Frank Mill. Frank Lehmkuhl

Frank Mill - Frank Lehmkuhl


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der Euphorie in Deutschland bekommen sie immer dann etwas mit, wenn sie vom Hoteltelefon aus mit ihren Liebsten daheim sprechen. Die Endorphinwelle hat Mill & Co. mittlerweile nach Seoul gespült, ins olympische Dorf. Je sieben Spieler teilen sich eine Wohnung, Parterre. Mittendrin. Endlich. Das Halbfinale steht an. Gegen Brasilien. Gegen das Fußballland schlechthin. Der Name des Gegners sorgt für knisternde Gedanken an Samba, Strände und sagenhaften Fußball.

      Der Fernsehmoderator ist genauso elektrisiert wie die Spieler und die Zuschauer zu Hause. Günter-Peter Ploog kommentiert das Spiel und ist gleich in den ersten Minuten auf Betriebstemperatur, weil die Deutschen die Brasilianer in deren Strafraum zurückdrängen. »Wie aufgezogen, wie ein Uhrwerk schnurrt er da an der rechten Seite entlang«, palavert Ploog und meint Holger Fach, der zusammen mit Wolfram Wuttke die eine Offensivflanke beackert. Links wirbelt Frank Mill.

      Er kommt immer wieder in gefährliche Kopfballpositionen, weil Häßler, Fach und der schnelle Wuttke gute Flanken vors Tor schlagen. Auch einen Torschuss von der Fünfmeterlinie kann Frank fast erfolgreich abschließen. Von links wirft »die Lauterer Schleuder« (Ploog über Michael Schulz) Einwürfe bis in den Torraum. Trotz aller Belagerung des brasilianischen Strafraums steht es zur Pause 0:0.

      In der 50. Minute geht Deutschland in Führung: Wuttke zirkelt einen Freistoß von der rechten Seite gewohnt lässig in den Strafraum, die Abseitsfalle funktioniert nicht, Holger Fach nickt ein. 1:0. Torjubel in Seoul. Träumen vor den TV-Geräten.

      Die nächsten 40 Minuten kennt das Spiel vor allem eine Grundkonstellation: Deutschland verbarrikadiert sich. Brasilien rennt an. Wütend. Fintenreich. Mit viel Starpower. Spieler wie Torwart Claudio Taffarel oder die Stürmer Bebeto und Romário, die schon bald zu Weltstars aufsteigen werden, zeigen ihre Kunst.

      Bis zur 79. Minute hält das deutsche Bollwerk. Dann trifft Romário per Kopf zum verdienten Ausgleich. Fast im Gegenzug bekommen die Deutschen nach einem Foul an Klinsmann einen Elfmeter zugesprochen. Wolfgang Funkel, eigentlich zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Elfmeterschütze mit stoischer Kaltblütigkeit, schießt zu schwach – Taffaral hält. Es bleibt beim 1:1. Auch in der Verlängerung. Elfmeterschießen. Dort treffen dann Olaf Janßen, Jürgen Klinsmann und Wolfram Wuttke nicht. Das ist entscheidend. Brasilien steht im Endspiel.

      Nach dem Spiel kehren die Deutschen ins olympische Dorf zurück – innerlich leer und bitter enttäuscht. Es dauert ein paar Stunden, bis sie sich der Tatsache bewusst sind, Historisches erreicht zu haben. Noch nie ist eine deutsche Auswahl bei den Olympischen Spielen so weit gekommen, und man ist ja nicht raus aus dem Turnier, spielt immer noch um eine Medaille. Ein paar gefüllte Gläser und Gespräche helfen, um sich diese Gesamtausbeute wieder vor Augen zu führen. Spät in der Nacht gibt Kapitän Mill mit heiserer Stimme die Parole aus: Wir hauen jetzt im Spiel um Platz drei noch einmal alles raus. »Ich will mit einer Medaille heimkehren!«

      Dass die Jungs im Herzen der olympischen Bewegung residieren, hilft bei der Traumabewältigung. Das olympische Dorf ist ein Quell der kuriosen Erlebnisse. Steffi Graf fährt Tag für Tag mit dem Fahrrad über die Asphaltwege. Man sieht bulgarische Gewichtheber, zwei Meter groß, die mit ungarischen Ringern, 1,60 Meter klein, zur Essensausgabe pilgern. Ein echter Blickfang ist auch die riesige litauische Basketballspielerin, die ihren Aktionsradius auf anderthalb Quadratmeter unter dem gegnerischen Korb beschränkt, egal ob im Training oder Spiel.

      Es wird viel gefeiert in diesem Ambiente – und unsere Fußballer feiern fröhlich mit. Meist trifft man sich dafür unten vor den Bungalows, jeder bringt was mit. Tupperpartys für Modellathleten. Eines Abends fliegt ein Wassereimer aus einem oberen Stockwerk, gefolgt von dem lautstarken Ruf: »Ruhe, ich muss trauern!« Absender des gefüllten Behälters ist Zehnkämpfer Jürgen Hingsen. Der Gigant war im 100-Meter-Lauf dreimal zu früh gestartet und deshalb disqualifiziert worden. Einer der bittersten Momente der deutschen Olympia-Historie. Frank Mill und seine Mitstreiter bekommen aus der Nähe mit, wie Sportgeschichte geschrieben wird.

      Nicht bei allen Athleten sind die Kicker beliebt. Sie gelten so manchem, der sich mühsam hochkämpfen musste, als verzogen und verhätschelt, als überbezahlt und hochnäsig, als Goldesel in einem völlig überbewerteten Business. Ein deutscher Handballtorwart zum Beispiel lässt kaum eine Gelegenheit aus, den Fußballern gegenüber seine Missachtung auszudrücken. Irgendwann wird es dem Kapitän der deutschen Fußballer zu bunt. Er greift den Keeper der Werfer an. »Du verdienst doch in deinem Sport selber gut genug, eure Vereine zahlen doch längst auch gute Summen«, raunzt Frank, als die beiden wieder mal in der Mensa aneinandergeraten sind. Ähnliche Auseinandersetzungen müssen sich die Fußballer mit rhythmischen Sportgymnasiastikerinnen oder Boxern liefern. Der Gegensatz zwischen Amateuren und Profis mündet in einen Konflikt, der 1988 noch offen ausgetragen wird. Jahre später, als meist junge Profifußballer fest zum Erscheinungsbild der Olympischen Spiele gehören, verflüchtigt sich dieses Thema dann.

      Letztlich aber sind das alles akzeptable Begleiterscheinungen – die Kicker sind wieder frei von negativen Gedanken. Das Bronze-Spiel steht an. Gegen Italien. Eine von diesen »Schweinemannschaften«, wie Mill sagt. Taktisch immer auf der Höhe. Konditionsstark. Durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Wenn man gegen die einmal zurückliegt, kann man auch genauso gut versuchen, Fort Knox mit einem Schraubenzieher einzunehmen. Die Chancen, den Abwehrbeton aufzuweichen, tendieren gegen null.

      »Ihr müsst sie gleich früh attackieren«, brüllt Coach Löhr in der Vorbereitung aufs Spiel in der Kabine. »Pressing« würde man heute dazu sagen. Balleroberung weit in der gegnerischen Hälfte soll ein frühes Führungstor einbringen. Ein sehr gutes Rezept, wie sich herausstellt.

      Bereits nach wenigen Minuten erobert Wuttke vor dem eigenen Sechzehnmeterraum den Ball, spielt einen langen Flachpass auf Mill, der auf der rechten Seite seinem Gegenspieler Massimo Brambati davonläuft. Frank zieht, den Hintern rausgestreckt, in die Mitte, legt den Ball auf für Klinsmann, und dieser erzielt flach und trocken das 1:0. Es dauert nicht lange, da fällt das zweite Tor. Ecke Wuttke, Kopfballverlängerung Schulz, am zweiten Pfosten köpft Gerhard Kleppinger die Kugel über die Linie. 2:0. Gegen Italien. Eine Weihnachtsbescherung könnte nicht schöner sein.

      Frank wühlt sich im Glücksrausch der Hormone durch die Schwüle von Seoul. In unzähligen Zweikämpfen arbeitet er an der Bewältigung seines ganz persönlichen Fußballtraumas. Mill spielt gegen kleine, schnelle und spaßbefreite Abwehr- und Mittelfeldmänner wie Brambati, Mauro Tassotti, Stefano Carobbi oder Luigi De Agostini, gegen Defensivkünstler, die ihm normalerweise unablässig auf die Nerven gehen. Wie eine Klette kleben solche Ekelverteidiger an seinem Trikot, sie zerren und ziehen, tauchen im Augenwinkel sofort wieder auf, sobald man denkt, sie abgeschüttelt zu haben.

      In der Bundesliga kapituliert Frank beim Anblick solcher Verteidiger manchmal schon vor dem Anpfiff. Bei Waldhof Mannheim beispielsweise ackert und grätscht ein ähnlich hartnäckiger Kollege namens Dimitrios Tsionanis, von dem Kultcoach Max Merkel mal sagte: »Der köpft auch eine Kiste Cola aus dem Strafraum!« Wenn der BVB gegen Mannheim ranmuss, weist Frank das Trainerteam an: »Lasst mich raus, gegen den komme ich nicht klar.« Lieber spielt er gegen hochgewachsene Verteidiger, gegen die Brüder Karl-Heinz und Bernd Förster oder gegen Guido Buchwald, denen er schon mal gemeinsam mit dem Ball durch die Beine laufen kann.

      In Seoul aber klappt alles an diesem Tag gegen Italien, auch gegen die geballt aufgebotenen Beißer. Und Frank teilt den Italienern seine Genugtuung auch gern in Spielpausen mit. In einer Szene sieht man ihn im körperlichen und verbalen Infight mit gleich vier Blauen. Der Schiedsrichter muss sich ins Getümmel werfen. Im Weggehen haucht Frank dem entnervten Quartett noch ein paar Wörter zu, die besser auf keine Vokabelliste für Grundschulkinder gelangen sollten.

      Halbzeit zwei. Deutschland macht den Deckel drauf. 21 Minuten vor dem Ende – Torwart Uwe Kamps hatte vorher zweimal mächtig Dusel – schließen Häßler, Klinsmann, Kleppinger und Torschütze Christian Schreier eine tolle Kombination zum 3:0 ab. Danach bricht unglaublicher Jubel aus, auf dem Feld und zu Hause. Bronze für Deutschland. Ein sensationeller Erfolg für den deutschen Fußball. Erspielt in einem Land, in dem die Kicker ihre noch bei der Abreise mitstartenden Bedenken schnell über Bord geworfen und sich richtig heimisch gefühlt haben.

      Nach dem Spiel fällt der Druck ab – und die Dollarscheine sitzen locker.


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