Ein Grund zum Bleiben. Peter Seeberg

Ein Grund zum Bleiben - Peter Seeberg


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sie sahen das Licht, es war, als besäße jeder die Stimme des anderen.

      Erna hatte ein paar Tränen vergossen, als er am Morgen aufgebrochen war. Sie wußten nicht, wann sie sich wieder einmal treffen würden, es gab zwischen ihnen keine Verabredungen.

      «Können wir nicht noch gemeinsam frühstücken?» hatte sie gefragt. Doch das wäre zuviel gewesen für ihn. Er hatte fortgewollt. Und nun war er auf dem Weg nach Hause.

      Die Scheinwerfer zählten rhythmisch die Katzenaugen am Straßenrand und lasen ab und zu blitzschnell die kleinen Schilder: «Unbefestigter Randstreifen», die dem modernen Straßenbau folgten, wohin man auch kam, während die großen Verkehrsschilder zu spät bemerkt wurden und unentziffert wieder in das Dunkel tauchten.

      Was er während der letzten vierzig Kilometer noch tun konnte, war, wie schon so oft, über seinen Platz im Weltmodell nachzudenken, das er als ein nicht ausbalanciertes System von unermeßlichen, meistens nicht direkt gegenseitigen Hilfeleistungen ansah. Sich selbst treu bleiben, könnte die Voraussetzung sein, um richtig helfen zu können, in der letzten Konsequenz aber würde das eine Verarmung der Hilfsmöglichkeiten bedeuten, und immer weniger konnte dann denen geholfen werden, die sich nicht selbst halfen. Die innere Freiheit flammt auf in der gegenseitigen Abhängigkeit, die alle miteinander verbindet. Alles war Hilfe und Hilflosigkeit, das würde sich nie ändern. Er war an dem Punkt angelangt, wo er seine eigene Situation nicht mehr verbessern konnte, ohne einen moralischen Einsatz, den er von vornherein als zwecklos ansah. Er dachte daran, daß er Viola gegenüber freundlicher sein sollte, vielleicht sogar liebevoller. Sie waren nicht verheiratet, er war ihr im Grunde nichts schuldig, sie hatten jedenfalls nichts abgemacht. Doch es war klar, daß es netter wäre, wenn sie einander mehr Wärme entgegenbrachten, wo sie nun schon zwölf Jahre zusammen lebten. Nur war der Zeitpunkt schlecht gewählt. Was wollte er eigentlich? Viola war ihre eigenen Wege gegangen, vielleicht war sie eben dabei, auf einen Seitenpfad ihres gemeinsamen Schicksalsweges einzubiegen, wo sie einen anderen traf, und er es ihr um so leichter machte, je weniger Verstehen er ihr entgegenbrachte. Er hätte selbst seiner Wege gehen können, das wäre fair gewesen; doch das hatte er nie fertiggebracht, aus Furcht davor, in dieser kleinen Gruppe von Männern und Frauen zu landen, die von zu Hause weggelaufen waren, in einem bestimmten Restaurant in der Stadt zusammensaßen und abwechselnd beieinander wohnten, um herauszufinden, ob sie den einen oder anderen mehr als nur ein paar Stunden ertragen könnten. Eigentlich gehörte er zu ihnen. Die Männer rauchten und tranken zuviel, sie waren die halbe Woche unrasiert, trugen blaue Hemden mit weißen Streifen, bekamen Bierbäuche und aufgedunsene rote Köpfe. Aber es war gut, daß sie nicht allein waren.

      Er sollte sich vielleicht auch etwas mehr für seinen Sohn Mark interessieren, der an irgendeiner Universität studierte, auf Kuba gewesen war und nun mit aller Kraft die Revolution vorbereitete. Das war beeindruckend. Er schrieb fast nie, doch war das begreiflich, da Viola nicht seine Mutter war und sein eigenwilliges Wesen nur mit Mühe akzeptierte. Doch es hatte keinen Sinn, an diesem Punkt anzusetzen. Mark würde auf sein Interesse pfeifen und ihn bitten, auf sich selbst aufzupassen. Und ihn darauf aufmerksam machen, daß er so sehr in eine hoffnungslos wahnwitzige Menagerie verstrickt war, daß er nur in einer Ausnahmesituation vielleicht eine Chance hätte, ein ehrbarer Mensch zu werden, indem er sich für ein echtes Ziel opferte oder – um das Ganze wahrscheinlicher zu machen – geopfert würde. Wenn er diesen Gedanken nachhing, hatte er schon oft daran gedacht, als Experte in ein Entwicklungsland zu gehen, doch ihm war, je mehr die Entwicklungshilfe Form annahm, immer klarer geworden, daß all die unterentwickelten Länder bestimmt viel größere Aussichten hatten zurechtzukommen, wenn er sie nicht mit seiner impertinenten Selbstrechtfertigung behelligte.

      Sich selbst sah er so: moralisch sensibel, doch ohne die Fähigkeit zu handeln. Er bevorzugte das Unauffällige, Taktvolle, Rücksichtsvolle. Er besaß ein umfassendes Solidaritätsgefühl, war aber ohne jede Dynamik; er operierte im Rahmen des Gegebenen.

      Er war völlig einverstanden mit der Behauptung, man teile die grundsätzlichsten Vorurteile der Gesellschaft, doch dieser Gedanke lähmte ihn nicht, ein gewisser Spielraum zur freien Orientierung blieb immer. Das befreite ihn jedoch nicht von dem entscheidenden Merkmal seiner Existenz: daß er mit festem Gehalt fest angestellt war und daß er sich unter anderen Bedingungen kaum zurechtfinden würde. Es war keine unbillige Abhängigkeit, aber sie prägte seine Einstellung zu dem, was Voraussetzung war für die Aufrechterhaltung dieser Bedingungen. Für ihn war es am besten, wenn alles beim alten blieb: beim Status quo. Das war der eine Glaubenssatz. An wen – außer an sich selbst – dachte er mit einer solchen Selbstverständlichkeit, wenn er für den Status quo eintrat? Nicht an viele. Das war der andere Glaubenssatz. Die Welt, das war er selbst, sein Job, der groß und progressiv war, und ein Geschäft, in dem er bedient wurde.

      Als er das vorläufige Ende der Autobahn erreichte, war sein moralisches Dilemma noch nicht völlig beschrieben, seine Kraft jedoch, es zu überwinden, war nicht gerade imponierend, und er zweifelte stark daran, daß er es je schaffen würde. Viel eher würde er sitzen bleiben, still, wie eine Schnekke an der Mauer, die eintrocknet und im Winter schließlich herunterfällt.

      Es war noch immer dunkel, die Sicht nach wie vor schlecht, und das Fahren auf der alten Hauptstraße mit ihren schmalen Brücken und langen Baumreihen strengte an. Beim ersten Motel wurden sein Kaffeedurst und das Bedürfnis, unter Menschen zu kommen, stärker als der Wunsch, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Er lenkte den Wagen durch die große Pfütze in der Einfahrt und hielt vor dem Restaurant.

      Eine andere Hand

       Leo Gray hat seinen Wagen vor dem Restaurant eines Motels geparkt, etwa einhundertzwanzig Kilometer von Tauben entfernt, wo er früh am Morgen eine geliebte Frau verlassen hat. Während der Fahrt hat er eine moralische Krise durchgemacht, die um ein Haar dazu geführt hätte, seine Existenz in seinen Augen überflüssig zu machen, eine Auffassung, die wir nicht zu teilen brauchen. Wir können behaupten, daß Leo Gray, solange er sich selbst etwas bedeutet, für uns andere genug Bedeutung hat. Ja, auch wenn er sich selbst nichts bedeuten würde, für jemanden von uns könnte er trotzdem von Bedeutung sein.

      Das Restaurant hatte eine Veranda, die er durchqueren mußte, bevor er ins eigentliche Lokal kam. Es war wie ein kanadisches Blockhaus eingerichtet : Hirschgeweihe und Hirschfelle an den Wänden und große Zielscheiben zum Bogenschießen und Pfeilwerfen. Eigentlich toll zu so früher Morgenstunde.

      Obwohl es noch unchristlich früh war, saßen schon Gäste im Restaurant: vier Lastwagenfahrer, die ihre Mäuler über belegten Broten aufrissen, eine Dame, bereits etwas über das beste Alter hinaus, die offensichtlich darauf wartete, daß ihr Ehemann herunterkam, und eine Anzahl zierlicher Papiermenschen, die Akten durchsahen, während sie ihr englisches Frühstück verzehrten, Spiegeleier mit Schinken, Salami, Käse, Konfitüre, Butter und diverse Brotsorten; dazu tranken sie Kaffee. Der Duft vermochte Leo völlig zu überzeugen.

      Der Kellner hatte leichtes Spiel.

      Das Glück ist die beste Versicherung gegen Selbstvorwürfe, zitierte Leo bitter einen älteren Schriftsteller, auf den sein Vater in seiner langen Rentnerzeit immer wieder zurückgekommen war. Er griff nach der Zeitung vom Vortag, die zerknittert auf einem Stuhl neben ihm lag, und blätterte sie aufs Geratewohl durch, während er auf das Frühstück wartete.

      Beim Essen bekam er Lust, zu Hause anzurufen, um zu hören, ob Viola schon zurück sei – dieser Anruf stand fest –, und Lust, Erna anzurufen, die bestimmt noch nicht aufgestanden war, auf keinen Fall aber das Hotel bereits verlassen hatte. Dieser Anruf wäre ein Verstoß gegen ein Prinzip, und fast alles sprach dagegen: Er hatte Erna noch nie angerufen; die vorbehaltslose Ergebenheit füreinander hing vielleicht an sehr dünnen Ketten, die bei der geringsten Belastung reißen konnten; er wußte nicht, was er mit dem Anruf beabsichtigte, abgesehen davon, daß ihm vorschwebte, er könne zurückfahren und mit Erna frühstücken, mit ihr sprechen, sich vielleicht von ihr helfen lassen, obwohl er noch nie mit ihr über solche Fragen gesprochen und ihm noch nie jemand geholfen hatte. Es würde sie sicherlich erstaunen, daß er eine Ermunterung gebrauchen konnte, so wie sich Schneider Belinsky wundern würde, wenn er zu ihm kommen und ihn um Rat und Hilfe bitten würde. In solchen Fällen war eine überzeugende Katastrophe nötig, um die Rollen


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