte das Wrack auf dem Acker gesehen; er wendete den Wagen, und die beiden stiegen aus.

      Gregor blieb abwartend stehen.


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