Ein Grund zum Bleiben. Peter Seeberg

Ein Grund zum Bleiben - Peter Seeberg


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ging in die Telefonzelle und rief dreimal seine eigene Nummer an: keine Antwort. Dennoch fühlte er sich irgendwie verbunden. Sein ungemachtes Bett kam ihm in den Sinn, die schmutzigen Teller und die Haferflocken, die in der ganzen Wohnung verstreut lagen, weil Rosa so viel darin herumgelaufen war.

      Er überlegte ein Weilchen, spielte mit der Münze auf dem Tablar, dann rief er das Hotel an und bat, mit dem und dem Zimmer verbunden zu werden. Würde Erna antworten?

      Sie meldete sich sofort – ein wenig verwirrt – mit einem «Hallo».

      Er mußte sich räuspern; es war, als hätte er noch nie mit ihr gesprochen.

      «Erna, hier ist Leo.»

      «Donnerwetter, du bist's! Das ist wirklich schön.

      Es ist wunderbar, daß du anrufst. Ich liege noch im Bett und habe eben an dich gedacht. Glaub mir, hier ist es nicht die Spur gemütlich, wenn du nicht da bist.»

      Er räusperte sich abermals.

      «Erna, mir geht es verflucht schlecht.»

      «Was ist denn mit dir los, Leo? Wo bist du?»

      «Hundertzwanzig Kilometer von dir entfernt. In einem Restaurant an der Landstraße.»

      «So ein Pech. Stell dir vor, du säßest jetzt unten in der Hotelhalle!»

      «Genau das habe ich auch gedacht.»

      «Was?»

      «Daß es praktischer wäre.»

      «Du bist wohl verrückt.»

      «Ich brauche anderthalb Stunden, wenn ich zügig fahre. Hast du es eilig? Es ist ja erst halb acht.»

      «Leo, ich fürchte, wir können nicht mehr aufhören.»

      «Ich hatte immer geglaubt, es könnte nicht länger dauern, als – nun, als es eben dauerte.»

      Sie schwieg ein Weilchen, dann sagte sie leise:

      «Du bist ein Dummkopf, Leo.»

      «Ich weiß, ich hätte nicht anrufen sollen.»

      «Wir werden nie mehr Ruhe finden, Leo.»

      «Warum nicht, Erna?»

      «Es geht wie immer, Leo: ewig oder gar nicht, das weißt du genau.»

      «Machst du mir Vorwürfe, daß ich angerufen habe, Erna?»

      «Komm nur, Leo», sagte sie ruhig. «Ich freue mich darauf. Ich gebe Bescheid, daß ich heute nicht zur Arbeit komme.»

      «Ich fahre in zehn Minuten, und in spätestens zwei Stunden hast du mich.»

      «Gut, Leo. Ich freue mich. Du bist verrückt.»

      Er legte den Hörer behutsam auf und ging zurück zu seinem Frühstück. Als er sich eben setzen wollte, kam Connie in seinem grünen Lodenmantel zur Tür herein. Er war offenbar auf dem Weg nach Tauben und nur ausgestiegen, um rasch eine Tasse Kaffee zu trinken.

      Leo Gray winkte ihm, zeigte auf den Stuhl neben sich und ärgerte sich zugleich darüber, daß er nun erst später würde abfahren können. Connie nickte abweisend; er ging zu einem der Fenstertische, legte den Mantel über einen Stuhl und setzte sich, den Blick unverwandt auf die Straße gerichtet, wo die Karawane der Tankwagen aufs Land hinausrollte. Er war nicht zu sprechen, das war deutlich, und Leo mußte an Rosa denken, die Connies giftige Bemerkungen nun schon mehr als zwei Tage lang hatte erdulden müssen, weil sie sich endlich einmal einen Abend frei gemacht und alle fünf hatte gerade sein lassen.

      Leo nutzte die Zeit und telegrafierte seinem Büro, er sei krank geworden und komme an diesem Tag nicht mehr. Dann rief er noch ein paarmal zu Hause an, um sich zu vergewissern, ob Viola zurückgekommen sei, doch niemand meldete sich. Nun, er gönnte ihr diese freien Tage. Er las die Zeitung und beobachtete Connie, der nur eine Tasse Kaffee und Gebäck bestellt hatte und es ziemlich eilig zu haben schien. Wenig später stand er taumelnd wieder auf, es war, als brauchte er Wände, um sich zu stützen, er ging vornübergebeugt – wie bei Gegenwind und in hohem Schnee – an der Tür nickte er Leo flüchtig zu. Leo winkte zurück. Es schien Connie ziemlich mitgenommen zu haben. Leo sah, daß er in seinen alten schwedischen Wagen stieg, mit dem er vor einigen Jahren bei der Rallye Monte Carlo Nr. 21 geworden war. Er fuhr verdammt gut, das wußte Leo aus der Zeit, da sie sich noch häufig getroffen und gemeinsam Ausflüge unternommen hatten.

      Leo wollte aufbrechen. Er bezahlte. Er zog den Mantel an. Er ging hinaus und startete den Motor. Er fuhr zur Tankstelle, ließ Benzin auffüllen, das Öl kontrollieren, den Reifendruck prüfen und die Scheiben putzen, so daß alles klar war für die Hinund Rückfahrt. Er zahlte, rollte zur Ausfahrt und fuhr in Richtung Tauben davon. Einhundertzwanzig Kilometer.

      Das Zukunftsbild, das er auf der Hinfahrt für sich entworfen hatte, mußte er nun revidieren. Er fuhr zurück zum Glück, zu Erna, doch die Freude verminderte nicht die Unruhe über den Kurs, den er nun eingeschlagen hatte. Im Gegenteil, er spürte, daß er die Sache auf die Spitze getrieben hatte, daß er im Begriff war, das letzte Brot aufzuessen. Dahinter wartete der alte Hunger.

      Er fuhr gleichmäßig, ging kein Risiko ein. Er ließ sich überholen, wich aus bis an den bröckelnden Straßenrand und den Grasstreifen zwischen der Fahrbahn und den Alleebäumen. Der Verkehr war noch ungleichmäßig und vom Temperament des einzelnen geprägt, ein paar Hitzköpfe jagten mit Höchstgeschwindigkeit auf dem Mittelstreifen entlang und ließen alles hinter sich. Sie hatten eine Agentur zu betreuen oder irgendwelche Waren abzuliefern. Schlimmer waren die großen Landwirtschaftsmaschinen, die ohne Licht und Signal daherfuhren, und die breiten Bautransporter – mit verschlafenen Fahrern –, die unvermittelt nach links abbogen. Leo ging kein Risiko ein.

      Er sah auf die Uhr. Es war zwanzig nach acht.

      Kurz vor zehn konnte er in Tauben sein.

      Allmählich würde es hell werden, dann konnte er ein wenig schneller fahren. Sobald er die Autobahn erreicht hatte, würde es ohnehin besser werden.

      Er näherte sich, bedrückt, dem Glück, das ihn erwartete.

      Ein Autofahrer richtet sich in seinem Sitz auf – ohne sich dessen bewußt zu sein, hat er plötzlich weniger Bedenken. Genau dies passierte Leo. Im gleichen Augenblick gab er seine Vorsicht auf. Er spürte geradezu, wie er sich zusammenriß. Er richtete sich auf und setzte sich zurecht. Er steigerte die Geschwindigkeit um zwanzig Kilometer und fühlte sich klar, konzentriert, gefaßt. Die Abstände zwischen den Bäumen am Straßenrand wurden kleiner, die Leitlinie floß zusammen, die Fahrbahn lebte in den Rädern und im Lenkrad, wurde zur Herausforderung, die beantwortet werden wollte. Er fuhr hundertzwanzig. Es waren weder Landwirtschaftsmaschinen noch Bulldozer auf der Straße, der Weg wurde für ihn freigehalten.

      Unter solchen Umständen greift das Schicksal nicht unmotiviert ein. Die Möglichkeiten für eine Erklärung werden offengehalten.

      Leo Gray sah eine Gestalt auf der Straße. Seine erste Reaktion war Zweifel an ihrer Existenz, die zweite, es sei doch besser, sie nicht zu überfahren. Diese zweite Reaktion war noch nicht artikuliert, als er schon voll auf die Bremse trat. Der Wagen schleuderte mit blockierten Rädern, Leo versuchte, ihn durch Loslassen der Bremse wieder unter Kontrolle zu bringen, doch der Wagen gehorchte nun eigenen Gesetzen. Er schlitterte über das fette Gras, prallte schräg gegen einen Baum. Leo Gray wurde gegen die Frontscheibe geschleudert und verlor das Bewußtsein. Der Wagen glitt seitwärts die Böschung hinunter, überschlug sich zweimal und blieb – auf allen vier Rädern – auf einem gepflügten Acker stehen. Der Motor war verstummt.

      Das Fahrzeug stand in seiner ursprünglichen Fahrtrichtung ungefähr zehn Meter von der Straße entfernt. Wegen des Nebels war die Sicht schlecht, aber da und dort schimmerte ein Stallfenster, und manchmal drang das Licht eines Scheinwerfers durch ein Loch im Nebel. In der rieselnden, dampfenden Stille war das langsame Klopfen der Pumpenmotoren zu hören, das Poltern der Scheunentore, die zugeschlagen oder aufgerissen wurden und ewig klemmten, eine Stimme, die jemandem etwas zurief, Autos und Traktoren, die angelassen wurden und auf Seitenwegen davonfuhren. Die Tiere


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