Frank Mill. Frank Lehmkuhl

Frank Mill - Frank Lehmkuhl


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genormten Spitzenkickern und all dem Selfie-Starkult und Hochglanz-Werbe-Overkill von heute noch so weit entfernt war wie Andorra vom Weltmeistertitel. Frank Mill und seine Mitspieler waren einfache Fußballspieler, die von der Straße kamen: meinungsfreudig, nicht durch die Presseabteilungen von Vereinen auf Linie gebracht, frei nach Schnauze in Kameras sprechend.

      Statt Playstations lockten Pub-Touren, statt Facebook gab es Fluppen. Sie kannten keine Individualpläne für jeden Körpermuskel und jedes Seelenzwicken, keine Ernährungsvorgaben und minutiöse Trimm-dich-Anleitungen für den Urlaub. Und dennoch oder eben gerade deshalb haben Profis wie Mill auf ihre Weise zur Entstehung der heutzutage alle Gesellschaftsbereiche durchdringenden Unterhaltungsware Fußball beigetragen. Als Mill noch spielte, schnürten nicht nur die Spiele selbst, sondern auch die Klartext-Veranstaltungen danach beste Entertainment-Pakete. Die Fußballstadien waren noch keine seelenlosen Konsumovale, die Klubs standen für Charakter und Tradition – und die Fans für eine Leidenschaft, die ins Pathologische schwappte. Irgendwie ehrlicher war dieser Fußball. So ehrlich wie Frank Mill.

      Er hat es sich in seiner Laufbahn nur einmal leicht gemacht: Anfang der achtziger Jahre lehnte Mill gleich vier Angebote von italienischen und französischen Topteams ab. »Ich hätte damals wechseln sollen«, sagt er heute. Die Heimatliebe schlug das Fernweh.

      Ansonsten aber ist er keinem Hindernis ausgewichen, keinem Streit aus dem Weg gegangen. Frank Mill, geboren in Essen, ist der Prototyp des Ruhrgebietskickers: geradeheraus, wertegetrieben, mit klaren Ansagen und genug Grips im Kopf, um seine Worte dennoch wägen zu können. Er steht zu dem, was er entscheidet, auch zu einer zeitweilig aufflammenden Bockigkeit. Als Bayern München Anfang der achtziger Jahre um seine Dienste buhlte und ihm dann über die Zeitung mitteilte, dass er als Stürmer für internationale Aufgaben nicht mehr erwünscht sei, brach er den Kontakt zu Deutschlands Branchenprimus ab und schoss danach in direkten Duellen mit fast schon grimmiger Konstanz seine Tore gegen die Bayern.

      In diesem Buch, einer von ihm autorisierten Biografie, blickt einer der besten Torjäger der Bundesligageschichte nun erstmals zurück auf die turbulenten Jahrzehnte, in denen er Deutschland begeisterte – und eben auch mich.

      Er erzählt, wie er aufstieg, immer mal wieder abstürzte, sich wieder aufrappelte. Er klammert auch unangenehme Wahrheiten nicht aus, berichtet beispielsweise von Dopingpraktiken – »einfach, weil ich erzählen will, wie es wirklich war«. Und er denkt darüber nach, was er vielleicht doch hätte besser machen können, um in der Nationalelf den Platz von Allofs, Rummenigge, Völler oder Klinsmann einnehmen zu können, die das erste Anrecht auf die Stammplätze im Angriff hatten und ihm immer »’nen Tacken voraus« waren, wie man im Pott sagt. Manchmal verhinderte wahrscheinlich sein Lebenswandel mit der Liebe zu Glimmstängeln das Erreichen seiner absoluten Leistungsfähigkeit.

      Das Gesamtbild runden Rückblicke vieler Wegbegleiter ab. Geäußert und erinnert haben sich für dieses Buch etwa Horst Hrubesch, Reinhard Rauball, Olaf Thon und Pierre Littbarski.

      Ich habe viel gestaunt während der zahlreichen Gespräche mit Mill und seinen fußballerischen Kollegen in den vergangenen Monaten und natürlich auch während der Schreibarbeit an dieser Biografie. Genauso viel gestaunt wie damals an jenem nasskalten Novemberabend des Jahres 1985, als ich wie Millionen andere Menschen vor dem Fernseher saß und einen Hass zu spüren meinte, der eigentlich der Keim für eine lebenslange Faszination war.

      Gestaunt wie an jenem Abend, als Borussia Mönchengladbach in meinem Düsseldorfer Rheinstadion gegen Real Madrid spielte – und als ich ein Fan des Fußballers und Menschen Frank Mill wurde.

       Frank Lehmkuhl, Düsseldorf im Juli 2017

      KAPITEL 1

       Als Chef in schwieriger Mission

       Die Olympischen Spiele 1988

      Die 20 jungen Männer, die an einem lauwarmen Augustabend des Jahres 1988 am Frankfurter Flughafen in eine Boeing 747 Richtung Osten einsteigen, stehen vor einer ungewissen, ja womöglich sogar gefährlichen Reise. Hitze wird sie empfangen, das wissen die prominenten Jungspunde bereits, darüber hinaus eine konstant schweißtreibende hohe Luftfeuchtigkeit und ein Potpourri aus neuen Gerüchen, Geräuschen und Farben. Vielleicht warten am Zielort Mahlzeiten, die noch auf den Tellern herumkrabbeln, unter Umständen auch Killerviren, Kriminelle oder kriechendes Giftgetier. Kurzum: Die Truppe geht auf Jugend-forscht-Mission und hat keinen Schimmer, was ihr blüht.

      Reisen ist ein Abenteuer in den achtziger Jahren, viel mehr noch als in den Jahrzehnten, die folgen werden. Das Deutschland, aus dem die physisch gestählten Männer an diesem Abend abfliegen, ist durch eine Mauer und schwerbewaffnete Sicherheitskräfte von eingesperrten Landsleuten getrennt. Das Exotischste an der Bundesrepublik sind seine Dönerläden, China-Imbisse und ein paar multikulturelle Bahnhofsviertel, in die sich gemeinhin kein hochbezahlter Promi verirrt.

      Auch weite Teile des europäischen Kontinents sind für viele Deutsche unerforschtes Terrain, mit Staaten, die sich mittels Grenzzäunen, Schlagbäumen und bewaffnetem Militär voneinander abschotten, vor allem im östlichen Zipfel. Der Super-GAU von Tschernobyl, zwei Jahre zurückliegend, hat aus der Sowjetunion die Angst vor Atomkatastrophen importiert. Aids wächst sich von Westen kommend zur neuen grenzüberschreitenden Bedrohung aus. Und selbst von den im sonnigen Süden beheimateten Urlaubsländern Frankreich, Spanien und Italien kennt der gewöhnliche deutsche Tourist mit Badelatschen und blutroter Birne in der Regel nicht viel mehr als das hotelnahe Kneipenviertel mit Schlagermucke und Schnitzel.

      Wer sich informieren will über das, was auf dem Globus sonst noch so abgeht, der zappt durch eine Handvoll grobkörniger Fernsehprogramme, schaut Dokumentationen öffentlich-rechtlicher Fernsehsender oder blättert beim Schlückchen Kaffee in seiner Morgenzeitung. Bei Fußballern hat dieses Stück Papier im Normalfall vier fette Buchstaben auf dem Titel und augenfreundlich wenig Text. Meistens bleibt man eh beim Sportteil oder dem ordentlichen Stück Haut auf der Titelseite hängen.

      In dieser Welt, die noch so ganz anders ist als die heutige, ahnt kaum jemand, welche völkerverbindenden Kommunikationswundergeräte bald die Menschheitsgeschichte revolutionieren werden. Zum Telefonieren steuert man einen der engen, stickigen Glaskästen mit seinen versifften Nummernbüchern an der Straßenecke an oder greift zum klobigen Apparat mit Schnur, der bei den meisten Menschen im Flur auf einem Tischchen steht. Würde man unseren durchtrainierten Jungs am Gate des Frankfurt Airport prophezeien, dass in einigen Jahren kleine Hochleistungscomputer auf den Markt kommen, mit denen sie überall kabellos telefonieren und auch sonst sämtliche Alltagsprobleme bis auf die Toilettengänge lösen können, würden sie mit ziemlicher Sicherheit antworten: »Ist klar, Kollege, und wann schweben die kleinen grünen Männchen ein?« Die Hippsten unserer Reisenden tragen als Tribut an die Postmoderne ein schwarzes Ding mit in den Flieger, in das man eine Kassette einlegen kann, deren blecherner Klang dann über schmucklos-schwarze Kopfhörer in die Gehörgänge dringt. Mit diesem Achtziger-Jahre-Kultobjekt namens Walkman geht es rein in die Maschine.

      Das große Abenteuer führt die jungen Männer nach Südkorea. Verursacht schon allein die Unkenntnis der landesspezifischen Besonderheiten bei unseren Hauptdarstellern nervöses Magengrummeln, so versteckt sich die vermutlich gefährlichste Bedrohung für sie jedoch in der Zielvorgabe fürs Zielland: Sie sind Bundesligakicker und sollen bei den Olympischen Sommerspielen Fußball spielen. Guten Fußball. Erfolgreichen Fußball.

      Das ist ein ausgewachsenes Problem.

      Denn guten und erfolgreichen Fußball haben deutsche Mannschaften bei Olympischen Spielen noch nie gespielt.

      Vor vier Jahren, bei den Wettkämpfen von Los Angeles, waren die schwarz-rot-goldenen Medaillenjäger unter Leitung von Erich Rib-beck krachend vor 100.000 Menschen in Pasadena im Viertelfinale gescheitert. Resultat gegen Jugoslawien seinerzeit: 2:5. Der Einzug in die Runde der letzten acht markiert indes bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich das beste Ergebnis der stolzen Fußballnation Deutschland in der langen Geschichte des attraktivsten Sportturniers der Welt. Selbst 1972, bei den Spielen im eigenen Land im Olympiastadion zu München, schied das deutsche Team nach einem 1:4 gegen Ungarn und einem 2:3 gegen die DDR früh in der Zwischenrunde


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