Frank Mill. Frank Lehmkuhl

Frank Mill - Frank Lehmkuhl


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der restriktiven Olympia-Statuten für Fußballteams bis zum Jahr 1984 immer nur Amateurmannschaften aufgestellt werden durften. Erst mit den Sommerspielen in den Vereinigten Staaten kam die Erlaubnis hinzu, Profis zu nominieren. Voraussetzung: Diese Spieler waren zuvor noch nie bei einer Weltmeisterschaft an den Start gegangen. Für das Projekt Seoul macht Trainer Hannes Löhr vom neuen Recht regen Gebrauch. Er holt durchweg hungrige Fußballer in seinen Kader. Spieler, die noch nicht viel gewonnen haben.

      Dank des aufgepeppten Personals verstecken sich durchaus Ambitionen auf diesem Flug mit im Gepäck – neben Sonnenmilch, viel Sonnenmilch, denn das ein oder andere Kadermitglied rechnet damit, dass es vor und nach den Spielen genug Zeit haben wird, sich einen goldbraunen Teint zuzulegen. Warum auch sollte man sich vor dem Hintergrund der eher dürftigen deutschen Olympia-Historie einen mit Druck und Erwartungen gefüllten Rucksack aufsetzen?

      Michael Schulz ist so ein Kadermitglied. Einen Tag vor dem Abflug hatte ihn der Chefcoach angerufen. Schulz, fast zwei Meter lang, das schwer zu bändigende Langhaar zu einem Pferdeschwanz gebunden, die Sonnenbrille hochgesteckt ins blonde Dickicht, war eigentlich längst im Urlaubsmodus. »Langer, kannste morgen mit?«, fragte Löhr durch den Hörer. »Klar, Trainer«, antwortete der Lange.

      Jetzt sitzt Schulz mit im Lufthansa-Vogel, ausreichend Creme fürs Freizeitprogramm in den Taschen, ein breites Grinsen zwischen den Wangen. Der Schlaks mit den langen Gräten agiert beim 1. FC Kaiserslautern als linker Verteidiger und hat eine ganz gute Bundesligasaison hinter sich. Allerdings ist er mit seinen bereits 27 Jahren erst seit gut einem Jahr Fußballprofi. Vor seiner Zeit in der Pfalz hatte Schulz in Oldenburg gekickt und nebenher als Ausbilder bei der Polizei gearbeitet, da er gar nicht mehr damit gerechnet hatte, dass das mit einer Vollbeschäftigung in seinem geliebten Ballsport noch mal was wird. Dann kam der Anruf vom 1. FC Kaiserlautern. Es war der Auftakt zu einer ganzen Reihe schöner Überraschungen, die wahrscheinlich auch etwas mit seinem unerschütterlichen Optimismus zu tun haben.

      Dieser zeigt sich immer wieder bei ihm, in nahezu jeder Lebenslage. Als der Olympia-Kader bekanntgegeben wurde, verfolgte der Lange die Zeremonie gemeinsam mit Freunden vor der Mattscheibe. Er hatte eine Party zu seinem Geburtstag organisiert. »Jungs, es könnte sein, dass ich doch noch mitfahre, passt mal auf«, sagte Schulz zu den Vertrauten, als sein Name nicht über den Bildschirm flimmerte. Der große Mann mit der großen Lockerheit sollte recht behalten. Er ist nun doch dabei.

      Nicht weit von Michael Schulz entfernt sitzt Ralf Sievers, auch er 27, defensiver Mittelfeldspieler von Eintracht Frankfurt. Bei der Eintracht hat das 1,75 Meter kleine Kraftpaket eine gute Saison hingelegt, die Hessen wurden mit Antreiber Sievers DFB-Pokalsieger. Wirklich damit gerechnet, Teil des Olympia-Teams zu werden, hatte indes auch der Frankfurter nicht. Bei den Qualifikationsspielen fürs Turnier war er zwar immer mit von der Partie gewesen, aber immer nur als unverzichtbarer Warmhalter der Ersatzbank. Auch ihn rief Löhr einen Tag vor dem Abflug an, weil der Bremer Uli Borowka ausgefallen war. »Ralf, wie sieht es aus bei dir?«, fragte Löhr durch den Hörer. Es sah gut aus bei Ralf. Auch er packte rasch und begab sich zum Flugzeug.

      Eine kunterbunt zusammengewürfelte Combo macht sich da somit über den Wolken auf den Weg ins Asiatische. Dass diese Gemeinschaft auch sportlich sonnigere Aussichten hat als ihre meist in fußballerische Peinlichkeiten verstrickten Vorgänger, das liegt vor allem an einigen der Öffentlichkeit besser bekannten Gesichtern, die nun ebenfalls über die Flugzeugsessellehnen blicken.

      Da hockt zum Beispiel Jürgen Klinsmann, blonder Nachwuchsstar vom VfB Stuttgart, im vergangenen Jahr aufgefallen durch ein Weltklasse-Fallrückziehertor gegen den FC Bayern München, in der gerade abgelaufenen Saison mit 19 Buden Torschützenkönig der Bundesliga geworden.

      Thomas Häßler fliegt mit, der kleine Dribbelkönig vom 1. FC Köln, ein Meister der Haken, der Standardsituationen und der Spielstrategie.

      Karl-Heinz Riedle hat es sich bequem gemacht in einem der Flugzeugsitze, das Kopfballwunder vom SV Werder Bremen, Trefferbilanz in der Saison: 18 Tore.

      Wolfram Wuttke blickt über den Wolken durchs Fenster, die Zaubermaus mit dem grandiosen rechten Fuß, die jeden Außenspannstoß in einen Gänsehautmoment verwandelt.

      Und dann sitzt da ja auch noch Frank Mill, seit zwei Jahren zuverlässiger Topstürmer von Borussia Dortmund. Vor etwa zehn Jahren war sein Stern am Fußballhimmel über dem im Industriedunst liegenden Essen aufgegangen, wo er bei Rot-Weiss Essen zusammen mit Horst Hrubesch und Willi Lippens Angst und Schrecken bei den Gegnern verbreitet hatte. Seitdem hat er in jeder Bundesligasaison bestens gewusst, wo das gegnerische Tor steht. Mit 30 Jahren befindet er sich jetzt im Zenit seines Könnens. Das »Schlitzohr«, wie Frank wegen seiner frappierenden Treffsicherheit genannt wird, hat ausreichend Erfahrung gesammelt, um auch fernab von zu Hause sein Näschen in Strafraumsituationen beweisen zu können. Vor dem Abflug hat er noch schnell einmal mit seiner Dortmunder Borussia trainiert, hat seine Ehefrau Beate und seine kleinen Kinder Kevin und Vanessa zu Hause in den Arm genommen und sich im Zug auf den Weg nach Frankfurt gemacht. Weiter, immer weiter. Es ist ein Sommer, in dem er sowieso selten zu Hause weilt und ständig als Dienstreisender mit dem ausdrücklichen Auftrag, Tornetze auszubeulen, andere Stadien ansteuert.

      Klinsmann, Mill und Wuttke waren einige Wochen zuvor bei der EM in Deutschland am Start gewesen, als die Nationalelf im Halbfinale die bittere 1:2-Niederlage gegen die Niederlande kassiert hatte. Mill hatte gegen den Erzrivalen 79 Minuten gespielt, glücklos, sich oft an der vielbeinigen Oranje-Abwehr die Zähne ausgebissen. Alle drei sind heiß nach dieser Schmach, und sie sind froh, schon wenige Wochen nach dem Heimdesaster eine weitere große Chance zu bekommen. Riedle, Häßler und der Mittelfeldspieler Holger Fach hatten ein paar Wochen vor den Olympischen Spielen in der A-Nationalmannschaft debütiert. Das Sextett weckt zarte Hoffnungen auf ein passables Turnier – und es lässt fast vergessen, dass eine ganze Ansammlung von Stars wegen Verletzungen passen muss, darunter Torwart Andreas Köpke, das Mittelfeldass Michael Zorc sowie Stürmer Dieter Eckstein.

      Südkorea ist ein spannendes Land, seit Ende der vierziger Jahre getrennt auf dem 38. Breitengrad von seinem kommunistischen Bruder Nordkorea. Das Austragungsland des größten Sportereignisses der Welt befindet sich geradewegs auf dem Weg zu marktwirtschaftlichen Reformen, auf dem Weg auch zu einer langsamen Demokratisierung. Zwar wird der Staat seit Anfang der sechziger Jahre von autoritären Präsidenten regiert. Doch seit einem Machtwechsel von Park Chung-hee zu Chun Doo-hwan hat sich größerer innenpolitischer Druck entfacht. Eine Gegenbewegung unter den beiden Oppositionsführern Kim Young-sam und Kim Dae-jung führte dazu, dass im Juni 1987, also gut ein Jahr vor Beginn der Olympischen Spiele, freie Wahlen abgehalten werden konnten. Der Kandidat der herrschenden Regimekoalition, Roh Tae-woo, gewann, aber da es ihm gelang, das Militär zu zähmen und in die politische Arbeit einzubinden, konnte der Boden bereitet werden für die erste Machtübernahme eines Zivilisten einige Jahre später. Reformen im Militär und im Geheimdienst, in der Justiz und in der Verwaltung sowie in der Parteiengesetzgebung und bei der Wahlordnung stehen an.

      Parallel dazu entwickelt sich der Staat zum industriellen Schwellenland, zu einem der sogenannten Tigerstaaten, die als Vorbilder für Entwicklungsländer herhalten. Die Regierung lenkt die heimische Wirtschaft mit strikten Vorgaben, schützt den Binnenmarkt mit Zöllen. Auf dieser Protektionsbasis mausern sich viele Unternehmen in der Zusammenarbeit mit China, den USA oder Japan zu exportorientierten großen Playern, unter den Einheimischen »Jaebeols« genannt. Elektronik, Halbleiter, Autos, Schiffbau – Firmen des Landes sind auf vielen Gebieten erfolgreich. Die Wirtschaft verzeichnet ein jährliches Wachstum von fast neun Prozent. Das schafft Arbeitsplätze, die Nachfrage nach Industriearbeitern steigt rapide. Zudem gelingt es den Machthabern, die sozialen Gräben nicht zu tief und Einkommensunterschiede nicht zu groß werden zu lassen. Als die Welt 1988 am Vorabend der Olympischen Spiele mit Kameras und Fernsehsatelliten auf Südkorea blickt, verwandelt sich der Staat, der einst zu den ärmsten Agrarländern zählte, gerade zu einer der zwölf größten Industrienationen der Welt. Die wirtschaftliche Transformation nennen viele Bewohner Südkoreas »Das Wunder vom Hangang« in Anspielung auf den gleichnamigen Fluss, der durch die Hauptstadt Seoul fließt.

      Der zweitgrößte Ballungsraum dieses prosperierenden Staatsgebildes mit seinen mehr als 40 Millionen Einwohnern ist Busan. 3,5 Millionen Menschen leben dort. Die Stadt liegt an der


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