Fußball, deine Fans. Martin Thein
wenn ich Samstag für Samstag auf der anderen Seite sitze, in welchem Stadion auch immer. Aus der sicheren Distanz zwischen Reporterplatz und Stehtribüne lässt sich eine klammheimliche Bewunderung für die Fankultur nicht leugnen, im Gegenteil. Ich kann mich begeistern für die fantasievollen und martialischen Choreografien und versuche jedes Mal, so viel wie möglich davon in meinen Berichten zu zeigen. Ich bin angetan vom „Dauer-Support“ in Frankfurt, der in der Saison 2012/13 beim Spiel gegen Borussia Dortmund seine Krönung erfahren hat. Da lag die Eintracht zur Pause hoffnungslos unterlegen mit 0:2 zurück und wurde, als sie nach der Halbzeit zurück auf den Platz kam, doch mit außergewöhnlich guter Stimmung empfangen.
Die Folge war eines dieser extrem intensiven „Gänsehautspiele“, das nach dramatischem Verlauf 3:3 endete und selbst neutrale Kollegen zu einer Wortwahl der Schwärmerei verführte.
Das sind Tage, an denen du nach Hause fährst und dich freust, deinem Beruf nicht in englischen Stadien nachzugehen. In diesem Mutterland des Fußballs, wo die Stimmung nur noch in den Pubs an die legendäre Fankultur erinnert, weil die Eintrittspreise parallel zur totalen Kommerzialisierung der Premier League zu teuer geworden sind. Die Folgen sind unüberhörbar. Als Dortmund 2011 und zuletzt auch Schalke in der Champions League bei Arsenal London spielten, hatte ich Gelegenheit, mit einigen mitgereisten Fans zu sprechen. Die sonst so gespaltenen Lager waren sich in einer Sache absolut einig: Die Unterstützung der Engländer für ihre Mannschaft war peinlich – ein Operettenpublikum, das sich in seiner Sattheit und Selbstzufriedenheit nur dann zu leisen Gesängen durchrang, wenn Dortmunder oder Schalker zu laut zu werden drohten.
Am Abend dieses Frankfurter Fußballfestes wurden mir die Unterschiede zwischen der deutschen Bundesliga und der englischen Premier League mehr als deutlich. Ob Dortmund, Schalke, Frankfurt, Köln, Dresden, Freiburg oder Aue: Fast überall ist mehr los als in englischen Stadien. Detailreich vorbereitete Choreografien, variables Liedgut und nicht selten ebenso humorvolle wie hintergründig formulierte politische Postulate stehen für eine deutsche Fankultur, die Woche für Woche neue Blüten treibt. Es wäre der perfekte Rahmen für den schönsten Sport der Welt, gäbe es nicht auch die andere Seite des deutschen Fanwesens. Dieses aggressive, gewalttätige Potenzial, das es regelmäßig schafft, eine ganze Kultur in Verruf zu bringen. Denn wenn diese Minderheit zuschlägt, gerät ein reflexartiger Mechanismus in Bewegung, an dessen Ende die große Verallgemeinerung steht. Ultras, Pyros, Neonazis, Hooligans, Gewalt, die hässliche Fratze des Fußballs: Eine durch eine stark vereinfachende Einschätzung der Medien desinformierte Öffentlichkeit übernimmt bereitwillig Vorurteile und Vorverurteilungen, die eine ganze Szene an die Wand stellt. Nach den Ausschreitungen beim Pokalspiel zwischen Borussia Dortmund und Dynamo Dresden sowie dem Platzsturm nach dem Relegationsspiel zwischen Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC schien sogar der Fortbestand des Abendlandes auf dem Spiel zu stehen. Es dauerte nicht lange, da gerieten Statistiken in Umlauf, nach denen es noch nie so viel Gewalt in den Stadien gegeben hat wie 2012. Das Szenario wiederholt sich Jahr für Jahr.
Die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) liefert Zahlen, die teilweise unreflektiert von den Medien übernommen werden und in der Öffentlichkeit zu einem Aufschrei führen. Es dauert nicht lange, da lassen wahlkampforientierte Innenminister populistische Forderungen nach härterer Gangart verlautbaren.
Für 2012 hat die ZIS 1.142 Verletzte rund um die Spiele der 1. Bundesliga errechnet – eine Zahl, die erschreckend hoch scheint, in Relation zu anderen großen Ereignissen aber auch anders interpretierbar ist. Die Zahl der Verletzten auf dem Münchner Oktoberfest betrug im selben Jahr 351 bei insgesamt 6,4 Millionen Besuchern.
Zu den Fußballspielen aber kamen mehr als 18 Millionen Besucher! Ähnlich verhält es sich mit den sogenannten Ingewahrsamnahmen: 1.137 dieser Maßnahmen gab es nach diversen Vorkommnissen in oder rund um die Stadien bei insgesamt 757 Spielen, auf dem Oktoberfest waren es 793 an 16 Tagen. Wird Bayern deshalb sein größtes Volksfest verbieten oder müssen die Wirte von jetzt an für die Polizeieinsätze bezahlen?
Ein Bundesligaspiel wird mit durchschnittlich 45.000 Zuschauern berechnet, die Verletztenquote liegt bei zwei pro Begegnung – diese Fakten wünschte ich mir manchmal in den Berichten meiner Kollegen! Aber ein Foto mit Bengalo-Fans auf den Titelseiten und der Frage, ob die Gewalt in den Stadien noch zu stoppen ist, sorgt für mehr Aufsehen als eine Relativierung tendenziöser Statistiken. Kein exklusiver Vorwurf an die Print-Kollegen, auch die Freunde in meiner Redaktion erliegen immer wieder dem populären Mainstream und vermengen scheinbar seriöse Statistiken mit „schrecklichen“ Bengalo-Bildern – viele journalistische Missverständnisse resultieren aus Unkenntnis der Ursachen und Hintergründe.
Meine ersten Kontakte zur Borussenfront
Mein erster beruflicher Kontakt zu einer Fanszene kam 1983 zustande. Ich hatte gerade als freier Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk angefangen, als die Nachrichten über eine bestimmte Gruppe zunahmen. Die Borussenfront beherrschte die Szene in Dortmund und stand stellvertretend für ein Anwachsen der Neonazis im Fußball. Die Fotos von den Jungs auf der alten Südtribüne machten Eindruck, denn die Mittelbuchstaben ihres Namenszugs auf der Brust waren durch SS-Runen ersetzt worden, und um ihren Gründer und Anführer Siegfried Borchert begannen sich Legenden zu ranken. Ich sah einen interessanten Job vor mir und hatte nicht wenig Hoffnung, das immer größer werdende Thema der gewaltbereiten Fans wegen meiner guten Kontakte nach Dortmund griffig bearbeiten zu können. Ich fuhr also nach Dortmund, im Gepäck den Auftrag, 45 möglichst spannende Minuten zu liefern. Die ersten vier Tage meiner Recherchen entwickelten sich ebenso turbulent wie fröhlich. Am ersten Abend Bier und Korn im „Grobschmied“, der damaligen Stammkneipe der Borussenfront. Am zweiten Abend Bier und Korn „Bei Erbse“ – ich trank mit den Guten und Bösen der Dortmunder Fanszene. Tagsüber Interviews mit den Opfern rechter Gewalt rund um den Borsigplatz, abends wieder Bier und Korn.
Bier, Korn und meine flammenden Worte zeigten Wirkung. Die Jungs öffneten sich allmählich. Ihren Anführer, den die Kameraden voller Ehrfurcht nur „SS-Siggi“ nannten, bekam ich allerdings nie zu Gesicht. Die einen glaubten, er habe nach Argentinien verschwinden müssen, andere hingegen versicherten mir, er säße im Knast – schwere Körperverletzung, zum wiederholten Mal.
Im Verlauf meines Interviews im „Grobschmied“ konnte ich sehr bald feststellen, dass ich es mit eher unpolitischen Jungs zu tun hatte. Der Wirt, dessen Namen ich vergessen habe, führte die zwölf bis 14 Jungs, die sich rund um den Tresen gegenüber unserer Kamera versammelt hatten. Sie erzählten gerade so viel, dass sie juristisch nicht belangbar waren. Sie berichteten voller Stolz über ihre „Beulereien“, von ihrem Hass auf Ausländer, von „kleineren Straßenbahnbränden“.
Die, die noch Arbeit hatten, erzählten von ihrer Angst vor der Arbeitslosigkeit. Die, die sozial schon abgerutscht waren, konnten mir glaubhaft schildern, wie es sich anfühlt, wenn man seine Freundin nicht mal auf ein Bier einladen kann und sie deshalb irgendwann mit einem anderen abhaut. Ich habe in dieser Zeit viele Sozialstudien gelesen, die sich mit der großen gesellschaftlichen Relevanz des Fußballs befassten. Ich wollte die Zusammenhänge dieses Massensports wissenschaftlich verstehen lernen. Die insgesamt zwölf Tage in dieser Subkultur aber haben mir mehr gegeben als alle Theorie. Ich erhielt Einblicke in eine Welt, die für mich bis dahin ein Sozialklischee gewesen war und die ich von Berufs wegen bis dahin nur an ihrer Peripherie wahrgenommen hatte. Die Borussenfront auf der einen Seite, zwei Straßen weiter „Erbse“ Erdmann, der mit dieser Gruppe in einem Streit lag, der irgendwann in einem nächtlichen Überfall endete. Dabei haben Mitglieder der Borussenfront Erdmanns Vater, der als Bluter bekannt war, schwer misshandelt. Ob Erdmanns Vater tatsächlich an den Folgen dieses Überfalls gestorben war, konnte die Staatsanwaltschaft nie zweifelsfrei klären. Die Täter bekamen eine Gefängnisstrafe von 18 Monaten.
Bevor ich damals nach Hamburg zurück musste, half mir ein kleiner Zufall, doch noch eine konkrete Verbindung der Borussenfont zur rechten Szene nachzuweisen.
Im Umlauf des Stadions traf ich auf eine Gruppe in damals szenetypischer Kleidung. Grüne und schwarze Bomberjacken mit kariertem Futter, umgeschlagene Jeans, Springerstiefel. Im „Grobschmied“ waren mir diese Jungs nie aufgefallen, und jetzt – weit weg vom strengen Wirt – plauderten die Jungs fast ohne Aufforderung. Nach zwei kleinen Nachfragen gaben sie zu, als Ordner der NPD