Frank Mill. Frank Lehmkuhl
Meter hoch. Nach rund zehn Stunden landen unsere Fußballhelden in spe im Lufthansa-Flugzeug in Seoul. Anschließend holpern sie etwa vier Stunden lang in einem Klapperbus weiter in eben dieses Busan. Ziel dort: das Best-Western-Hotel. Es gibt Zweibettzimmer für die Fußballer. Erste Zeit zum Beschnuppern. In Busan wird die deutsche Olympia-Auswahlmannschaft ihre Vorrundenspiele absolvieren.
Nur zwei Tage Vorbereitung haben die jungen Männer bis zum ersten Spiel, aber das ist wahrscheinlich ganz gut so, weil kaum Zeit besteht, über den Jetlag, mögliche Starallüren oder sonstige Dinge nachzudenken, die den Ballfluss bremsen könnten. Schon kurz nach der Ankunft bittet Löhr zum ersten Training auf ein erfreulich gepflegtes Stück Grün in der Nähe des Hotels. Und gleich zeigt sich, welches besondere Problem die Tage von Busan prägen wird: Der Schweiß rinnt in diesem Klima schon beim Verlassen der Kabine aus allen Poren. Konditionsarbeit ist kaum möglich, stattdessen setzt Löhr auf viel Ballarbeit, um die Abstimmung zu verbessern und die Konzentration hochzufahren, und schnell eingeleitete Erfrischungsphasen nach den kurzen Einheiten.
Ein bisschen laufen, dehnen, Muskeln lockern, dann ran an den Ball, so sieht das Programm von Löhr aus – und es wird sich in diesen Wochen nicht groß verändern. Fußball ist ein einfaches Spiel in jener Zeit, geprägt von klaren Positionen der Spieler, unmissverständlichen Kommandos, Manndeckung und simplen Taktikanweisungen. Niemand von unseren Jungs kann sich vorstellen, dass ihr Sport in nicht allzu ferner Zukunft von wissenschaftlich sozialisiertem Trainerpersonal dominiert werden würde, von Coaches, die mit Maßanzügen und Laptops an der Linie stehen, mit GPS-Chips an den Fußballerkörpern jede Bewegung vermessen, anhand der Pupillengröße des Kickers dessen Handlungsschnelligkeit erkennen und die von Zweit-, Dritt- und Vierttrainern für jeden Muskel und jede Synapse im Kopf der Profis begleitet werden. Polyvalente Spieler? Abknickende Sechser? Falsche Neuner? Eine Doppelsechs, die zur Acht wird? Brutales Gegenpressing mit Laufleistungen von bis zu 13 Kilometern? Abklemmen eines Gegenspielers? Hannes Löhr kennt das alles nicht. Er sagt seinen Schützlingen, wo sie hinlaufen sollen und dass der linke Verteidiger des Gegners einen schwachen rechten Fuß hat, der keine Flanken verhindert. Oder dass die Bälle hinten in Bedrängnis auch mal auf die Tribüne gedroschen werden müssen. Das alles muss reichen, um einem Kontrahenten zu zeigen, dass gegen die deutsche Mannschaft nichts zu ernten ist.
Aber erst einmal heißt es: eintauchen in die neue Kultur, behutsam und wohldosiert. Kaum sind die Bälle im Schrank verstaut, machen sich die Kicker auf zu einem der traditionellen Märkte der Stadt und gehen gemeinsam essen. Was sie vorfinden, offenbart keine Spur von einer kulinarischen Hölle, alle Befürchtungen im Vorfeld waren unnötig. Es gibt Reispfannen allerorten, gefüllt mit frittiertem Huhn und frischem Fisch. Die in die Zukunft strebende Stadt verfügt über Shoppingmalls, Leuchtfassaden ohne Ende, Steakrestaurants nach amerikanischem Vorbild. In Berlin oder Hamburg sieht es an vielen Ecken auch nicht anders aus.
Am nächsten Tag starten die Segler im Hafen von Busan ihre Wettbewerbe. Eine gute Gelegenheit, erstmals Olympialuft zu atmen. Besonders Ralf Sievers zieht es ans Wasser, er stammt aus Lüneburg, hat viele Bootsfreunde im Bekanntenkreis. Sievers nimmt einige Jungs mit, auch Frank Mill. Die Stimmung ist gut, man fühlt sich wohl. Die Akklimatisierung hat begonnen.
Frank ist überglücklich, zum zweiten Mal in seinem Leben bei den Olympischen Spielen zu sein. Schon in Los Angeles war er mit von der Partie und hat jede Sekunde genossen. Damals pilgerten selbst bei Spielen mit zweit- oder drittklassigen Nationen bis zu 100.000 Menschen in die Arenen – ein unvergessliches Erlebnis. Man kam im olympischen Dorf mit Sportlern aller Couleur in Kontakt, was mitunter auch zu prekären Momenten führte. So stand Frank beispielsweise daneben, als Dieter Schatzschneider, deutscher Topstürmer mit der Statur eines Bären, einem in der Mensa vorbeilaufenden Boxer, der gerade eine Medaille abgeräumt hatte, eine abfällige Bemerkung über dessen leicht derangierte Nase zurief (»Der ist wohl vor eine Bahnschwelle gelaufen«), worauf der muskulöse Athlet auf den Fußballer zusteuerte, um die Verbalattacke mit einem satten Hieb auf dessen Riechkolben zu kontern. Nur Franks mutigem Einschreiten hatte es Schatzschneider zu verdanken, dass seine Nase von größeren medizinischen Korrektureingriffen nach den Olympischen Spielen verschont blieb.
Mill hat also jede Menge Erfahrungen mit dem Flair, das die Spiele so speziell macht. Er geht vorneweg, will die Atmosphäre erneut aufsaugen. Er gibt die Richtung vor, wenn Teamkollege Wolfram Wuttke hinter ihm steht und ihm die Frage ins Ohr ruft: »Chef, was machen wir heute?«
Chef. Die Bezeichnung passt. Frank ist zur natürlichen Autorität gereift in der Bundesliga. Er hat einige hundert Ligaspiele auf dem Buckel, hat in Essen aufstrebende Stürmer weggebissen, in Mönchengladbach und nun in Dortmund.
In der öffentlichen Wahrnehmung gilt Frank Mill als einer von Deutschlands absoluten Topangreifern. Als einer, der nie aufgibt und den Fans immer das Gefühl vermittelt, dass sie ihr Geld für die Eintrittskarten nicht umsonst ausgegeben haben. Als einer, der nicht viele Worte macht, aber wenn, dann deftige. Er selbst ist sich der Vorzüge bewusst, welche die Anhänger an ihm schätzen, deshalb kann er auch nicht verstehen, warum ihm das fußballerische Führungspersonal bisweilen nicht die gewünschte Wertschätzung zuteilwerden lässt. Bei der EM setzte Teamchef Franz Beckenbauer im Sturm in der Regel auf Rudi Völler, obwohl Frank in seiner Selbstwahrnehmung in diesen Monaten des Sommers 1988 nicht schlechter in Form ist als »Tante Käthe«. »Rudi und vorher auch Klaus Allofs und Karl-Heinz Rummenigge, die mir in der Phase vor Völler und Klinsmann in der Nationalmannschaft vorgezogen wurden, hatten bei den Bundestrainern meist deutlich bessere Karten als ich«, sagt Frank im Rückblick. Vielleicht lag das daran, dass bei seinen Nominierungen auch immer die Furcht mitschwang, der offenherzige Mill könne als Stinkstiefel die Stimmung in der Mannschaft ruinieren?
In jedem Fall hat all dies seine Motivation gestärkt, es in Seoul nun allen so richtig zu zeigen. Und in jedem Fall prädestinieren ihn seine Glaubwürdigkeit, seine Erfahrung und seine Torjägerqualitäten dazu, das Team in Südkorea zu führen. Vor dem Auftaktspiel der Deutschen nimmt Coach Löhr Mill beiseite und fragt ihn, ob er die Truppe als Kapitän durchs Turnier geleiten will. Frank will. Er kennt auch diese Position schon, hat sich mit den Jahren vor allem bei Borussia Dortmund zum Wortführer entwickelt. Dort fungierte er bis vor kurzem als Spielführer und behauptete die Binde auch gegen zahlreiche Widerstände aus dem Spielerkollegenkreis und der Klubführung. Aber dazu später mehr.
Frank ist kein besonders extrovertierter Kapitän, eher ein Freund der sparsamen und wirkungsvollen Gesten. Vor Spielen versammelt er seine Mannschaft kurz um sich, brüllt: »Wir hauen die jetzt weg, Männer!«, danach geht es raus aufs Feld. Kein Abklatschen, keine Kreisbildung, kein gemeinsames Einschwören Schulter an Schulter. Auch das unterscheidet das damalige Profigeschäft vom heutigen, wo das sogenannte Teambuilding mit Kletter- oder Raftingtouren vor einer Saison und auch während der Spielzeit zu den unabdingbaren Prämissen für erfolgreiches Punktesammeln zählt.
Löhr ist in Südkorea Franks Äquivalent auf der Trainerbank: ruhig, herzlich, analytisch, auch er ein Anhänger reduzierter und dosierter Rhetorik. Der Coach hatte als Spieler mit dem 1. FC Köln große Zeiten, wurde Meister und Pokalsieger. Eine lebende Legende der Geißböcke. Nun transportiert er seinen rheinischen Mix aus Leidenschaft und Lebenslust nach Asien. Auf dem Rasen gibt es knallharte Ansagen. Haben die Jungs Freizeit, wirft er die lange Leine aus. Dann darf die Truppe abends ohne Kontrollanrufe vom Übungsleiterteam ein oder zwei Bierchen trinken, gerne auch mal etwas länger.
Wer die Anweisungen des Kölschen Coaches verstehen will, braucht keinen IQ im Nobelpreisträgerbereich. Taktikbesprechungen in der Olympia-Qualifikation hatten so ausgesehen, dass Löhr seine Jungs nach den Spielen immer in einen separaten Raum führte, um dort mit Kreidestrichen an einer Tafel bestimmte Situationen nachzuzeichnen oder simple Passstafetten für die nächste Begegnung zu entwerfen. Klare Botschaften. So macht er es auch in Südkorea.
Das erste Spiel, zwei Tage nach der Anreise. Deutschland gegen China, 17. September 1988, im Glutofen von Busan, 27 Grad, 59 Prozent Luftfeuchtigkeit. Franz Beckenbauer, der Teamchef der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, ist extra angereist. Als er vor dem Spiel zur Kabine eilt, scharen sich die einheimischen Fans um ihn. Die südkoreanischen Ordner werfen sich beim Kopfnicken vor ihm fast auf den Boden. Deutschlands Fußballikone wird empfangen wie ein Kaiser, vielleicht haben die Gastgeber den Spitznamen